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Kein Leben ohne Sterne
“Du wirst die Sterne nicht sehen, wenn du nicht nach oben blickst.“
Ich habe eine Menge Freunde, die so sind wie ich. Nahezu perfekt. Gute Noten, eine Menge Geld, hübsch und unfassbar beliebt.
Ich bin 18 Jahre alt und habe meine Matura vor einem Monat mit ausgezeichnetem Erfolg bestanden. Nun werde ich mich auf mein Studium konzentrieren. Medizin. Der Meinung meiner Eltern nach ist das die beste Entscheidung.
Bis jetzt habe ich alles in meinem Leben erreicht, was meine Eltern, aber vor allem ich von mir selber erwartet habe.
Jeder und jede kennt mich. Die Jungs in der Schule sahen mir hinterher, wenn ich bei ihnen vorbeilief und stießen anerkennende Pfiffe aus. Manche Mädels erdolchten mich nahezu mit Blicken, manche sahen mich eifersüchtig oder auch bewundernd an.
Alle meine Freunde sagen ich entspreche dem Schönheitsideal. Und so arrogant es auch klingen mag, manchmal wenn ich mich im Spiegel sehe habe ich nichts gegen diese Aussage einzuwenden.
Es ist ein Freitag wie jeder andere. Ich bin mit meiner Hündin Molly im Wald joggen und hänge meinen Gedanken nach. Das Zwitschern der Vögel und mein Atem sind das Einzige was ich höre.
Jetzt bin ich in meinem Leben an diesem Zeitpunkt angelangt, wo ich alles erreicht habe, was ich erreichen wollte und trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Etwas, das nicht zu dem perfekten Leben gehört, das ich führe. Etwas, das vermutlich den Schein trügen würde. Doch solange ich auch überlege und versuche in mich zu gehen, ich kann das unbekannte Begehren nicht identifizieren.
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken zurück in die Realität katapuliert. Ich vernehme gedämpftes Stimmengewirr und Gelächter, das von Nahem zu mir rüberweht. Ich blicke in die Richtung aus der es kommt und bleibe stehen. Mit den Händen auf meinen Knien abgestützt beobachte ich mit keuchenden Atem die ausgelassene Stimmung, die dort herrscht.
Mehrere Leute in meinem Alter sitzen auf dem Waldboden, unterhalten sich und wirken unbeschwert und ... frei.
Ich denke an meine eigenen Freunde, mit denen ich so etwas nie erleben könnte. Unsere Markenklamotten würden dreckig werden und vorallem würden wir uns nicht im Wald treffen sondern in einer schicken Bar, wo uns alle Leute sehen und bewundern können.
Ich gehe in die Knie und tue so als würde ich meine Schnürsenkel binden, um sie weiter unauffällig beobachten zu können. Dem Drang, zu ihnen zu laufen und genauso ausgelassen und schwerelos zu sein, ist schwer zu widerstehen. Leise seufzend schüttle ich den Kopf und konzentriere mich nun wirklich auf meine Schnürsenkel. Hastig binde ich sie neu und stehe auf. Nun möchte ich so schnell wie möglich weg. Gedanken, um ein Leben, das ich aus Prinzip sowieso nicht führen könnte bringen mich durcheinander und schwirren in meinem Kopf. Leise fluchend stehe ich auf und wage einen Blick in Richtung der Gruppe. Zum Glück hat mich niemand gesehen und ich kann unbemerkt wieder verschwinden. Ich lasse meinen Blick noch einmal schweifen und stelle im nächsten Moment fest, dass das ein fataler Fehler gewesen ist. Denn nun schaue ich geradewegs in das Gesicht eines Jugendlichen der Gruppe.
Unverwandt starrt er mich an und mustert mich. Verlegen wende ich den Blick ab und schabe mit meinen Füßen im weichen Waldboden herum. In der Hoffnung, dass er sich ohne weiteres
Interesse abgewandt hat, hebe ich scheu den Kopf und begegne wieder seinem Blick. Inzwischen grinst er mich an und flüstert einem weiteren Jugendlichen neben sich etwas zu.
Daraufhin dreht sich dieser in meine Richtung und grinst ebenfalls. In Gedanken verfluche ich mich selbst und drehe mich nun endlich um.
Leise fluchend mache ich mich auf den Heimweg, doch ich spüre den stechenden Blick in meinen Rücken als ich plötzlich einen Ruf höre: „Hey, du da. Bleib doch noch bei uns!“
Erschrocken bleibe ich stehen, ohne mich umzudrehen. Spätestens jetzt sind alle auf mich aufmerksam geworden und ich möchte am liebsten vor Scham im Boden versinken.
Doch plötzlich kommen in mir Gefühle hoch, die mir bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt waren. Aufgestautes Adrenalin, dem ich nie die Chance gab ausgeschüttet zu werden, überrollt mich und bringt mich in Ekstase. Mir wird schwindelig vor Euphorie und Nervosität.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und straffe meine Schultern, um mehr Selbstbewusstsein rüberzubringen. 1
Langsam und würdevoll drehe ich mich auf den Absatz um und gehe mit großen Schritten auf die Gruppe zu.
Manche schauen mich argwöhnisch an und mustern mich, andere lächeln mir aufmunternd zu.
Der Junge der mich angesprochen hat streckt mir seine Hand entgegen, sobald ich vor ihm stehen bleibe: „Hey, ich bin Noah und wer bist du?“
Lächelnd ergreife ich seine ausgestreckte Hand und erwidere: „Ich bin Ilvy, freut mich.“
Und obwohl ich diese Leute nicht kenne und nicht weiß auf was ich mich da einlasse, kann ich dieses unbekannte Begehren, das ich gespürt habe, nun identifizieren:
Man sollte mal nach oben schauen, um die Sterne zu sehen. Denn Sterne müssen nicht immer das sein, wofür wir sie halten. Sie können auch die Menschen in deinem Leben sein, die dich aufrütteln und dir sagen zu leben.