Kein einziger Ton
Ein Rascheln drang an meine Ohren. Dazu kam ein Klimpern und Klirren. Gläser, die gegeneinander gestoßen wurden. Da war ich mir ziemlich sicher. Ich wusste nicht warum, aber das war mir in diesem Moment nicht so wichtig. Ich fühlte mich benommen und meine Glieder hingen schwer an mir herunter. Das konnte ich fühlen. Sie waren steif, als hätte ich sie seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt. Beinahe so, als hätte ich sie noch nie benutzt.
Ich konzentrierte mich auf meine Augen. An meinen Augenbrauen spürte ich eine feine Bewegung. Ein Berührung, die mir Gänsehaut bereitete. Ein Kribbeln. Ich wollte mich jucken, aber konnte meinen Hand nicht bewegen. Sie war wie festgefroren. Paralysiert. Jedoch konnte ich unter großer Anstrengung meine Augen öffnen. Meine Wimpern zogen meine Augenlider nach unten, aber ich kämpfe dagegen an. Mit aller Kraft stemmte ich sie auf.
Zuerst sah ich nur verschwommen. Ein paar Farbkleckse. Lichtreflexionen, die sich noch nicht entschieden hatten, woher sie kamen und wohin sie wollten.
Also schloss ich meine Augen wieder und öffnete sie erneut. Diesmal wehrten sie sich nicht dagegen. Meine Lider schossen voller Energie nach oben, um dem Licht die Chance zu geben, meine Netzhaut zu berühren. Scharfe Konturen tauchten in meinem Geist auf und verdrängten die wilden Spiegelungen.
Ich zuckte zusammen. Eigentlich zuckte ich nicht wirklich zusammen, denn ich konnte meinen Körper immer noch nicht bewegen. Aber mein Innerstes verkrampfte sich. Es zog an meinem Magen und riss ihn in alle Richtungen.
Keine dreißig Zentimeter vor mir schwebte ein Kopf. Dunkle, zottelige Haare, die dringend gewaschen werden mussten. Darin klebten farbige und völlig verschmierte Fetzen aus einem nicht näher identifizierbaren Stoff. Es war ein männlich Kopf, der leicht schräg auf einem dürren Körper saß, wobei ich diesen nicht richtig sehen konnte. Die blauen Augen in seinem Kopf waren kalt und analysierend. Sie starrten durch mich hindurch. Sein Mund war fest zusammen gepresst.
Er drehte sich um. Keine Sekunde später stierte er wieder nach mir und ohne zu zögern, stach er mir etwas Spitzes ins Auge.
Ich konnte mehrere Sekunden lang nichts sehen. Alles war weiß. Ich würde gerne sagen, dass es weh getan hätte, aber das tat es nicht. Ich spürte rein gar nichts. Es war einfach nur eine völlige Reizüberflutung.
Dann sah ich wieder sein Gesicht vor mir. Er trat einige Schritte zurück und endlich konnte ich ihn ganz erblicken. Der Mann trug schwarze Kleidung. Allerdings war von dem Schwarz nicht mehr viel zu erkennen, denn über seinen kompletten Körper war Farbe verschmiert. Auf seiner Kleidung, auf seinen Armen, im Gesicht, sogar auf den Schuhen. In einer Hand hielt er ein braunes Tablett, in der anderen einen scharfkantigen, grauen Gegenstand.
„Ja, so ist es besser. Die Augen sind immer das Schwierigste“
Das reichte! Ich wollte ihn anschreien, wissen, warum er mir das antat. Was für ein krankhaftes, perverses Schwein er sei. Warum er mich hier festhielt. Ich wollte ihn einfach anbrüllen. Aber ich konnte nicht. Aus meinem Mund kam kein einziger Ton, nein, ich konnte meinen Mund nicht einmal öffnen. Er war wie zugeklebt.
„So, das war’s“
Wie, das war’s?
Er drehte sich um und lief zu einer siffigen Spüle, die in der Ecke eines kleinen Raumes stand. Dort schmiss er seine Utensilien hinein.
„Den Rest räume ich morgen auf“
Mit diesen letzten Worten lief er auf eine braune Tür zu. Kurz bevor er raus ging, schaltete er noch das grelle Neonlicht aus.
Dann war es dunkel.
Ich weiß nicht, wie lange er weg war. Ich weiß nicht, wie lange ich dort in dem dunklen Raum war. Aber ich weiß, dass ich kein einziges Auge zu bekam. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis die Sonne draußen aufging und durch ein kleines Fenster in meinem Blickrand schien. Ich weiß auch nicht, wie lange es dauerte, bis ich erkannte, dass ich in einem Atelier gefangen gehalten wurde. Aber ich weiß, dass ich gerne geweint hätte; es aber nicht konnte.
