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Kaufhausdschungel
Es war nur noch ein Tag bis zum Geburtstag meiner Freundin. Ich wusste schon genau, was ich ihr schenken wollte. Eine Uhr sollte es sein. Deshalb begab ich mich ins Einkaufszentrum.
Ich ging in ein Kaufhaus und fuhr in die Abteilung Damenbekleidung und Schmuck. Dort angekommen, erhoben sich zu meiner Linken und Rechten meterhohe Wände mit Kleidungsstücken. Außer den Wänden konnte ich nichts sehen, keine Rolltreppe, keinen Ausgang, keine Fenster; nur Waren und nochmals Waren. Mützen, Pullover, Krawatten und Körbe mit Socken versperrten mir den Weg. Alle paar Meter hingen Schilder mit einem Pfeil, auf denen „Zur Kasse“ oder „Zur Umkleide“ standen. Es gab zahlreiche Weggabelungen, doch keinen Lageplan. Kaum hatte ich das gesehen, verging mir die Lust aufs Einkaufen und ich wollte nur noch nach Hause. So was ist echt das Letzte, dachte ich.
Auf der Suche nach dem Ausgang bog ich ein paar Mal willkürlich ab, bis ich komplett die Orientierung verlor. Haushaltswaren, Kinderspielzeug und Kosmetikartikel säumten meinen Weg, und immer wieder dieselben beschissenen Klamotten. Das Ganze erinnerte mich an ein Labyrinth. Und das war es genau genommen auch. Mehrere Minuten versuchte ich auf gut Glück, zum Ausgang zu gelangen. Ohne Erfolg.
Als es mir zu bunt wurde, fragte ich einen anderen Kunden nach dem Weg.
„Keine Ahnung, ich bin nicht von hier“, war alles, was er sagte, bevor er um die Ecke verschwand.
Ich fragte weiter, jeden, der an mir vorbei lief. Niemand konnte mir den Weg nach draußen erklären. Vergeblich hielt ich nach einer Verkäuferin Ausschau. Mittlerweile war schon eine Stunde vergangen und ich kochte vor Wut. Irgendjemand musste doch wissen, wie man aus diesem blöden Kaufhaus herauskam! Ich hatte die Idee! Ich ging zur Kasse, stellte mich an und fragte schließlich die Kassierin, ob sie mir erklären könne, wie ich wieder nach draußen käme.
„Was möchten Sie denn kaufen?“
„Nichts“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich will nur wieder raus.“
„Das tut mir leid. Wenn Sie nichts kaufen wollen, kann ich Ihnen keine Auskunft erteilen.“
Ich schäumte vor Wut, nahm einen Schlüsselanhänger vom Tresen und sagte: „Den hier kaufe ich.“
„Das macht dann vierzehn Euro, bitte.“ Ich bezahlte. „Können Sie mir jetzt sagen, wie ich nach draußen komme?“, fragte ich erneut, vom überhöhten Preis weiter erzürnt.
„Das würde ich gerne, aber ich weiß es leider auch nicht. Ich arbeite erst seit drei Tagen hier. Wir werden kurz nach Feierabend immer hier abgeholt und nach draußen gebracht. Alleine finde ich den Weg nicht.“
Ich fragte, wann sie Feierabend habe. Um acht. Noch eine Stunde. So lange wollte ich nicht warten, also versuchte ich erneut den Weg auf eigene Faust zu finden. Ich rannte mittlerweile durch die Gänge, fast fieberhaft flitzte ich vorbei an Töpfen, Pfannen, Socken, Anzügen, Hemden, Stringtangas, Kinderbüchern und Lebensmittel. Ständig hatte ich ein Déjà vu. Hier war ich doch schon mal. Und hier doch auch! Oder etwa doch nicht? Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand und mir war übel vom vielen Imkreislaufen.
Ich suchte weiter, doch den Ausgang fand ich nicht.
Auf meiner Suche vergaß ich die Zeit. Ich blickte auf meine Uhr und bemerkte, dass es bereits halb neun war. Als ich mich umschaute, sah ich keinen anderen Kunden mehr. Scheiße. Ladenschluss, dachte ich und rannte Richtung Kasse, selbstverständlich gelotst durch die Pfeile. Dort war keiner mehr. Ich fühlte mich verloren. Im selben Moment ging das Licht aus und ich begann zu weinen. Hilf- und orientierungslos müsste ich hier die Nacht alleine verbringen. Und was würde meine Freundin sagen, wenn ich nicht rechtzeitig um Mitternacht zu ihrem Geburtstag zu Hause wäre? Ich schluchzte weiter vor mich hin, als ich eine Stimme hörte:
„Hallo“, sagte sie. „Nicht traurig sein.“
Im selben Moment knipste die Stimme eine Taschenlampe an.
