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Kein Wort
An diesem Abhang stand er nicht zum ersten Mal. Die Sonne verschwand langsam hinter den Baumkronen des Waldes, in dem er seine Jugend verbracht hatte, und tauchte ihn in einen blutigen Schatten. Mit den Händen in den Hosentaschen betrachtete Simon den Sonnenuntergang in Gedanken versunken. Erinnerungen überkamen ihn und spielten sich vor seinem inneren Auge ab wie ein Kurzfilm.
Es regnete und der Geruch von frisch gemähtem Gras stieg ihm in die Nase. Regentropfen flossen über seine Wangen und die Zeit um ihn herum schien stehen geblieben zu sein. Es wurde still. Dann der Schlag auf den Hinterkopf. Schmerz durchzuckte ihn. Es wurde schwarz, den Aufprall auf den Boden bekam er nur noch vage mit, dann eine Weile gar nichts.
Simon schloss die Augen und atmete tief ein. Sein Herz schlug kräftig und aufgeregt. Schweißperlen zierten seine Stirn im Halbschatten. Auch nach Jahren des Verdrängens blieb ihm diese bittere Erinnerung in einem unerreichbaren Eck seiner selbst. Er öffnete langsam die Augen.
Er lag auf dem feuchten Boden und konnte sich nicht bewegen. Seine Hände waren mit einem Seil gefesselt und auch seine Füße waren zusammengebunden. Es regnete nicht mehr, aber es war noch immer totenstill. Simon versuchte sich mit aller Kraft zu befreien doch das Seil war zu fest um seine Hand- und Fußgelenke geschnürt. Er versuchte um Hilfe zu schreien. Alles was er herausbrachte, war ein trockenes Krächzen.
Er griff mit der linken Hand um sein rechtes Handgelenk. Die Furchen die das Seil in seiner Haut hinterlassen hatte, konnte er noch immer fühlen, auch wenn die Wunden schon längst verheilt waren. Dieser Wald war für ihn immer ein Zufluchtsort gewesen. Das Rascheln des Windes, der sich durch die Blattmosaike stahl, klang für ihn immer wie der Ruf der Freiheit in Zeiten der Gefangenschaft. Simon genoss jede Sekunde die er hier verbringen konnte, statt in diesem dämlichen Heim.
Nachdem der Alkohol seinen cholerischen und gewalttätigen Vater endlich dahinraffte, hoffte Simon auf eine bessere Zukunft gemeinsam mit seiner Mutter. Sie zogen in eine kleine Stadt in der Nähe zur tschechischen Grenze, weg aus dem Betondschungel, der ihn mit schmerzvollen Erinnerungen quälte. Er gewöhnte sich sehr schnell an die neue Umgebung und auch in der Schule fand er schnell Freunde. In der Großstadt war das nicht so. Vielleicht war er zu unsicher, nicht cool genug oder einfach nicht so dumm wie die anderen. Hier jedenfalls schien sich alles zum Guten zu wenden und das nicht nur für Simon. Auch seine Mutter fand schnell einen Job. Nach ein paar Tagen schon verbrachte sie mit ihren neuen Arbeitskolleginnen einen Frauenabend. Für Simon und seine Mutter wurde das Leben wieder besser. Doch bist du einmal im Strudel der Missgunst und des Bösen gefangen, lässt der Teufel dich nur ungern aus seinen Fängen entfliehen. Simons´ Mutter wurde krank. Die Diagnose, Knochenkrebs, kam überraschend, genauso wie ihr Tod.
Für Simon stürzte alles ein und zerbarst in tausend Scherben, die niemals wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden könnten. Er kam in die Obhut des Staates, der ihn in einem Waisenhaus, etwa hundert Kilometer ins Landesinnere, unterbrachte. St. Paulus hieß sein neues Zuhause, welches niemals ein Zuhause für ihn hätte werden können. Wieder fremde Menschen. Wieder ein Leben das er nicht führen wollte. Und wieder eine Umgebung, in die Simon nicht hineinpasste. Dies ließen ihn die anderen Kinder spüren, vor allem die älteren Jahrgänge genossen es, ihn anzuspucken, zu hänseln und zu treten. Erneut bestimmte Gewalt und Ablehnung seinen Alltag und die Welt um ihn herum zog sich zusammen und drohte zu implodieren.
