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Kein Schnee - Eine Weihnachtsgeschichte -
Kein Schnee
- Eine Weihnachtsgeschichte –
Es sieht auch heute nicht so aus, als würde es noch schneien, denkt sie, während sie am Fenster steht und zum Himmel sieht. Es ist mild, und nur ein paar Wölkchen, jedes für sich allein, hängen gleichmütig dort oben, die geben keinen Schnee her. Das könnte auch ein Sommerhimmel sein, überlegt sie, so blau ist er. Man müsste ihn aufheben können für den Urlaub im Juli, die Reise ist schon gebucht. Wenn das Wetter dann so sein würde wie damals in den Bergen, würden sie sich freuen über diesen blauen Dezemberhimmel; kalt war´s da ja auch.
Merkwürdig, dass sie „damals“ denkt, wenn sie sich an ihre letzten Ferien erinnert, obwohl sie doch erst etwas mehr als ein halbes Jahr zurückliegen. Man kann sich den Sommer eben jetzt nicht so recht vorstellen, auch keinen kalten und schon gar nicht an einem Weihnachtstag.
Die blasse Wintersonne, eben noch halb verdeckt von einer dieser kleinen Wolken, ist inzwischen ganz verschwunden. Jetzt, stellt sie für sich fest, jetzt, wenn es zu dämmern beginnt, wird es erst so richtig weihnachtlich. Sie dreht sich kurz um und weiß nach einem Blick auf die Uhr im Zimmer, dass es zum Abendessen noch zu früh ist. Es ist ihr recht, so bleibt ihr noch ein wenig Zeit für das Haus gegenüber. Sie steht gern so an ihrem Fenster und ist doch selbst ein wenig verwundert darüber, dass dieser schmucklose, ja, triste Wohnkasten mit dem flachen Dach sie so fasziniert. Schön ist er weiß Gott nicht. Fünf Eingänge, einer wie der andere, jeder führt zu vier Etagen mit jeweils zwei Wohnungen. Sie ist nicht besonders neugierig, nicht mehr als andere, eher weniger, aber es gefällt ihr, beim Nach-drüben-Sehen Momente des Lebens der Hausbewohner zu erhaschen – kleine, alltägliche Begebenheiten. „Leben gucken“ nennt sie das. Gern lässt sie sich davon zum Spekulieren über mögliche Hintergründe ihrer Beobachtungen verleiten. Belustigt betrachtet sie den jetzt nach und nach erstrahlenden üppigen, hier und da grellbunt blinkenden Lichterschmuck in vielen Fenstern. Es ist doch jedes Jahr, denkt sie, als wollten die Bewohner dem grau getünchten Haus auf ihre Art wenigstens zu Weihnachten beweisen, wie gern sie in ihm leben.
Stets auf´s Neue rührt diese Überlegung sie an.
Vorhin waren noch ein paar Passanten über die Bürgersteige der Straße geeilt, nun liegt sie still. Die Laternen werfen einen schmalen Lichtkegel, ein Wettstreit mit den unzähligen Lämpchen in den gegenüber liegenden Fenstern ginge hoffnungslos verloren.
Jemand ist da doch noch unterwegs, sie sieht einen Mann auf dem Gehweg von der Hauptstraße her näher kommen. Sie bemerkt seinen langsamen, schleppenden Gang und seinen gebeugten Oberkörper. In einer Hand hält er einen Plastikbeutel, der ihm bei jedem Schritt gegen das Bein schlägt. Er ist jetzt so nahe, dass sein schlecht sitzender, dunkler Anorak und die ausgebeulte, etwas zu kurze Hose sichtbar werden. Der Mann trägt einen Hut, der sie an einen ähnlichen ihres Vaters erinnert. Sie versucht, das Alter des Mannes zu schätzen: Um die achtzig Jahre werden es wohl sein. Vor dem Hauseingang direkt gegenüber ihrem Fenster bleibt er stehen. Er verharrt einen Moment und scheint tief Luft zu holen. Dann lockert er den Kragen seines Anoraks und steigt schwerfällig die kurze Treppe zur Haustür hinauf. Auf den beleuchteten Klingelschildern sucht er, während er den Hut zur Seite schiebt und sich das Haar glatt streicht, einen Namen. Den Plastikbeutel hatte er an das Treppengeländer gehängt; nun nimmt er ihn wieder in die Hand und drückt mit der anderen auf einen der unteren Klingelknöpfe.