Irgendwann kam er wieder und räumte den Rest auf. Mich würdigte er keines weiteren Blickes mehr. Es war, als existierte ich für ihn nicht mehr. Dabei hatte er mich erschaffen! Er hatte mich in diese Welt gesetzt.
Dann kam er eine ganze Weile nicht mehr wieder. Um mich herum veränderte sich nichts. Nur die sich drehenden Schatten im Atelier, die durch die einfallende Sonne geworfen wurden, rotierten um mich herum. Im Augenwinkel sah ich das Fenster, aber ich konnte nicht heraus schauen. Beinahe, als wäre ich extra so gestellt worden. Feine Staubfusel sanken neben mir auf den Boden und verzierten ihn. Sonst geschah nichts. Gar nichts.
In dieser Zeit dachte ich viel nach. Darüber, warum ich auf dieser Welt war. Warum er sich mich ausgesucht hatte. Warum ich zu seinem Versuchsobjekt geworden war. Viel wichtiger war aber, ob er sich überhaupt darüber im Klaren war, was er mir antat. Ob er überhaupt wusste, dass ich Gefühle hatte, dass ich denken konnte. Denn ich konnte es ihm nicht mitteilen. Das hatte er verhindert. Aber wenn er wusste, was er da tat, wie konnte er dann so an mir herumspielen. Wie konnte er mich in diese Welt setzten und dann zuschauen, wie ich verrottete. Mich nicht einmal mehr anschauen. Anschauen, was er erschaffen hatte.
Er hatte sich einfach abgewendet.
Ich war alleine. Die Tage verschmierten und zogen ihre Fäden ineinander. Der Staub legte sich langsam auch auf meinen Augen nieder und vernebelte mir die Sicht. Das war es also, was man Schlafen nannte. Nur träumen konnte ich nicht.
Dann kamen drei Männer ins Atelier. Sie trugen ebenfalls schwarze Kleidung. Diese aber war nicht mit Farbe beschmiert. Es wirkte beinahe so als würden sie jeglichem, bunten Farbklecks ausweichen, was sich allerdings in der gegebenen Umgebung als recht schwierig erwies. Sie wischten mich ab und...Halt wartet! Ein stummer Schrei meinerseits...zogen mir eine Haube über.
Wieder war alles dunkel.
Einen undefinierbaren Zeitraum später wurde mir die Haube wieder abgezogen und ich befand mich in einem großen Saal voller Gleichgesinnter. Mir gegenüber hing ein kleines Mädchen an der Wand. Sie trug ein weißes Kleid, es wirkte wie ein Hochzeitskleid, und hielt in der einen Hand ein Messer. In der anderen umklammerte sie einen abgeschnittenen Finger, an dem ein Ring steckte.
Das alleine war verstörend genug. Aber um mich herum, verteilt im ganzen Raum, hingen noch viele weitere der gemarterten Seelen. Eine verkümmerter als die Nächste. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich auf sie wirken musste.
Jedoch war das Grausamste, das sich unsere Schöpfer ausgedacht hatten, dass wir alle alleine waren. Denn auch wenn ich den Schmerz der anderen sehen konnte, und sie sicherlich auch meinen, konnte ich meinen Mund nicht öffnen. Konnte keinen Laut von mir geben. Hing ganz einsam an der Wand und spürte die Blicke der Anderen auf mir.
In den nächsten Tagen, Monaten und Jahren tauschte man uns immer wieder aus, hing uns auf und wieder ab, verkaufte uns an das nächste Museum. Die Menschen strömten nur so herbei und begafften uns, als wären wir ihr Lebenselixier. Bei den unzähligen Gesprächen, die sie unter mir führten, bekam ich mit, dass mein Schöpfer wohl ein Märtyrer der Kunst geworden sei. Im Klartext: Er hatte sich in seinem Wahn eine Kugel verpasst.
Das einzig bedauerliche daran war, dass er mich nicht vorher zerstört hatte. Manchmal wollte ich zu ihnen herunter schreien: Tötet mich! Verbrennt mich! Macht irgendwas, aber macht, dass es aufhört!
Aber ich konnte nicht. Aus meinem Mund kam kein einziger Ton, nein, ich konnte meinen Mund nicht einmal öffnen. Er war wie zugeklebt.