An der Rückseite des Heims führte ein Schotterweg in einen Wald. Als Simon das erste Mal hinein ging, er die Ruhe und Friedseligkeit erfuhr, die der Hain ihm bot, wollte er für immer dortbleiben. Der goldene Hang, wie Simon ihn nannte, weil morgens beim Sonnenaufgang die ersten Sonnenstrahlen das Gras golden färbten, fühlte sich mehr als sein Zuhause an, als es St. Paulus und seine Insassen, denn was anderes waren die Waisen in diesem verfluchten Heim nicht, jemals gekonnt hätten.
Unterdessen waren zehn Jahre vergangen und er konnte endlich wieder das Gefühl genießen, an diesem Hang zu stehen. Jetzt mit 24 Jahren, peinigte ihn das Leben immer noch, doch stand er nun erhobenen Hauptes dem Teufel gegenüber und eines war klar, kampflos würde er nicht noch einmal zu Boden gehen. Denn nachdem Simon St. Paulus mit Erreichen seiner Volljährigkeit verlassen konnte, versuchte er auf eigenen Beinen zu stehen und das gelang ihm recht gut, doch hörte die Zeit, die er in diesem „Kinderknast“ verbrachte, nicht auf, in seinem Kopf zu spuken. Besonders nicht dieser eine Tag in diesem Wald.
Er blickte in den Himmel und beobachtet, wie der Wind die Wolken an der heißen Sonne vorbei trieb. Als Simon den Hang entlang blickte, durchzuckte ihn ein Blitz und er sank auf die Knie.
Verängstigt blickte er sich um, doch alles lag in nebligen Schleiern. Plötzlich hörte er ein Kichern. Es hallte durch die mächtigen Stämme der Bäume zu ihm und jagte ihm eine heiden Angst ein. Er rollte sich auf dem matschigen Boden herum und versuchte auszumachen, woher dieses verdammte Kichern kam. Nichts. Dann rief jemand seinen Namen. In einer hohen Stimme, sie klang spottend und höhnisch. Jetzt sind es mehrere Stimmen, zwei oder drei. Simon wurde immer unruhiger, er versuchte sich noch einmal zu befreien, doch wieder war es vergebens. Er begann zu weinen. Vor Angst oder aus Hilflosigkeit oder wegen beidem, das wusste er nicht so genau. Nun konnte er Schritte wahrnehmen, die unaufhaltsam näher kamen. Die Stimmen riefen weiter seinen Namen und lachten dann. Es klang wie das Jaulen von hungrigen Hyänen. Hinter sich konnte er ein Knacken vernehmen. Gerade als er sich in Richtung des Knackens drehen wollte, packte ihn etwas von hinten an den Schultern, dann legte sich ein Arm um seinen Hals und schnürte ihm die Luft ab. Simon zappelte wie ein Fisch, der auf dem Trockenen liegt, und wollte verzweifelt nach Luft schnappen, doch war der Griff um seine Kehle zu fest. Gerade als er dachte zu sterben, verschwand der Arm um seinen Hals und Simon sog so viel Luft in seine Lunge, wie er nur konnte. Während er hustete und sich auf dem kalten Waldboden umher wälzte, konnte er ein Lachen vernehmen. Ein bestimmtes und grausames Lachen. Er schnappte weiter nach Luft und versuchte wieder zu Sinnen zu kommen, als ihn eine Hand an den Haaren packte und durch die matschigen Pfützen bis hin zu einem Baumstamm schleifte. Jemand setzte ihn rücklings an den Stamm, doch er konnte nicht erkennen wer oder was es war. Ein leichter Hauch streichelte seine Wangen. Jemand atmete ihn an, das wusste er sofort. Aus dem Atmen wurde ein Stöhnen, dann ein Johlen und schließlich ein Schrei, der in erneutem Lachen verklang. Gänsehaut legte sich über Simons´ Körper, als er im Augenwinkel eine Silhouette bemerkte. Er wollte nicht sehen wer oder was ihn quälte, er wollte nur weg von hier, an einen anderen Ort.
