Bzz, bzz, bzz. Bzz, bzz, bzz. Das ganze Kopfkissen und ihr Kopf beben. "Nein, bitte noch nicht …" Kathrin schließt noch mal kurz ihre Augen. Wenn, nach vier Minuten schlummern, ihr Kopfkissen und ihr Kopf erneut stark beben, ergibt sie sich in das Unvermeidliche und steht langsam auf. Sie zieht ihren Wecker unter ihrem Kopfkissen heraus und stellt ihn ab.
Katze Mauzi springt aufs Bett und Kathrin sieht, dass Mauzi miaut. "Ich bin gleich bei dir Mauzi, aber ich muss erst mal ins Badezimmer", sagt sie.
Nach Dusche und Gesichtspflege zieht sie sich an. Ganz zum Schluss ihres morgendlichen Rituals öffnet sie die Trockenbox ihrer Hörgeräte und steckt sie in ihre Ohren. Die Hörgeräte sind noch ein bisschen warm von der Nacht in der Trockenbox, ein gutes Zeichen. Erst dann fühlt sie sich komplett und bereit, den Tag anzugehen.
Mauzi miaut ihr in der Küche schon vorwurfsvoll zu. Ihr Futternapf ist ganz leer. "Na, verhungern wirst du wohl nicht, gell?", spricht Kathrin Mauzi zu und streichelt die Katze liebevoll, ehe sie den Futternapf wieder auffüllt.
Für sich selbst macht sie ein Frühstück und einen Kaffee, um weiter wach zu werden. Als Kathrin nach ihrem Frühstück auf ihr Handy schaut, sieht sie, dass jemand versucht hat, sie anzurufen. Leider sieht sie nur eine Nummer und keinen Name. Kein Bekannter also. Die würden sie aber auch nicht anrufen, sondern eine App schicken, weil sie wissen, dass sie nur selten und ungern telefoniert, trotz ihrer neuen Hörgeräte mit eingebautem Bluetooth. Gekoppelt mit ihrem Handy kommen Stimmen und Töne jetzt direkt in’s Hörgerät und das macht das Telefonieren schon besser und entspannter. Aber sie ruft immer noch nicht gern an, nur wenn es nicht anders geht. Warum gibt es sonst Apps und E-Mail?
Kathrin entscheidet sich, den Anruf zu ignorieren, und steckt ihr Handy in ihre Tasche.
In Gedanken versunken, packt sie die Tasche weiter ein. Das meiste hat sie schon am Vorabend eingepackt, es sind nur noch die letzten Sachen wie ihr Handy und ihre Schlüssel. Die Schlüssel steckt sie besonders gut weg, denn sie hat sie schon einmal verloren, ohne zu hören, dass sie aus der Manteltasche auf den Boden gefallen sind.
Mauzi meint inzwischen, sie solle auch eingepackt werden und mitkommen, und versucht in ihre Tasche zu klettern. Lachend packt sie Mauzi wieder aus ihrer Tasche. "Nein Mauzi, heute kannst du nicht mitkommen, Frauchen muss zur Arbeit. Heute Abend bin ich wieder für dich da, versprochen!" Beleidigt geht Mauzi auf ihren Kratzbaum zu und zeigt, was sie von Kathrins Worten hält. Manchmal schleicht sich Mauzi in einen Schrank oder ein Zimmer ein und fängt dann nach einer Weile laut an zu miauen, weil sie wieder raus will. Leider hört sie das nicht immer und dann muss Mauzi warten, bis sie auf die Suche geht und Mauzi in ihrem Versteck findet. Deshalb kontrolliert sie immer, wo Mauzi ist, bevor sie ihr Haus verlässt.
"Sorry Mauzi, hab einen schönen Tag und bis heute Abend", verabschiedet sie sich und geht hinaus.
Am Bahnhof sieht Kathrin, dass ihr Zug Verspätung hat. Schon wieder versteht sie die Durchsage nicht. Sie prüft die App auf ihrem Handy und liest, dass ihr Zug etwa zehn Minuten Verspätung hat. Gut, dass sie in der heutigen Zeit der Handys und Apps lebt, findet sie. Früher wäre man als Hörbeeinträchtigter so abhängig gewesen!
Neben ihr steht eine Frau mit halblangem Haar, schmalen Jeans und einem schönen Wollmantel. "Entschuldigen Sie, können Sie mir bitte sagen, was gerade durchgesagt wurde?", fragt Kathrin die Frau. "Leider nicht, solche Durchsagen sind meist unverständlich, vor allem, wenn gerade ein Zug einfährt", sagt die Frau. "Ja, ich glaube, Sie haben Recht. Ich bin schwerhörig und denke meistens, dass nur ich ein Problem damit habe", sagt Kathrin zu ihr. "Das glaube ich nicht", meint die Frau und lächelt ihr freundlich an. "Sie sehen nicht schwerhörig aus", sagt die Frau und mustert sie kritisch. Gerade noch rechtzeitig stoppt Kathrin ihre Gegenfrage: "Wie sollte ein Schwerhöriger aussehen?", schiebt aber ein paar Haare zur Seite und zeigt einfach nur auf ihre Hörgeräte. Die Frau nickt, als ob sie verstehen würde.