„Wer sind Sie? Sind sie vom Personal?“
„Nein, nein, ich heiße Franz und lebe hier.“
„Wie? Sie leben hier?“
„Schon seit zwei Jahren.“
„Interessant. Können Sie mich hier raus bringen? Meine Freundin hat morgen Geburtstag.“
„Das würde ich gerne, aber die Türen sind schon verschlossen. Sie müssen wohl oder übel bis morgen früh hier bleiben. Kommen Sie mit und seien Sie mein Gast.“
Was blieb mir anderes übrig? Schweigend trottete ich hinter Franz her. Dem Anschein nach willkürlich bog er ab, und doch ließen seine Bewegungen eine gewisse Vertrautheit erahnen.
„So, da sind wir“, sagte er und schob ein schwarzes Tuch zur Seite. Dahinter befand sich ein komplett möbliertes Zimmer. Sehr stilvoll, wie ich fand. Am Tisch saßen vier Männer und pokerten. In einer Sitzecke drei Frauen, die Kaffee tranken und plauderten. Auf dem Boden spielten Kinder mit Puppen. Franz ging mit mir durch das Zimmer, öffnete eine Tür, hinter der sich ein weiterer Raum befand. Eine kleine Bar, die sehr gut besucht war. Ich schätzte, circa dreißig Personen.
Franz stellte mich einigen vor. Alle hatte dasselbe Schicksal wie mich ereilt. Sie hatten die Zeit vergessen oder waren zu stolz, um nach dem Weg zu fragen. Keiner von ihnen war rechtzeitig an der Kasse gewesen, um nach draußen begleitet zu werden.
Fritz, einer meiner Gesprächspartner, war sehr weinerlich, da er schon seit heute Morgen um zehn im Kaufhaus war und seine Freundin verloren hatte. Ich beruhigte ihn, sagte, dass alles gut werden würde. „Sie hat es schon nach draußen geschafft, Fritz.“
Doch er ließ sich nicht so leicht beruhigen.
„Was, wenn sie verhungert? Oder, wenn sie da draußen vergewaltigt wird?“
„Fritz, mach mal halblang. Wenn sie noch hier wäre, hätte Franz sie schon gefunden, und so schnell verhungert man auch nicht.“
Das Argument ließ Fritz gelten und lud mich an die Bar ein. Franz gesellte sich zu uns.
Ich fragte ihn, wie er denn auf die Idee gekommen sei, in einem Kaufhaus zu wohnen.
„Das war so“, begann er. „Vor fast genau zwei Jahren, haben sie hier alles umgebaut. Neue Absatzpolitik: „No way out“. Die Kundschaft sollte das Maximum an Waren sehen, bevor sie das Kaufhaus wieder verließen. So würde jeder schon irgendwas kaufen. Das war ihre Theorie. Am ersten Tag des neuen Konzepts bin ich dann mit meiner Frau einkaufen gegangen. Nach einer Weile hatte ich sie verloren. Sie müssen wissen, dass wir für solche Fälle immer einen Treffpunkt ausgemacht hatten. Doch dieser befand sich außerhalb des Kaufhauses. Vergeblich suchte ich nach dem Ausgang. Die Verkäuferinnen konnten mir auch nicht helfen, da das Konzept auch für sie noch neu und verwirrend war. Ich sollte mich um acht an einer Kasse einfinden, dann würde ich nach draußen geleitet. Bis dahin lief ich umher, versuchte meine Frau zu finden. Immerhin war es ja sehr wahrscheinlich, dass auch sie den Ausgang nicht gefunden hatte. Nach einigen Stunden war ich dann ziemlich erschöpft und muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, waren die Lichter im Kaufhaus bereits ausgegangen.“
„Fast wie bei mir“, sagte ich. Franz nickte nur stumm und fuhr fort.
„Zum Glück war ich unter dem Regal mit Taschenlampen eingeschlafen. Ich nahm mir eine und ging durch die Gänge immer noch auf der Suche nach dem Ausgang. Irgendwann gab ich auf. Es hatte keinen Sinn.
