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Kein Wolf in Sicht
Zum Abschied stand ihre Mutter in der Wohnungstür. Im Hintergrund lief der Fernseher, das Lachen einer Sitcom spülte ins Treppenhaus.
„Meinst du nicht, dass das etwas übertrieben ist?“, fragte Michelle. „Ich fahr nicht in den Urlaub.“
„Pass auf dich auf.“
„Ich bin sechzehn.“ Michelle stieg die ersten Stufen hinab.
„Hast du nicht was vergessen?“, fragte ihre Mutter.
Mit einem Blick prüfte Michelle, ob sie allein waren im Treppenhaus, dann ging sie zu ihrer Mutter, gab ihr einen Kuss auf die Wange – faltige Haut unter den Lippen, kein Wunder, dass Vater weg war.
„Richte Oma einen Gruß aus“, sagte ihre Mutter.
„Besuch sie selbst!“
Auf dem Weg durchs Treppenhaus stöpselte Michelle sich Kopfhörer in die Ohren. Draußen schien noch die Sonne und es roch nach den Mülltonnen, die sich abseits in einem Drahtkäfig blähten wie Fischkadaver. Michelle lief quer über die Rasenflächen zur Straße. Kinder spielten da, im Alter von Kindergarten bis Grundschule. In Michelles Rucksack gluckste der Wein – ein Geschenk an Oma, obwohl sich die Flaschen bereits im Regal stapelten.
Auf der Straße drehte sie sich zum Wohnblock und suchte das Fenster im dritten Stock, hinter dem die Küche lag. Da stand manchmal ihre Mutter und blickte ihr nach. Diesmal war nichts zu erkennen, in der Scheibe spiegelte sich der Sonnenuntergang. Michelle hob den Mittelfinger Richtung Fenster.
Zwei Kreuzungen weiter begann der Park. Hier herrschte Dämmerung und die Laternen glommen milchweiß. Es roch nach feuchtem Laub und fernen Grillfeuern. Menschen gab es kaum, nur eine Gruppe Jugendlicher fuhr auf BMX-Rädern vorüber.
Ein Kerl sprang hinter dem Gebüsch hervor. Michelle schrie und schlug ihm ins Gesicht.
„Fuck! Was soll das?“
Vor Erleichterung wären ihr fast die Beine weggesackt, der Junge im Basketball-Shirt, der sich da die Lippe befühlte, war Marvin, ihr Freund.
„Seit wann schlägst du mich?“
„Ich hab mich erschreckt.“
„Das ist der Witz an der Sache.“
„Idiot.“
Marvin spuckte aufs Gras. Beim Sprechen waren seine Zähne rot verfärbt. „Was soll’s.“
Er küsste sie und Michelle schmeckte Metall und hörte blechern die Musik aus den Kopfhörern, die ihr vorm Bauch baumelten. Marvins Finger berührten ihre Brüste und obwohl es sich aufregend anfühlte und gut, ging sie auf Abstand.
„Nun komm schon“, sagte Marvin.
„Ich will nicht!“ Und verschränkte die Arme vor der Brust, als er nach ihr griff.
„Ist doch nichts dabei. Hier sieht uns keiner.“
„Hier fixen sich nachts die Junkies. Das ist überhaupt nicht romantisch.“
„Seit wann stehst du so auf Romantik? Ich dachte, du wärst ne kleine Punk-Bitch.“
Seit Anfang Frühling saß Michelle am Basketballplatz, draußen auf dem stillgelegten Flugplatz, wo abends Familien mit Inlineskatern die Startbahn abfuhren und nachts die Jugendlichen Bier tranken und Joints rauchten und Musik hörten aus Billigboxen. Marvin spielte mit seinen Freunden, ganze Nachmittage lang, und versuchte bei den Sprüngen zum Korb auszusehen wie ein Profi. Währenddessen sprach Michelle mit den Freundinnen der Mitspieler. Oder sie sonnte sich, ein Handtuch ausgebreitet auf dem glühenden Asphalt, Kopfhörer auf und Sonnenbrille, und der Himmel monochromes Violett. Inzwischen wurde sie in der Schule für ihre Haut beneidet.
„Tut’s noch weh?“, fragte Michelle. Marvin schüttelte den Kopf und hörte auf, seine Lippe zu befingern. Sie gingen Arm in Arm, Michelle viel kleiner als er. Er roch nach Schweiß, Deo, der Sonne vom Nachmittag.
„Weißt du, was ich an dir mag?“, sagte Marvin. „Du tust immer so hart. Von wegen Punk und Anarchie und so. Aber eigentlich bist du wie alle anderen Mädchen auch.“
An der Weggabelung, wo es links abging zu Marvins Straße, blieben sie stehen. Michelle reckte sich auf die Zehnspitzen und angelte seinen Kopf zum Kuss. Diesmal blieben seine Hände bei ihrem Gesicht, streichelnde Finger auf Kinn und Wange. Ihre Ohren glühten.
„Ciao.“ Er winkte ihr über die Schulter zu und Michelle stöpselte wieder die Kopfhörer ein. Ihr Magen flatterte vor Glück.
Hinter dem Park begannen die Vororte und Einfamilienhäuser säumten die Straße, in den Vorgärten blühte Lavendel und Zwerge bevölkerten die Beete wie Ausschlag. Omas Haus war das älteste im Umkreis. Risse durchzogen den Putz wie Adern und unter der Regenrinne wucherte ein Wasserfleck. Aber Michelle mochte das niedrige Dach und den Efeu, der den Windfang verschluckte.
