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Katzenjammer
»Weißt du, was ich glaube, Maurice? Ich glaube, du hast das Leben nicht verstanden.«
François war betrunken, und immer, wenn er betrunken war, konnte er das Universum durchschauen. »Wann hast du das letzte Mal deine Mutter besucht? Sag mal! Drucks mal nicht rum, wenigstens dieses eine Mal nicht, antworte ganz ehrlich! Wenn du's sagst, lass ich dich in Ruhe!«
»Vorgestern, François. Aber das geht dich eigentlich gar nichts an.«
»Vorgestern, hm. Und hast du sie da mal in den Arm genommen? Hast du ihr da mal gesagt, Mama, ich liebe dich, ich bin froh, dass es dich gibt, danke für alles, danke, dass du mich zur Welt gebracht hast?«
»Nein. Das ist doch auch Blödsinn jetzt, wer macht das denn bitte jedes Mal, wenn er seine Mutter besucht?«
»Spielt doch keine Rolle, Mann! Manchmal bist du echt dumm, weißt du das? Vielleicht stellst du dich nur dumm, keine Ahnung, aber es nervt! Als würde man sich mit einem Affen unterhalten!«
»Vielleicht hältst du jetzt lieber den Mund.«
»Hm!«
Als die beiden Männer an einem Supermarkt vorbeikamen, brach Maurice als erster das Schweigen.
»Ich hol mir Zigaretten. Willst du was?«
»Wein. Den guten.«
»Verschwendung«, murmelte Maurice und trat durch die Schiebetür.
Das Warten machte François mürbe. Die Nacht war viel zu heiß, seit Tagen hatte eine Hitzewelle Paris im Schwitzkasten und wollte nicht lockerlassen. François kickte Kieselsteine gegen parkende Autos und fauchte eine Katze an, die vor dem Eingang herumstreunerte. Er musste an die Katze seiner Mutter denken, Luna. Immer war sie auf seinem Stuhl gelegen und leckte ihr blödes Fell sauber, und seine Mutter hatte ihm verboten, sie zu verscheuchen. Wenn er alleine zuhause war, jagte er sie manchmal fauchend durch die ganze Wohnung, und wenn seine Mutter dann heimkam und ihm einen Kuss auf die Stirn gab, hätte er am liebsten losgeheult, so schlecht fühlte er sich.
Nach einer Weile schoben sich die Türflügel wieder zur Seite und Maurice kam aus dem grellen Supermarktlicht über den Parkplatz gelaufen. Mit den Zähnen riss er das Zellophan von der Schachtel und steckte sich eine Zigarette an, seinem Freund hielt er eine Weinflasche hin.
»Hier.«
»Sag mal«, begann François, als er die Flasche entgegennahm, »was hast du eigentlich Tolles erreicht, dass du dich so groß fühlst? Hab ich da was verpasst? Wir haben den gleichen beschissenen Job, haben beide keine Freundin. Wenn wir ehrlich sind, sind wir beide verloren. Wir könnten tot umfallen und kein Hahn würde nach uns krähen, unsere Stellen hätte man schnell neu besetzt, unsere Wohnungen wären schon morgen an jemand anderen vermietet. Was macht es denn für einen Unterschied, ob wir leben oder tot sind? Und was gibt dir das Recht, dich so aufzuführen? Sag mir das mal!«
»Ist gut jetzt. Trink deinen Wein.«
»Ist gut jetzt, ist gut jetzt, mehr weißt du auch nicht zu sagen, was? Immer das gleiche mit dir. Dumm! Du bist dumm!«
»Ja, ja. Komm.«
Widerwillig trottete François hinter Maurice her, leise murmelte er Flüche vor sich hin, schimpfte auf seinen Freund und den Rauch, den er hinter sich her zog. Vor allem aber schimpfte er auf das Universum, das er mit jedem Schluck Wein deutlicher durchschaute und das ihm immer hässlicher erschien.
Als die Flasche leer war, vergrub François seine Hände in den Hosentaschen, nur kurz, schon wurde ihm der Platz dort zu eng, schon sausten sie als geballte Fäuste durch die drückende Nachtluft und nahmen es mit einem unsichtbaren Gegner auf. Er war angefixt, die Schläge präzise und hart. Und doch waren sie sinnlos. Ein Aufbäumen gegen ein großes, schwarzes Nichts, das sich nicht besiegen ließ. Wie die Hitze, die über der Stadt hing.
Es war bereits spät in der Nacht, als sie den Parc du Champ de Mars erreichten. Für Pariser Verhältnisse war es hier beinahe ruhig, nur ein paar Verliebte gingen spazieren und kosteten die wenigen Stunden aus, in denen man nicht an allen Ecken von aufdringlichen Souvenirverkäufern belästigt wurde. Der Eiffelturm war gesperrt, doch das hinderte François nicht daran, langsam die Streben hinaufzusteigen.
