Mitglied
- Beitritt
- 17.06.2018
- Beiträge
- 93
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Kein Chor
Mein allerliebster Freund,
es birgt eine gewisse Tragik, dass ich Dir meist nur in Momenten tiefen Unmuts schreibe. Doch ehrlicherweise muss ich zugeben, dass es schwer ist, zu schreiben, wenn man glückerfüllt ist. Denn wirklich Nennenswertes geschieht dann nur selten. Heute möchte ich Dir von einem Erlebnis berichten, das meine These unterstreicht. Aussprechen könnte ich es niemals wollen, daher schreibe ich Dir. Wort für Wort errichte ich eine Mauer, die zwar die riesenhafte Gestalt des Schauders erahnen lässt, ihn aber doch in seiner unaussprechlichen Gesamtheit verbirgt – und mich so vor ihm schützt.
Genug des Einstiegs. Ich will Dir erzählen, was sich gestern des Nachts zugetragen hat. Meine Frau und ich, wir saßen auf dem Canapé, hatten den Tag im Garten verbracht. Es war ein wunderbarer Frühlingstag. Eine laue Brise hob den Duft der frisch aufgebrochenen Blüten in die Lüfte, die pralle Sonne tat wohl auf der Haut und ließ die Farben der Natur in voller Pracht erstrahlen. Wir labten uns an der Ruhe, der Entspannung, fast glich sie einer seelischen Reinigung. Und als der Abend dämmerte, setzte ein sanfter Regenguss ein, der uns schlussendlich ins Haus scheuchte, wo wir uns mit einem Glas des feinsten Rotweins niederließen. Und nun, mein lieber Freund, geschah das Ungeheuerliche. Nie hätte ich mir träumen lassen, solche Worte aus dem Mund meiner geliebten Frau zu vernehmen:
»Ach Emil«, sprach sie. »Dies war ein verlorener Tag.«
Du musst mir glauben, lieber Freund, beinahe hätte ich vor Schock mein Glas auf das Canapé ergossen, doch konnte ich es gerade noch in Balance halten.
»Florentina, wie kannst du nur so sprechen?«, stieß ich in meiner Erschütterung hervor. »Wie kannst du einen so herrlichen Tag verloren nennen? Hast du etwa nicht die feinen Sonnenstrahlen genossen? Nicht den Gesang der heimgekehrten Vöglein?«
»Du sprichst von Dingen, die ich nicht meine«, gab sie erzürnt zurück. »Natürlich war der Tag ein schöner. Natürlich habe ich die Gaben der Natur genossen. Aber darum geht es nicht.«
»Worum geht es dann?«
»Der Tag war nicht besonders. Er war kein Abenteuer, nichts haben wir erlebt, nichts Neues gesehen. Keinen einzigen Moment dieses Tages würde ein Künstler auf Papier einfangen wollen. Kein Dichter darüber eine Ballade schreiben, kein Engelschor über ein Wunder singen. Wir werden diesen Tag schnell wieder vergessen. Emil, versteh’ doch, unser Leben ist trostlos und leer.«
Der Hauch des Schreckens ließ meine Haare strammstehen. Ich meinte, nicht recht zu hören. Das Leben, das ich führte – plötzlich rief man es trostlos und leer. Ihre Worte hatten mich gepackt und hafteten an mir. Und nun, da ich sie zu Papier bringe, scheinen sie noch obszöner, noch so viel hämischer. Wie kann sie es wagen?
Wir schwiegen eine Zeit. Ich gab einzig verstimmte Geräusche von mir. Ihre Ausführung hatte mich sehr aufgewühlt, und ich wollte, dass sie es merkt. Doch sie tat nichts dergleichen, saß nur betrübt da, mit ihrem Weinglas in der Hand.
»Dann geh doch!«, rief ich aus.
Sie sah mich mit großen Augen an. »Um Himmels Willen, wohin denn?«
»Zu deinen Abenteuern, weiß der Kuckuck. Reise doch in 80 Tagen um die Welt oder zum Mittelpunkt der Erde.«
Mit diesen Worten ließ ich sie sodann sitzen und zog mich mit dem restlichen Wein zurück. Seitdem verweile ich in meinem Zimmer. Heute Morgen kam meine Frau kurz an die verschlossene Türe, klopfte und fragte mit dünner Stimme, ob ich denn Frühstück wolle. Ich verneinte und erklärte, so lange fasten zu wollen, bis sie einsehe, dass sie falsch liegt. Von da an war sie nicht mehr hier. Und nun sehe ich mich genötigt, Dir zu schreiben, um die unglaubliche Realität auf Papier bannen zu können. Meine Augen möchten dennoch nicht wahrhaben, was sie sehen.
Wie es jetzt weitergeht – ich kann es nicht sagen. Ach wie hoffe ich, dass die Vernunft sie wiederfindet, und sie das Glück erkennt, das ihr zu Füßen gelegt wurde. Wie hoffe ich, dass sie wieder erlernt, Schönheit in der Ruhe zu erkennen. Ich liebe sie sehr, doch wie könnte ich ihr jemals reinen Herzens bieten, was sie verlangt?
Zum Abschluss erlaube ich mir, einige wenige Zeilen eines Gedichts wiederzugeben, auf das ich in der letzten Nacht auf meiner Suche nach Antworten stieß.
Liebe! zeig mir deinen Abgrund
öffne deinen tiefen Schlund
spüre meine Küsse
auf deinem wohlgeformten Mund
Liebe! heute tu ich kund
und das in höchster Not
meines Lebens letzte Schlüsse
denn vor mir steht der Tod
und in der Ferne hallen Schüsse
So ist mein letzter Wille
für alle Leute dieser Erde
dieser Welt
dass Stille werde
auf der Schlachten Feld
Ich grüße Dich,
mein lieber Freund,
Emil