Hinter dem Fenster ganz unten rechts wird sehr vorsichtig die Gardine ein wenig zur Seite geschoben, der Kopfumriss der jungen Frau mit der kurzen Strubbelfrisur, die dort mit ihrem etwa gleichaltrigen Freund lebt, erscheint in der Lücke zwischen den einfarbigen, ungemusterten Stoffbahnen. Der alte Mann steht unschlüssig vor der noch immer zugesperrten Tür. Das Fenster entzieht sich hinter einer Seitenwand des Hauseingangs seinem Blick.
Er klingelt erneut. Wieder vergeblich. Die Gardine ist nun geschlossen und lässt nur einen schwachen Lichtschein aus dem Raum dringen. Die Silhouette eines Schwibbogens, wie Touristen ihn sich gern aus den Schnitzstuben des Erzgebirges mitbringen, zeichnet sich ab. Die Kerzen darauf sind nicht angezündet.
Der Mann kramt ein Päckchen aus dem Beutel, den er gleich darauf in die Anoraktasche stopft, und hält es in beiden Händen. So steht er vor der Tür, die sich auch nach dem dritten Klingeln nicht öffnet. Noch einmal bewegt sich die Gardine, zu sehen ist jetzt niemand.
Bestürzt zieht der alte Mann den Beutel aus der Tasche seines Anoraks, das Päckchen fällt ihm dabei aus der Hand. Mühsam hebt er es auf und lässt es sorgsam in die Plastiktüte zurückgleiten. Dann dreht er sich um und steigt, sich am Geländer abstützend, die Stufen hinab. Für einen kaum merklichen Augenblick bleibt er auf jeder einzelnen stehen. Endlich zurück auf dem Bürgersteig, befindet er sich nun ganau dort, wo er vorhin Atem geschöpft hat.
Jetzt wendet er sein Gesicht diesem Fenster zu. Seine Schultern hängen herab, die Gestalt scheint schmaler geworden, fast zerblechlich wirkt sie und offenbart grenzenlose Ungläubigkeit. Zögernd nur wendet sich der alte Mann ab und schlurft so langsam, als wäre er noch jeden Moment zur Umkehr bereit, den Weg zurück, den er gekommen war. Doch nicht ein einziges Mal mehr dreht er sich um.
Erst jetzt bemerkt sie, dass ihr Mann alle Lampen im Zimmer ausgeschaltet und dafür gesorgt hat, dass die an der Weihnachtstanne angezündeten Wachskerzen mit ihrem glanzvoll schimmernden Licht jenen Zauber erzeugen, der sie nun wieder in diese kindlich-friedvolle Stimmung zu versetzen versucht. Verwundert fragt ihr Mann, was es denn da draußen so Spannendes zu sehen gegeben habe. Sie vermag nicht zu antworten, nicht jetzt, und denkt: Ich hab´ wieder Leben geguckt.
Doch sie weiß: Wie zuerst Erwartungen und später Hoffnungen verkümmert sind vor dieser sich nicht öffnenden Haustür, das wird sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen und daran noch denken, wenn in den Wohnungen und Büros längst wieder die Ventilatoren summen und die Menschen vor der Hitze in die Freibäder flüchten. Und es wird ihr vorkommen, als wäre es gestern gewesen.
Wenn heute Schnee gefallen wäre, hätte es nur dieser unangenehm klebrig-nasse sein können, der selbst durch dick gefütterte Kleider bis unter die Haut zu kriechen scheint.
Der Warten unerträglich macht und Schmerz umso spürbarer.
Gut, denkt sie, dass es nicht geschneit hat, heute ...