Kein Liebesroman
Ich gehe alleine durch den dunklen Kellerflur einer kleinen Stadtschule irgendwo hoch im Norden Deutschlands und höre plötzlich merkwürdige Geräusche. Es klingt wie ein Wimmern und Stöhnen und scheint aus der kleinen Schulküche vier Schritte vor mir zu kommen. Vorsichtig gehe ich näher an die geschlossene Tür heran und lausche. Auf der anderen Seite lehnt sich wohl jemand an die Tür, dann gibt es einen leisen Knall gegen die Tür und eine männliche Person stöhnt auf. Metallene Gürtelschnallen rascheln und klacken schließlich in den Verschluss. Ein Reisverschluss wird hochgezogen und dann vernehme ich, wie jemand etwas vom Boden aufnimmt. Es scheint eine Tasche zu sein. Ich laufe schell weiter bis zum Ende des Flurs, wo ich in eine Nische einbiege um vorsichtig zurück um die Ecke sehen zu können. Die Tür wird vorsichtig geöffnet und ein junger dunkelhaariger Kerl mit dunklem Teint schielt vorsichtig heraus; er verlässt hastig den Raum und geht auf dem anderen Ende des Flures die Treppen hinauf. Ein paar Sekunden später wird die Tür ein zweites Mal geöffnet und ein blondes Mädchen kommt mit hängenden schultern und gesenktem Kopf heraus. Sie schließt die Tür hinter sich und steckt dann einen Schlüssel in das Schloss. Niedergeschlagen schlendert sie in meine Richtung und geht ohne aufzusehen an mir vorbei die Treppen hoch. Sie sieht traurig aus.
Wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass dieses Mädchen in letzter Zeit öfter deprimiert und unzufrieden wirkt. Was ist nur mit ihr? Und überhaupt – was hat sie mit diesem Jungen zu schaffen? Er sieht zugegebenermaßen nicht schlecht aus, doch damit ist er jawohl nicht der Einzige. Merkwürdig! Wenn ich mir ihn mal genauer anschaue kann ich außerdem keine Veränderungen erkennen. Er ist noch immer der, der er schon immer war. Er redet viel und scheint im Gegensatz zu ihr ganz „normal“ zu sein. Ich kann nicht mal Ansätze einer leichten Traurigkeit erfassen. Was soll das Ganze nur?
Seit diesem merkwürdigen Ereignis im Keller sind einige Tage vergangen und ich habe die wildesten Theorien über dieses Thema verworfen: Vielleicht braucht das Mädchen Geld für irgendetwas? Vielleicht sogar für Drogen? Was wäre, wenn sie anschaffen gehen muss? Vielleicht hat der Typ ja auch etwas gegen sie in der Hand? Ein Geheimnis – eins, von dem niemand erfahren darf… Oder vielleicht sind die beiden einfach nur sexsüchtig?
Bei meinen Überlegungen bin ich mehr als einmal ganz schön ins Schwitzen gekommen. Ich will endlich wissen, was da los ist!
Es ist gerade Hofpause und ich bin auf der Suche nach einem Kumpel von mir, der wie die beiden in die Oberstufe geht. In der Raucherecke entdecke ich ihn schließlich. „Auf geht’s!“, sage ich mir, während ich ihn fast platzend vor Spannung und mit eiligen Schritten ansteure. „Na Alter!“, begrüße ich ihn. Kaum ausgesprochen wirft neben mir jemand in die Runde: „Na Dicker, kommst lag auf ´ne Zigarette danach oder is´ die gegen die Nervosität vorm nicht mehr allzu geheimen Kellergang?!“ Ein teilweise schadenfrohes, teilweise bemitleidendes Lachen geht in der Raucherecke reih um. Ale wissen bescheid - sogar Leute, die weder ihn noch das traurige Mädchen aus dem Keller genau kenn, finden sich zu einem allgemeinen Gelächter zusammen.
Ich frage mich, ob ich die Einzige bin, die sich etwas unwohl bei der ganzen Geschichte fühlt. Ich weiß zwar nicht genau, woher dieses Unbehagen kommt, denn ich kenne das „Kellerpaar“, wie es inzwischen von überall her tönt, eigentlich auch nicht weiter, aber ein bisschen unangenehm ist mir das alles schon. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich die beiden mit eigenen Augen kurz nach ihrem Akt gesehen habe?
„Seht mal, wer da kommt!“, reißt mich eine besonders laute Stimme aus meinen Gedanken, „Da hat es wohl jemand dringend nötig!“. Ein wirres Gelächter bricht aus. Jeder möchte scheinbar seinen Senf dazu geben und die beiden aufziehen. Als das besagte Mädchen nur noch etwa anderthalb Meter entfernt ist, richten sich alle Blicke erwartungsvoll auf sie. Das Gelächter verstummt ganz langsam, alles ist still und ein jeder macht sich auf die drohende Explosion gefasst. „Hast du mal Feuer?“, fragt sie lediglich irgendein Mädchen aus der Elften, bevor sie sich eine Zigarette anzündet und auf ihrem Handy rumtippend einen Zug nach dem anderen nimmt. Ohne etwas zu sagen. Ohne Reaktion. Einfach so.