Sie klingelte. Nichts geschah. Sie seufzte und kramte den Schlüssel aus dem Rucksack. Im Haus war es dunkel und der Geruch von Speisefett hing in der Luft. „Oma?“
Oma war nicht im Wohnzimmer, nicht in der Küche. Michelle legte den Rucksack ab, stellte Brot und Wein auf den Tisch. Auf dem Herd stand noch die Pfanne mit Resten von Spiegelei und Bratkartoffeln und in der Spüle stapelte sich verkrustetes Geschirr.
Michelle ging ins Schlafzimmer. Hier war die Luft verbraucht und drückend. Das Abendrot glühte am Rand der Vorhänge, aber das Licht reichte kaum einen Meter weit ins Zimmer. „Oma?“ Nichts, und sie schlich zum Bett. Behutsam tastete sie nach Omas Gesicht und berührte tote Haut.
Michelle saß in der Küche und trank den Wein, er schmeckte nach nichts. Zwei Jogger querten ihr Sichtfeld. An den Armen blinkten rote Lichter. Die Weinflasche ging zur Neige. Wie im Schlaf wusch Michelle die Pfanne und das Geschirr ab, wie im Schlaf kramte sie im Rucksack nach ihrem Handy. Sekundenlang schwebte ihr Daumen über dem Bild ihrer Mutter, dann rief sie Marvin an. Das Tuten am anderen Ende zog sich eine Ewigkeit.
„Hey, was’n los?“ Er klang verschlafen, seine Stimme zäh wie Sirup.
„Komm her.“
„Es ist mitten in der Nacht. Ich hab geschlafen und morgen ist Schule.“
„Komm her!“
„Ist ja gut, ist ja gut. Ich komme. Wohin überhaupt?“ Sie nannte ihm die Adresse. „Ich bin in zehn Minuten da.“
Michelle ging erneut ins Schlafzimmer. Diesmal schaltete sie das Licht an. Oma lag auf dem Rücken, Mund und Augen offen.
Ihr Handy vibrierte: Bin da, mach auf. Vor der Haustür stand Marvin, ziemlich müde, mit zerzausten Haaren und verquollenen Augen. Er unterdrückte ein Gähnen, versuchte ein Lächeln. Sein Fahrrad lehnte am Gartenzaun. Michelle schlang die Arme um seinen Rücken, klammerte sich fest, warmer Stoff rieb an ihrer Wange.
„Hey, was ist denn los? Du siehst furchtbar aus.“
„Halt mich fest!“
Sein Puls ging schnell vom Fahrradfahren, harte Schläge in ihrem Ohr und das Gluckern seines Magens. Michelle schloss die Augen und Oma lag auf dem Bett. Ein Auto fuhr vorüber - ein blubbernder Motor und die Welt jenseits ihrer Lider wurde hell und rot.
„Komm rein.“
An der Hand zog sie ihn die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Hier hingen noch Kinderzeichnungen an den Wänden – Mama, Papa, Kind und Oma, alle grinsend, alle froh und über der grünen Wiese schien ekelgelb die Sonne. Auf dem Schreibtisch klebten Sticker aus Tierzeitschriften. Marvin sah sich behutsam um, seine Arme hingen unschlüssig herab.
„Was ist eigentlich mit deiner Oma. Stört die das nicht?“
„Die liegt im Bett, die hört uns nicht. Setz dich.“ Mit den Fingerspitzen stieß sie ihn aufs Bett. Beim Küssen schmeckte seine Zunge nach Kaugummi, nach Apfel und Zitrusfrucht, und sie drückte ihn auf die Matratze nieder, zog ihm sein Shirt über den Kopf. Marvin sah sie groß an, sein Atem ging flach und schnell, während sie an seiner Hose nestelte.
„Nicht bewegen.“ Michelle stand auf. „Ich komme gleich wieder.“ Sie ging in die Küche und fischte ein Kondom aus dem Frontfach ihres Rucksackes.
Als sie zurück ins Zimmer kam, lag Marvin da, wie sie ihn verlassen hatte, die Hose auf die Knie gezogen und sein Ständer zerbeulte die Boxershorts. „Zieh das drüber.“ Und hielt ihm das Kondom hin. Marvin wirkte hilflos, seine Finger zuckten nur. „Gut, ich mach’s selbst.“
Sie zog ihm die Boxershort aus, streifte das Kondom über. Anschließend schlüpfte sie aus Jeans und Tanga und senkte sich auf Marvin – leichter Schmerz im Unterleib, leichtes Schaudern, sie hielt inne, er lag reglos wie gefroren. Zaghaft, weil alles neu war, bewegte sie ihr Becken. Marvins Gesicht verfärbte sich rot, Sekunden später ejakulierte er. Keuchend fiel sein Kopf ins Kissen.
„Tut mir leid.“
„Macht nichts. Ich liebe dich.“
Michelle hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Schweiß glänzte auf seiner Brust, als hätte der Sex Stunden gedauert. Sie ging ins Bad und wusch sich, angenehm kalt perlte das Wasser vom Gesicht, sie fühlte sich klarer als zuvor.
Zurück in ihrem Zimmer, legte sie sich zu Marvin ins Bett. Er hatte sein T-Shirt wieder angezogen und nahm sie in den Arm, ihr nackter Rücken schmiegte sich an. Alles war warm und lebendig. Im Dunkel summte eine Mücke.