Schweiß drang durch seine Poren und fraß sich in seine Kleidung. Auf allen vieren blickte er den Hang hinunter und keuchte. Er setzte sich auf seine Fersen und schlug die Hände über sein Gesicht. Rinnsale aus Tränen zierten seine Wangen. Simon ballte eine Faust und schlug mit voller Kraft auf den grasigen Boden, als ob er die Erinnerung mit einem Schlag in unzählige kleine Teile zerschlagen könnte, sodass sie endlich verschwand. Er richtete seinen Blick auf und schrie in den Himmel so laut er konnte.
Simon konnte spüren, dass genau vor ihm jemand stand, doch er hatte unwahrscheinliche Angst seine Augen zu öffnen und das Grauen zu erblicken. Trotz der Angst gewann die Neugier und zögerlich hoben sich seine Augenlider. Es war Fabian, der vor ihm stand. Und nicht nur er, sondern Paul und Thomas waren auch da. Alle drei ragten sie vor ihm empor und warfen einen Schatten auf ihn. Sie grinsten dreckig und voller Freude, es war nicht zu übersehen, dass sie genossen, was sie taten. Niemand sagte ein Wort, die Stille des Waldes legte sich über die Situation und erdrückte Simon. Er wollte etwas sagen, doch kein laut ließ sich heraus quetschen, die Angst schnürte ihm die Luft ab.
Das tägliche gemeinsame Mittagessen im Speisesaal von St. Paulus war das Schlimmste. Hier trafen alle Kinder jeglichen Alters aufeinander und die Jüngeren wurden von den Älteren drangsaliert. Die Aufsicht interessierte das nicht, ganz besonders wenn Simon es war, der mal wieder mit Essen beworfen oder von der Bank geschubst wurde. Auch ein Faustschlag hier oder da, wurde gerne übersehen. Die schlimmsten waren Fabian, Thomas und Paul. Irgendetwas stimmte mit den dreien nicht, doch in den Augen der Erzieherinnen, waren sie die Mühe wahrscheinlich nicht wert, sie waren schon zu alt und würden das Heim bald verlassen haben.
Die drei prophezeiten ihm immer, dass sie etwas ganz besonderes für Simon zum Abschied hätten. Er solle nur Geduld haben, denn bald würden sie von hier verschwinden und zuvor hätten sie noch eine Überraschung für ihn.
Paul sank in die Knie und starrte Simon an. Er tätschelte seine Wange und grinste unaufhörlich. Dann holte er aus und schlug Simon mit der Faust mitten ins Gesicht. Noch während sein Hinterkopf an den Baumstamm knallte, konnte er das Knacken seines Nasenbeines bis in die Zehenspitzen spüren. Der Schmerz war unbeschreiblich und vernebelte seinen Verstand, doch bevor er schreien konnte, trat ihn Thomas mit dem Fuß in die Rippen. Simon blieb erneut die Luft weg und es gab für ihn kein Entrinnen. Nun traten und schlugen alle drei auf ihn ein. Sie feuerten sich gegenseitig an, kreischten euphorisiert und genossen jede einzelne Sekunde. Es war eine Tortour.
Kurz bevor Simon das Bewusstsein verlor, hörten sie plötzlich auf. Sie blickten auf ihn herab und noch immer sprachen sie kein Wort. Simon spuckte Blut auf den Boden und keuchte vor Schmerz und Verzweiflung. Fabian legte seine Hand unter Simons´ Kinn und hob seinen Kopf. Paul und Thomas öffneten ihren Hosenstall und urinierten auf ihn herab. Als sie fertig waren, spuckte Fabian Simon zum Abschluss ins Gesicht, dann befreiten sie ihn von den Fesseln, stießen ihn zurück auf den matschigen Grund und gingen fort. Sie ließen ihn und seine Schmach alleine im Wald zurück.