Dank der Apps, ihrer Hilfsmittel und der neuen Hörgeräte hat Kathrin in letzter Zeit tatsächlich weniger Probleme als früher. Nur wenn sie in ein Restaurant oder eine Bar geht, ist es zu laut, um etwas zu verstehen. Obwohl sie gut von den Lippen ablesen kann, ist es wegen der Hintergrundgeräusche oft schwierig, Gesprächen zu folgen. Auch wenn sie die anderen immer wieder daran erinnert, die Stimmung, die Umgebung und meist auch der Alkohol lassen sie vergessen, langsam und deutlich mit ihr zu sprechen.
"Hey Kathrin, kommst du mit aufs Klo?", fragt eine Freundin Kathrin. "Ja, klar", sagt sie und steht schon auf. Alle am Tisch schauen sie fragend an. "Was ist los?", fragt sie ihre Freundin, "Du wolltest doch aufs Klo, oder?" Jetzt fangen alle an, laut zu lachen. "Nein, ganz und gar nicht! Ich habe gefragt, ob du mit in den Zoo kommst", sagt ihre Freundin und lacht immer noch. Sie lacht herzhaft mit.
Aber ab und zu hat sie auch keine Lust, sich so sehr um Verständnis zu bemühen, sitzt sie lieber einfach nur da und schaut sich ihre Umgebung an. Sie hatte so ein Abend vor zwei Wochen. Ihre Freundin fragte sie: Warum bist du so still und ungesellig? In solchen Momenten wünscht sie sich einfach, sie wäre zu Hause auf der Couch, eingekuschelt mit Mauzi.
In der Regel ist die Stimmung jedoch gut und versteht sie sich mit einigen Tischnachbarn in Einzelgesprächen gut, manchmal auch mit Händen und Füßen.
Unter der Woche kosten solche Dinge sie viel zu viel Energie, aber am Wochenende gönnt sie sich ab und zu einen solchen Ausflug. Am nächsten Morgen kann sie ausschlafen und vereinsamen will sie auf gar keinen Fall!
Endlich kommt ihr Zug. Sie ist froh, schon einen Zug früher genommen zu haben. Jetzt muss sie sich nicht stressen.
Ihr Tag im Büro ist wie immer anstrengend, aber befriedigend. Den Termin mit einem ihrer Kunden hat sie dank ihres Hörgeräts und ihrer Vorbereitung gut hinbekommen. Das Mikrofon, das über Bluetooth mit ihren Hörgeräten gekoppelt ist, hilft ihr tatsächlich, ihr Gegenüber besser zu verstehen.
Im Übrigen hat sie für den heutigen Tag hauptsächlich administrative Aufgaben geplant, damit sie noch in relativer Ruhe arbeiten kann. Ihre Kollegen wissen, dass sie maximal ein bis zwei Termine pro Tag wahrnehmen kann, und das respektieren sie. Trotzdem spürt sie, dass ab und zu über sie geredet wird, wenn ihre Kollegen miteinander reden und manchmal in ihre Richtung schauen.
Sie ist, wie so oft, so sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie es nicht bemerkt, wenn die anderen zum Mittagessen gehen. Heute hat Sabine, ihre Freundin, vergessen, ihr zu sagen, wann die Kollegen zum Mittagessen gehen, und Kathrin bemerkt zu spät, dass alle gegangen sind.
Sie geht nun alleine in die Kantine. Als sie die Gruppe dort am Tisch sitzen sieht, fröhlich diskutierend, sinkt ihr der Mut in die Schuhe. Aber Sabine hat sie schon gesehen und winkt ihr zu. "Sorry Kathrin, ich hätte dich warnen müssen", sagt Sabine. Kathrin kämpft damit, die aufsteigende Träne zu unterdrücken. Zum Glück haben weder Sabine noch die anderen etwas bemerkt. Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, ermahnt sie sich und setzt sich zu den anderen an den Tisch. Morgen fragt sie Sabine einfach selbst nach der Mittagspausenzeit, und sie bemüht sich, mitzumachen.
