Kein Wort zu niemandem
Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Jungen heulen doch nicht. Ein Mann hat noch alles geschafft und überstanden. Redet nicht über Bagatellen. Hat immer die Macht, Kontrolle, Oberhand. Reden eines Kerls. Des Kerls, der abschätzig über zusammengeschlagene Männer redet und sie Schwächlinge nennt. Der zum Gürtel oder einem abgebrannten Zigarettenstummel greift, um die Macht zu behalten und das dann Züchtigung nennt. Als Mann im Haus seine Frau und seinen Sohn auf diese Weise im Zaum hält. Der sich in der Kneipe nach dem x-ten Bier mit seinem „ganzen Kerl von Sohn“ brüstet. Vielleicht. Vielleicht hat er es selbst so anerzogen bekommen. Vielleicht kam er selbst nur mit aufgesetzter Härte durchs Leben und hat sie sich irgendwann vollständig zu Eigen gemacht. Vielleicht ist er in manchen Dingen einfach unsensibel, ohne es wirklich so zu wollen und man sollte einfach dankbar sein, dass er die Weitsicht besaß, keinen sozialen Beruf zu ergreifen. Vielleicht. Wäre alles viel leichter. Wenn er die Wahrheit kennen würde. Aber ein Vielleicht ist als Argument viel zu leicht. Um etwas in Standhaft zu setzen. Oder ihn, diesen Menschen. Den Mann meiner Mutter. Meinen Vater.
Werft den Leuten die Worte VERGEWALTIGUNG, MISSHANDLUNG, SEXUELLER ÜBERGRIFF vor die Nase und ihr Kopf beginnt, diesen einen Film abzuspielen. Vielleicht mit unterschiedlicher Besetzung und unterschiedlicher Länge, aber mit demselben Inhalt, dargestellt mit jeweils leicht variierendem Ablauf. Sie lehnen sich in den Kinosesseln zurück und schauen zu, wie der Vorhang den Bildschirm freigibt. Dann sehen sie ein junges Mädchen/eine hilflose Frau/eine alte Dame, die wimmernd/zitternd/zusammengekauert/angespannt/panisch in einer Zimmerecke/auf einem Bett/auf dem Boden sitzt/liegt/kauert. Und je nach der Vorstellungskraft der Zuschauer dieser Darbietung bleiben sie länger im abartigen Genuss dieser bewegten Bilderschau. Der (männliche) Täter schlägt sein (weibliches) Opfer/verletzt es körperlich/befriedigt seine Gelüste einmal/zweimal/unendliche Male. Nun stehen manche Zuschauer auf, verlassen den Saal. ZU harter Tobak für sie, alle kehren in ihr bürgerliches Leben zurück, in dem alles gut ist und so etwas nicht vorkommt. Aber einige bleiben sitzen. Der Film macht einen Zeitsprung: Nun interpretiert jeder die folgenden Filmsequenzen auf seine Weise. Das weibliche Opfer ist gestorben durch Suizid/durch den männlichen Täter, ist immer noch in seiner Gewalt/befindet sich in einer Zwangsjacke sicher verwahrt in der Psychiatrie/hat sich selbst in eine moralisch höchst verwerfliche Person verwandelt, die andere Menschen auch verletzt und sich selbst unabsichtlich in eine Täterin verwandelt hat. Weil all das Schreckliche, was ihr angetan wurde, sich ungefiltert seinen Weg nach draußen sucht. Ja. Und nach dem Abspann verlassen auch die letzten Zuschauer das Kino ihrer Gedanken, schütteln sich kurz und kehren in ihre Leben zurück. Der Hauptgedanke, den sie behalten ist nicht die Gewalt. Sondern wer wem etwas antut.
Männer missbrauchen Frauen.
