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Kauzingers Knochen
Er war immer noch außer sich, als er den Aufzug zu Heinrichs Wohnung betrat. Die Brille rutschte ihm schon wieder langsam von der Nase. Er nahm sie endgültig ab und steckte sie in seine schweißnasse Hemdtasche. Normalerweise beruhigte er sich ja immer irgendwann, besonders, wenn er ein Stück weit rennen konnte, und sei es nur auf dem Gang des Instituts. Einmal hoch, einmal runter. So gut es ging halt. Das Herz kurz in Schwung bringen, das genügte sonst, aber heute … von der Siegburgstraße, wo der Tierfriedhof lag, bis zu Heinrichs Aufzug am Neutorplatz vier Straßen weiter war er gerannt, er, Rudolf Kauzinger, 70 Jahre alt, Professor der Philosophie, Bypass. Bypass! Das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen!, dachte er wütend-stolz, während er den Knopf für den vierten Stock drückte.
Treppensteigen war nicht mehr drin. Die Hitze hatte ihm schon heute Morgen zu schaffen gemacht, als er aufgewacht war, mal wieder viel zu spät. Wie jeden Samstag. Aber dieser Samstag hätte nicht laufen dürfen wie jeder Samstag, dieser Samstag war Sophokles‘ dritter Todestag, und Kauzinger hatte unbedingt am Grab sein wollen, bevor die verrückte Gräfin von Romp-Hesselbach zwei Gräber weiter da sein konnte, das war obligatorisch, heute bitte keine Zwiegespräche mit und Schlaflieder für ihre toten Lieblinge, nein, das war unbedingt zu vermeiden gewesen. Also hatte er kurz mit dem anfänglichen Hitzeschwindel gekämpft, seine Sachen gepackt, seine Frau ignoriert und war losgegangen. Schon in der Straßenbahn starrten die Menschen auf den riesigen Plasteknochen, den er da vor sich her trug. Nur das Beste für seinen Sophokles, Gott habe ihn selig, was für ein guter Hund. Seine Straßenbahnfahrt hatte jedoch früher als geplant und eher abrupt geendet, als er zu dem kleinen Mädchen herunter gezwinkert und gefragt hatte, ob sie schon mal so einen großen Knochen gesehen hätte. Nach zwei Ja gibt’s denn so was!, drei Meine Herrn! und seiner anschließenden Feststellung, es gäbe keine Liebe mehr unter den Menschen, war er ausgestiegen und die restlichen zwei Haltestellen zu Fuß gelaufen, nur um dann doch der Romp-Schnepfe in die Fänge zu laufen, die gerade zum ersten musikalischen Kleinod angesetzt, dann jedoch wohl aus Trauer spontan in Ohnmacht gefallen war.
Das war dann wirklich zu viel gewesen.
Nun war er hier, und er wusste, Heinrich würde zu Hause sein, das Küchenfenster war geöffnet, ein untrügliches Zeichen seit ihrer WG-Zeit, Heinrich, der alte Psychologe, und Heinrich, der alte Schnaps-Connaisseur. Und jawohl, es war erst kurz nach Mittag, aber das war Kauzinger egal, er würde keine Ausrede gelten lassen, da musste Heinrich jetzt durch. Willis Kneipe hatte schon offen, und da würde er ihn hinschleppen, sich Luft machen, zusammen mit dem Plasteknochen, dem stillen Zeugen menschengemachter Unwirtlichkeit.
Er klopfte.
Heinrichs große Augen, während er die Unglaublichkeiten berichtete, waren gut nachvollziehbar. Kauzinger hatte nichts anderes erwartet. Auf seinen Freund war Verlass. Und auf ‘nen Schnaps in die Kneipe, ja, sagte Heinrich, das sei auch in Ordnung.
Das hieß, unter einer Voraussetzung:
Nicht ohne Hose.