Am Nachmittag wird sie durch das Klingeln ihres Telefons aufgeschreckt. Mit Herzklopfen nimmt sie ab. "Kathrin Beecke hier. Können Sie bitte ruhig und deutlich sprechen, denn ich bin schwerhörig und habe sonst Schwierigkeiten, Sie zu verstehen", beginnt sie das Gespräch. "Herr K**** hier, ich hätte gerne einige Informationen über M*****." "Könnten Sie bitte Ihren Namen wiederholen, ich habe ihn nicht richtig verstanden", fragt sie höflich. "Herr Knoblauch hier", wiederholt der Anrufer, schon etwas irritiert. "Sagten Sie, Herr Knoblauch, habe ich recht?", fragt sie zur Sicherheit noch mal nach. "Du verarschst mich doch, oder?" Der Ton im Apparat ist schon gereizter. "Nein, im Gegenteil, ich möchte nur Ihren Namen richtig verstehen", sagt sagt, immer noch geduldig. "Mein Name ist Klosbauer", schreit der Anrufer jetzt fast ins Telefon. Als ob das Schreien ihn besser verstehen ließe …. Im Gegenteil, Schreien macht das Verstehen eher schlechter, aber das wissen die meisten Normalhörenden nicht. "Nun, danke für Ihre Geduld, Herr Klosbauer", antwortet sie gelassen. "Über wen wollen Sie Informationen? Und darf ich Sie nochmals bitten, ruhig, nicht zu laut und deutlich zu sprechen." Plötzlich hört sie ein "tut tut" und Herr Klosbauer hat bereits aufgelegt.
Jetzt weiß sie wieder genau, warum sie nicht gern telefoniert! Sie spürt, wie sich die Muskeln in ihrem Nacken und ihren Schultern anspannt haben und ihr Kopf schwer geworden ist.
Sie versteht zwar, dass normal hörende Menschen nicht immer wissen, wie sie mit hörbeeinträchtigten Menschen umgehen sollen, und so nimmt sie es auch nicht übel, aber nach solchen Unverschämtheiten fühlt sie sich hilflos und erniedrigt.
Kämpferisch, wie sie jedoch ist, will sie trotzdem positiv bleiben und versucht, das Telefonat mit Herrn Klosbauer für den Rest des Nachmittags zu vergessen, was ihr nicht ganz gelingt.
Sie kann bekannte Stimmen nun mal besser verstehen als unbekannte. So wie sie zum Beispiel mit Sabine oder ihrer Mutter spricht, könnte sie nicht mit völlig Fremden reden. Leider wird das oft nicht verstanden, genauso wie sie sich bei jeder neuer Bekanntschaft an Stimme und Mimik gewöhnen muss.
Weil sie erst später im Leben schwerhörig wurde, hat ihre Aussprache eine Intonation und ihre Stimme klingt nicht so monoton, wie es bei Menschen, die von Geburt an gehörlos sind, oft der Fall ist, aber das macht auch ihre Einschränkung für die Außenwelt fast unsichtbar.
Aber es ist, wie es ist, und sie hat gelernt, damit umzugehen. Sie fühlt sich nicht behindert, weil eine Behinderung für sie eine negative Bedeutung hat, aber manchmal stößt sie an ihre Grenzen.
Ich habe eine Hörbehinderung, aber ich bin viel mehr als das, denkt Kathrin und versucht, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Am Ende des Tages will Kathrin nur noch nach Hause, zu Mauzi und ihrem Abendessen.
Mauzi begrüßt sie mit lautem Miauen, als ob sie ihr Frauchen vermisst hätte. "Ja, ja, du hast bestimmt fast den ganzen Tag geschlafen, ich beneide dich", begrüßt sie ihre Katze. "Oh, dein Napf ist schon leer gegessen! Ehrlich ist ehrlich: ich mein Abendessen, du dein Futter." Sie füllt Mauzis Napf zuerst, weil sie weiß, dass Mauzi dann nicht mehr um ihr Essen betteln wird. Da sie gestern für zwei Tage gekocht hat, muss sie ihr eigenes Essen nur noch aufwärmen.
Weil sie einmal eine gute Pfanne ruiniert hat - sie war "nur" ins Wohnzimmer gegangen und hatte den Kochwecker vergessen - bleibt sie jetzt beim Kochen in der Küche. Sie nutzt die Wartezeit oft, um mit Mauzi zu spielen, der ihr gerne in der Küche Gesellschaft leistet, und beide betrachten dies nun als eine Win-Win-Situation.
Sie hat gerade fertig gegessen, als ihre Mutter anruft. "Hallo Kathrin, wie geht es dir?", fragt ihre Mutter. "Mir geht's gut, danke, Mama. Wie geht's euch?" Sie plaudern noch ein wenig weiter und sie ist immer noch überrascht, wie gut sie ihre Mutter am Handy verstehen kann. Ihre Gedanken gehen zurück zu dem unhöflichen Herrn Klosbauer vom Nachmittag, der einfach aufgelegt hat.
Um sich ein wenig von diesen Gedanken abzulenken, schaut sie noch eine Weile fern, zusammen mit Mauzi auf ihrem Schoß. Dann schiebt sie die Katze auf die Couch und steht auf.
"Ein letztes Mal Mauzi", ruft sie die Katze, und Mauzi lässt sich nicht lange bitten.
Als sie endlich ins Bett geht, stellt sie ihren vibrierenden Wecker und legt ihn unter ihr Kopfkissen, damit sie morgen aufwacht.
Neuer Tag, neue Chancen, denkt Kathrin und schläft ein.