»Was machst du denn, komm da runter, Mann!«
»Halt den Mund! Dummkopf!«
Je mehr er von der Stadt zu sehen bekam, desto lebendiger fühlte er sich. Plötzlich war er wieder Kind und kletterte den Sprungturm im Freibad hinauf, er spürte den Wind, der seine nasse Haut streifte, spürte das Gummiband der Taucherbrille, das sich um seinen Kopf spannte, das harte, geriffelte Metall der Leiter, das sich in seine kleinen, chlordurchweichten Füße drückte. Von hier oben konnte er die ganze Welt überblicken. Und ganz da unten, klein wie eine Ameise, sah er seine Mama, sah sie mit ihrer Sonnenbrille und dem breitkrempigen Hut, der sie aussehen ließ wie ein amerikanischer Filmstar. Und er war stolz. Stolz darauf, die schönste und beste Mama von allen zu haben, nur für sie wollte er springen, sie sollte sehen, wie stark er war, wie mutig und furchtlos.
Plötzlich wurde François schwindelig. Von unten rief Maurice. »Komm schon, mach keinen Blödsinn, Mann! Komm da runter!«
Er würde es nie bis zur Spitze schaffen. Er war nicht mehr der Junge in der giftgrünen Badehose, er war betrunken und verloren, all das wurde ihm in diesem Moment auf schmerzliche Weise bewusst. Langsam, so behutsam wie möglich, machte er sich an den Abstieg.
»Und? Fühlst du dich jetzt besser?«
»Sei ruhig. Bitte sei einfach ruhig.«
»Komm. Wir verpassen den Bus.«
Sechs Stationen fährt man vom Champ de Mars bis zur Avenue Victor-Hugo, von dort aus noch mal sieben mit der Metro bis zum Boulevard de Clichy. François und Maurice redeten kein Wort auf der Fahrt. François war sauer, er starrte aus dem Fenster und versuchte, seinem Blick, der sich in der Scheibe spiegelte, auszuweichen. Er schämte sich. Er blendete nicht nur sich selbst aus, sondern auch das Treiben um ihn herum, er konnte es nicht ertragen. Das Gerumpel der Räder auf den Schienen, die ein- und aussteigenden Fahrgäste, die Durchsagen, ding-dong, ding-dong. Erst als sie den Boulevard erreicht hatten, tippte Maurice ihn vorsichtig an und holte ihn zurück in die Realität.
Vom Boulevard war es nur ein kurzer Fußmarsch bis zum Nordfriedhof, dem Cimetière de Montmartre. Dort, zwischen prächtigen Ahorn- und Kastanienbäumen und großen Persönlichkeiten wie Stendhal, ruhte Émilie Morel.
»Sie hat Geburtstag heute.«
»Ja, das hast du gesagt. Ich lass euch alleine. Lass dir Zeit, François.«
François war müde. Der Weg durch die Nacht und die Hitze hatten an seinen Kräften gezehrt, der Wein tat sein übriges. Wie in Trance richtete er die Blumen her, zupfte Unkraut und strich die Erde glatt, wieder und wieder las er die Inschrift auf dem Grabstein, ohne die Worte und Zahlen wirklich zu verstehen.
Einer der Gründe, warum Émilie Morel hier bestattet werden wollte, waren die Katzen. Dutzende von ihnen hatten auf dem Friedhof ein Zuhause gefunden. Eine von ihnen streifte François' Hosenbein, als er sich gerade auf den Rückweg machen wollte. Immer wieder glitt sie durch seine Beine, schmiegte sich an die Knöchel. Und diesmal fauchte François nicht.
»Hallo, Luna.« Er beugte sich zu der Katze herunter und streichelte sie hinter den Ohren. Die Streunerin ließ es sich gerne gefallen, sie schnurrte und schloss sanft ihre Augen, und endlich ließ François seinen Tränen freien Lauf, endlich brach es aus ihm heraus, endlich gestand er sich ein, dass er nicht dagegen ankämpfen musste, dass er niemandem etwas beweisen musste, weder Maurice, noch seiner Mutter. Nicht dem Universum. Vor allem nicht sich selbst.
Maurice saß auf einer Bank, im Schatten einer Kastanie, und rauchte. Mittlerweile war es Morgen geworden. In den Bäumen zwitscherten Vögel, die Sonne brach durchs Geäst und verlieh dem aufsteigenden Zigarettenrauch einen Hauch von Magie.
Langsam kam François auf ihn zu. Er lächelte. Maurice lächelte zurück.
»Alles gut?«
»Ja. Danke, dass du mitgekommen bist.«
»Immer wieder, François. Komm. Lass uns heimfahren.«
Gemeinsam gingen die beiden Freunde unter den Alleen des Nordfriedhofs entlang, und kaum waren sie aus dem quietschenden Metalltor auf die Straße getreten, hatte das Pariser Stadtleben sie wieder verschluckt.