Simon konnte nicht mehr denken. Irgendwie konnte er auch nichts mehr fühlen. Das einzige was er jetzt wollte war sterben, hier am Boden in völligster Ruhe, seinem Schöpfer gegenüber treten. Er wurde ohnmächtig und wachte erst im Krankenhaus auf der Intensivstation wieder auf. Einige Erzieherinnen aus dem Heim hatten ihn gesucht als er nicht zum Abendessen auftauchte und fanden ihn letztendlich auf dem Waldboden liegend.
Sein Schrei hallte über die vor ihm liegenden Hügel hinweg und die dahinter liegenden Bäume verschluckten ihn gnadenlos. Nie wieder würde er das Gefühl der Erniedrigung und der Pein vergessen können. Nie wieder.
Während Simon im Gras kniete und apathisch in die Ferne blickte, unterbrach ein Wimmern sein Déjà-vu. Er blickte über seine Schulter, stand auf und drehte sich dann um. Er ging hinüber zu den Büschen wo er die drei schön sorgsam und akkurat nebeneinander in das Gras gelegt hatte. Es hatte ihn einiges an Mühe und Organisation gekostet, doch er hatte es geschafft. Simon konnte sie alle erwischen und hierher bringen. Denn nun war es an der Zeit seine Dämonen zu besiegen.
Zuerst rollte er Fabian ein Stück von den anderen beiden weg. Er dreht ihn auf den Rücken und blickte auf ihn herab. Sie konnten sich nicht wehren denn er hatte alle drei sorgsam gefesselt, sie waren sozusagen bewegungsunfähig. Simon setzte sich auf Fabians´ Brust, griff in den Busch zu seiner linken, in dem er zuvor einen schweren, großen Stein deponiert hatte, packte diesen und nahm ihn in beide Hände. Dann hob er die Arme über seinen Kopf, sah ein letztes Mal auf den ersten seiner Peiniger hinab und ließ seine Hände mit dem Stein herunter schnellen, direkt auf dem Kopf von Fabian. Immer und immer wieder schlug er auf ihn ein, bis nur noch ein Brei aus Haut, Blut, Knochen und Gehirn das Ende des Halses seines Opfers zierten.
Nach einer solchen Befreiung sehnte Simon sich schon sehr lange und nun war der Zeitpunkt endlich gekommen gewesen. Er sagte kein Wort während er sich erhob und Thomas fixierte. Wieder griff Simon in die Büsche und zog ein Seil hervor. Die Schlaufe und der Knoten waren bereits vorbereitet und er legte sie Thomas um den Hals. Das andere Ende des Seils warf er über einen dicken Ast am Baum über ihm. Dann zog Simon so fest er konnte an dem Seil. Langsam hob sich der wehrlose Körper von Thomas und er wurde immer weiter in die Luft gezogen bis seine Füße den Boden nicht mehr berührten. Simon befestigte das Seilende an einem benachbarten Baum und sah Thomas beim Zappeln zu. Es war ein unwahrscheinliches Gefühl. Während Thomas in seiner Agonie gefangen war, ging Simon zu Paul hinüber. Er griff in seine Hosentasche und zückte ein Springmesser. Mit einem Knopfdruck schnellte die Klinge heraus. Breitbeinig stellte sich Simon über Paul, spuckte ihm ins Gesicht, holte schwungvoll mit dem Messer in seiner Hand aus und schnitt Paul die Kehle durch. Blut drängte durch die Wunde aus dem Körper. Impulsiv und tödlich. Mit ein paar Schritten Abstand, genoss Simon den Anblick der beiden Sterbenden. Noch immer sagte er kein Wort. Während der letzte Hauch Leben aus Thomas entwich, hatte Paul kaum mehr einen Tropfen Blut im Körper.
Simon ging zurück zum Hang, setzte sich ins Gras und blickte wieder in die Ferne. Seine Dämonen waren besiegt und endlich konnte er sich aus den Fängen des Teufels befreien. Er schloss die Augen und lächelte in die Dämmerung.