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Kein Wasser
Kein Wasser
Sie reden. Sie reden immerzu und überall, reden, rufen, flüstern, zischen, schreien, überschütten sie mit zusammenhanglosen Wörtern und Sätzen, ein Schwall aus Lauten, wie ein starker Regen, der sich aus einer besonders düsteren Wolke ergießt.
Sie ist Wasserdicht.
Sie hört schon lange nicht mehr zu, wieso sollte sie auch?
Es sind immer dieselben Wörter, dieselben Sätze, dieselben endlosen Geschichten. Sie sitzt einfach nur da, während sie ihre Eimer über ihr ausleeren, jeden Tag füllen sie sich aufs Neue, immer und immer wieder von neuem. Zum Glück ist sie Wasserdicht. Sie sitzt einfach nur da.
Als sie endlich wieder gegangen sind, alle und endgültig, merkt sie einmal mehr, wie leer sie ist. Wie furchtbar leer. Sie mag Wasserdicht sein, doch dafür hat sie einen hohen Preis bezahlt, das weiß sie. Denn die Mauer, die unsichtbare Wand oder der, wie es arme Menschen in grauen Kitteln, die sich Psychologen nennen wieder beschreiben werden (oh ja, sie weiß genau dass sie es tun werden, sie kennt sie alle nur zu gut) „Schutzwall“ den sie gegen das Wasser errichtet hat, ist gleichzeitig auch eine Mauer für alles andere, für alles andere Schlechte, aber auch für alles andere Gute, das spürt sie. Nur, sie hat entschieden dass alles wunderschöne, erfreuliche, alles Gute das Wasser dieser Welt nicht aufwiegen kann. Lieber sitzt sie im Trockenen.
Und doch, manchmal sehnt sie sich danach auch etwas anderes hineinzulassen, ihm eine Lücke zu zeigen in der Mauer, doch sie hat keine Lücke, weil sie jeden Abend und jeden Morgen sorgfältig die Steine nach Rissen abtastet und diese sofort verschließt. Wenn erst mal Wasser in einen Riss gelangt ist, ist es zu spät, zu spät, zu spät. Dazu wird sie es nicht kommen lassen. Sie sitzt hier, und sie sitzt im Trockenen, wie es sein soll.
Sie fühlt sich gerade ein kleines bisschen so als müsse sie weinen. Aber wenn man solange kein Wasser mehr berührt, jede Begegnung vermeidet hat, geht das natürlich nicht. Tränen sind auch Wasser. Davon hat sie keins. Ihre Mauer ist dicht.
Und doch, manchmal, ganz selten, wie zum Beispiel jetzt, sehnt sie sich so sehr danach, etwas hereinzulassen, irgendwas. Nur kein Wasser. Kein Wasser, kein Wasser. Sie kann nicht schwimmen, und sie will nicht ertrinken.
Aber wieso nicht? Was hält sie noch hier? Sie sitzt hier, und sie ist leer. Wofür soll sie nicht ertrinken? Gibt es etwas? Irgendetwas?
Sie erträgt den Gedanken, dass es nichts mehr geben könnte nicht. Sie muss wieder etwas hereinlassen, nur ein ganz kleines bisschen etwas. Ein Riss, einen Riss braucht sie jetzt, eine kleine Lücke, nur wird Stein nicht so schnell rissig. Aber das ist ja auch gut so, schließlich will sie im Trockenen sitzen.
Aber nur eine Lücke, ein kleiner Spalt.
Ein kleiner Spalt.
Ihre Hand tastet nach ihm, doch plötzlich spürt sie, dass sie es ja schon die ganze Zeit in der Hand hält. Metall ist eine wunderschöne Erfindung, findet sie. Es macht Fahrräder, es macht Werkzeug aber vor allem macht es Lücken. Sie macht jetzt eine Lücke.
Die Lücke reiht sich ein, neben die ganzen anderen Lücken, die schon lange vor ihr da waren und sich schon selbst wieder geschlossen haben. Sie macht die Lücke, schließt die Augen, atmet ein, und es kommt, es strömt in sie, die Welt strömt in sie hinein, durch diese Lücke. Alles kommt hinein, alles, alles, alles durchfließt sie. Nur kein Wasser.