Als ich in das Lichtspieltheater gezerrt wurde, war es ganz und gar unfreiwillig. Und eher gehen, während die Vorstellung noch lief, durfte ich auch nicht. Kein einziges Mal. Aber als ich dort in meinem roten Polstersessel saß, geschah etwas Seltsames. Die Leinwand kam näher und näher und auf einmal fand ich mich mitten im Filmplot wieder. Die gestellten Szenen wurden zur Realität. Es betraf mich. So schnell wird man zu einem Hauptdarsteller. Als ich zum ersten Mal diese große Rolle spielen durfte, war ich acht Jahre alt. Als Täter hatten sie bei der Castingshow den mittelalten Mann ausgewählt, der in der Wirklichkeit unser Nachbar ist. Der Schock war so groß gewesen, als er mich in die kleine Dreizimmer-Wohnung gezerrt hatte, dass ich ganz wehrlos geblieben war. Trotzdem schnauzte er mich an, gefälligst meine Klappe zu halten. Sagte, dass ich mich schämen sollte und nichts wert wäre. Dass ich ihm gehöre. Damals wusste ich nicht, wie man das Genre dieses Films beschreiben sollte, wo man ihn einordnete. Ich spürte nur, dass es wehtat. Seine Hände, die mich unsanft berührten. Packten. Stießen. Zogen. Krallten. Wenn er seine Hose öffnete, wusste ich immer. Was die Regie des Dramas für mich vorgesehen hatte. Augen zusammenkneifen und sich wegträumen. In den roten Polstersessel VOR die Leinwand und von außen unbeteiligt zusehen. Fünf, zehn, fünfzehn Minuten, das war unterschiedlich. Dann war ich wieder mittendrin. Spielte mit. Und trug die Verantwortung mit, dass es ein authentischer Film wurde. Stand auf. Nahm eine Hand wahr, die flüchtig durch mein Haar fuhr und meist ein Stück Schokolade entgegen. Und die vier Worte. KEIN WORT ZU NIEMANDEM. Fast schon brauchbar als Filmtitel. Dann trat ich zur Tür hinaus. Seiner Tür. Der Tür des Kinos. Zurück ins Leben. In die Wohnung meiner Familie. In die Schule. Zum Schwimmtraining. Jedes Mal. Sechs Jahre lang. Bis zu dem Tag, an dem die Polizei vor unserer Wohnungstür stand. Eine alte Frau, die über uns wohnte, hatte wohl einen seltsamen Geruch aus der Wohnung des Nachbarn wahrgenommen. Es war der Duft eines Herzinfarktes, die Note einer ruhelosen Seele, die aus dem Haus floh und dabei eine Spur hinterließ. Der Gestank des Todes. Den Mann, der jahrelang mit mir zusammen den Protagonisten gemimt hatte, gab es nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Manchmal, in der Vergangenheit, hatte ich gedacht, er sei der Regisseur des Werkes. Alles sei seinem Kopf entsprungen und danke solcher Leute wie ihm, entstanden diese Kopfkinos in den Gedanken der Menschen. Aber in diesem Moment verstand ich. Der Regisseur des Lebens macht seine Ansagen nicht nach den Wünschen einzelner Personen, die in seinem komplexen Werk, einer seltsamen Mischung aus Komödie und Drama, kleinere oder größere Rollen spielen. Und dieser Film, der uns gehört hatte, war ich Wirklichkeit nur ein kleiner Abschnitt aus einem viel größeren Werk gewesen. Und zwar einer der Abschnitte, während denen die Zuschauer mit niedergeschlagen Augen den Saal verlassen und auf keinen Fall was davon mitbekommen wollen, weil solche Situationen und Schicksale nicht zu ihren Vorstellungen des Dramas Leben passten. Nein. Während des Kurzfilms KEIN WORT ZU NIEMANDEM. Hatte ich aus der Leinwand heraus. Mit leeren Augen. In einen vollständig leeren Saal gestarrt.
Und jetzt. Nach der Fertigstellung dieses sechs Jahre andauernden Projektes, nachdem all diese Szenen im Kasten sind. Sitzt mein Vater vor mir. Meine Mutter steht, ein Geschirrtuch achtlos über die Schulter geworfen und hat die Arme vor dem Körper verschränkt. So verharren wir alle drei unbeweglich in unserer kleinen Neubauküche.
Und das ist unsere Szene. Jeder sagt die ihm zugedachten Worte.
Mutter: „Man hat sich doch irgendwie aneinander gewöhnt mit den Jahren. Wer weiß, was oder wer jetzt Unangenehmes auf uns zukommt.“
Vater, mit einer Zunge, vom Alkohol so schwer wie Blei: „Da sagst du was. Der war ein ganzer Kerl. Junge, so sollst du mal werden. Die Welt hat ihn verloren. Jetzt bist du dran.“
Ich:
Denke. wenn ihr wüsstet. Denke, ich war schon viel eher dran. Weiß in dem Moment. Meine Eltern werde ich nie überzeugen, den Film zu sehen, in dem ihr Sohn einer der beiden Hauptdarsteller war.