Langsam bekam ich Hunger und ging deshalb in den Supermarkt. Danach versuchte ich die Möbelabteilung zu finden, um in einem der Betten zu schlafen. Dafür brauchte ich sehr lange und als ich schließlich dort ankam, waren drei Betten bereits besetzt. Ich weckte einen der drei schlafenden Herren und fragte ihn, ob er wüsste, wie man hier rauskomme. Er wusste es auch nicht. Doch wir unterhielten uns noch eine ganze Weile. Er besorgte uns Whiskey und es wurde noch ein lustiger Abend. Irgendwann hatte er die Schnapsidee, man könnte sich das neue Konzept des Kaufhauses zu Nutze machen, die Betten vermieten oder dergleichen. Ich fand die Idee nicht schlecht und wir beschlossen, uns den Tag darauf wieder hier zu treffen. Und so geschah es. Einen Tag später saßen wir wieder auf den Betten. Schon vor unserem zweiten Treffen war ich zahlreichen Menschen begegnet, die auch den Ausgang nicht gefunden hatten. Wir erkannten das enorme Potenzial. Die Woche danach suchten wir nach geeigneten Räumlichkeiten, schließlich sollte der Kaufhausbetreiber nichts von unserer Aktion mitbekommen. Nach einer Woche eröffneten wir dann hier eine kleine Bar. Seitdem ist unser Unternehmen stetig gewachsen. Wir haben hier noch eine Disco, einen Swingerclub, ein Kino, ein Theater und ein kleines Opernhaus, sowie verschiedene Restaurants eröffnet. Auch in anderen Kaufhäusern sind wir mittlerweile vertreten und unser Unternehmen wird nächsten Monat an die Börse gehen.“
„Das ist ja unglaublich“, sagte ich.
„Ach, warum denn“, antwortete er weltmännisch. „Ich würde eher sagen: notwendig. Aber es tut mir leid, ich muss Sie jetzt leider wieder verlassen und mich um die Geschäfte kümmern. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
Wir dankten ihm und stürzten uns ins pralle Kaufhausnachtleben. Im dortigen Kaufhaus erstand ich die Uhr für meine Freundin. Damit wollte ich sie am nächsten Morgen überraschen.
Schnell hatte ich noch weitere Dinge gekauft: Ein Aquarium, Fische, eine Katze, eine neue Stereoanlage und einen Einkaufswagen voll mit CDs. Hier war einkaufen ganz anders. Es machte sogar Spaß, doch leider war nach diesen Dingen der Dispo meines Girokontos schon komplett ausgeschöpft.
Allerdings war auch das kein großes Problem. Gesichert durch die Verpfändung meines Autos, gab mir die Bank, die selbstverständlich auch nachts geöffnet hatte, einen Kredit und ich konnte weiter meiner Lust frönen. Fritz und ich kauften alles, was wir uns schon immer gewünscht hatten. Oder auch nicht. Das war nicht so wichtig. Wir amüsierten uns prächtig.
Nach unserem Einkaufsbummel gingen wir ins Theater und schauten uns „Die Räuber“ an. Danach ins Casino, in dem wir unser restliches Geld verzockten. Die Kaufhausstadt erinnerte mich an Las Vegas. Nur größer.
Als wir um sechs Uhr früh schlafen gehen wollten, brachte man uns ins Hotel. Am nächsten Morgen - oder besser gesagt am nächsten Abend - wurden wir geweckt. Wir gingen in die Bar zu einem kleinen Frühstücksumtrunk. Anschließend begann dasselbe Spielchen erneut. Doch zuvor ging ich zum ansässigen Notar, ließ eine Grundschuld auf mein Haus eintragen. Die Bank gab mir einen weiteren Kredit und zahlte mir den Betrag bar aus. Es wurde ebenfalls ein grandioser Tag. Fritz und ich kamen wieder erst spät abends ins Bett, doch schon wenige Minuten später wurde ich durch das Piepen meines Handys geweckt. Eine SMS meiner Freundin:
„Hallo, brauchst dich nicht um ein Geschenk für meinen B-day zu kümmern. Feiern tu ich auch nicht. Leb jetzt im Kaufhaus. Geht mir sehr gut hier und ich hab alles, was ich brauch. Werde hier bleiben. Leb wohl.“
Komischerweise war ich weder traurig noch enttäuscht über ihre SMS, eher erleichtert, dass ich nun auch hier bleiben konnte. Ich antwortete ihr:
„Kein Problem. Versteh ich sehr gut. Werde selbst im Kaufhaus bleiben. Wusste nur nicht wie ich es dir sagen soll. Ein schönes Leben noch.“