Kathedrale des verschwendeten Fleisches
Kapitel 1
Mitten in der Wüste stand eine Schlange aus Menschen. Gelbes Ödland erstreckte sich meilenweit um sie herum, ohne einen Baum, oder einen Berg in Sicht. Die einzige Spur von Leben war etwas ausgeblichenes Gras, das in dürren Büscheln in der Weite verstreut wuchs. Die Schlange zog sich endlos durch das Nichts. Ihr Anfang und ihre Ende lagen im Nirgendwo hinter dem Horizont. Mit hängenden Köpfen standen die Gestalten im Staub und warteten, während die Sonne auf sie niederbrannte. Sie wirkten krank und schwach; manche husteten schwer, andere zitterten trotz der Hitze. Ihre Körper waren völlig und allumfassend kahl geschoren: Haare, Augenbrauen, Wimpern, Scham – bis auf die grauen Kutten, die sie trugen, waren sie nackt.
Dumpfer Schmerz pochte durch Dereks Glieder. Sein Fleisch und seine Muskeln fühlten sich ekelhaft wund an, als wäre er gerade aus einem Fleischwolf gekrochen. Unter seinen Zehen prickelte der Wüstenboden, doch trotzdem fror er, von innen. Er öffnete die Augen, blinzelte benommen in die Sonne und zuckte sofort vor Schmerz zusammen. Das helle Licht stach Messer durch seinen Kopf. Schnell blickte er zu Boden, in den kühlen Schatten unter ihm. Da bemerkte er den grauen Fetzen, der von seinen Schultern hing, ein schmutziger Putzlappen, an den Rändern halb zerrissen. Wo hatte er den her?
Er konnte sich nicht erinnern. Wie in Trance glotzte er auf seine Hände, die so frisch und feucht glänzten, als kämen sie gerade aus dem Kühlregal. Feucht, hier in der Wüste? Wo befand er sich hier? Was machten sie hier? Wohin führte die Schlange? Was hatte er vorher gemacht? Es fiel ihm nicht ein. Hinter seiner Stirn, da wo seine Erinnerung sein sollte, klebte eine schwarze Leere.
Als er sich an die Helligkeit gewöhnte, wagte er ein paar vorsichtige Blicke nach links und rechts. Vergeblich suchte er nach etwas Greifbarem in der Einöde, einem Punkt am Horizont, der ihm verriet wo er sich befand, etwas um sich zu orientieren. Doch er fand nichts. Nur Meile um Meile Staub und Dreck und der dünne Strich, wo der braune Sand den blauen Himmel traf.
Lediglich ein paar schwarze Flecken erkannte er in der Ferne. Mit der Hand über der Stirn schaute er genauer hin: Hunde, ein ganzes Rudel. Gelangweilt trotteten sie durch die Wüste und schienen wie die kranken Gestalten in der Menschenschlange darauf zu warten, dass sich etwas bewegte. Es waren große, brutale Tiere. Ihr kurzes Fell glänzte wie frischer Teer und aus ihren Kiefern ragten Zähne gemacht um damit Knochen zu zermahlen. Etwas an der Art, wie sie den Zug beobachteten und bei jedem Husten die Ohren spitzten, sandte einen Schauer über seinen Rücken.
Die Frau, die vor Derek stand, stöhnte auf. Ihre dünnen Beine zitterten, sie hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Knochen ragten unter ihrer Haut hervor, schwarze Pusteln wucherten auf ihrem Schädel. In einem heftigen Hustenanfall fiel sie zu Boden, wo sie keuchend liegen blieb.
Der Mann vor ihr versuchte ihr zu helfen. Er packte sie an den Armen und zog sie hoch, aber ihre Beine knickten gleich wieder ein; sie fiel wie ein Skelett in sich zusammen. Der Mann sah zu ihm rüber, doch Derek stand nur regungslos da und und schielte auf die Hunde. Das Rudel spitzte die Ohren. Langsam erhoben sie sich, schüttelten den Staub aus dem Fell und beobachteten aufmerksam das Geschehen.
Ein Anfall nach dem anderen durchzuckte die Frau; der Husten hielt sie umklammert. Blind krallte sie durch die vertrocknete Erde, auf der Suche nach Halt, etwas Festem, und bekam Dereks Fuß zu fassen. Er schreckte zurück, zog sein Bein von ihr weg und schaute wieder zu den Hunden. Mittlerweile waren sie aufgestanden und kamen mit gesenkten Köpfen langsam näher.
Der andere Mann sie nun auch gesehen. Er ließ die Frau los, drehte sich zurück in die Reihe und tat so gut er konnte, als sei nichts passiert. Ihr dürrer Körper krümmte sich zu Dereks Füßen. "Bitte", bettelte sie heiser, "hilf mir, ich kann nicht...", aber der Husten schnitt ihr das Wort an. Derek riss seinen Fuß endgültig aus ihrem Griff und machte zwei Schritte zurück. Er hörte die Hunde knurren. Mit gefletschten Zähnen und angelegten Ohren, kreisten sie die Frau ein, wie einen verwundeten Vogel. Geiler Speichel tropfte von ihren Lefzen. "Bitte", jammerte die Frau, "ich kann..." - doch zu spät. Die Hunde stürzten sich auf sie, versenkten ihre Zähne in den Hals, ihre Armen, und rissen das Fleisch von ihren Knochen. Blut quoll aus den schwarzen Schnauzen hervor und formte eine Lache im Sand. Sie brachte kein Wort heraus, nur ein langgezogenes, gurgelndes Stöhnen. Sie starrte reglos in den Himmel, als die Hunde sie weg zerrten, um in der Ferne mit ihr zu spielen.
Kapitel 2
Der Anblick jagte Derek den Ekel durch den Leib. Unwillkürlich krampfte sein Bauch zusammen, Säure schoss durch seine Speiseröhre nach oben. Er musste kotzen, aber sein Magen war leer. Röchelnd würgte er einen dünnen Speichelfaden vor, der von seiner Unterlippe in den Staub tropfte.
„Schluck es runter“, sagte eine Stimme hinter ihm. Derek wischte mit dem Handrücken seinen Mund ab und schaute über die Schulter. Der Mann sah aus wie ein schwitzender Klumpen Haut. Die Sonne hatte sein Fett geschmolzen und eine eingefallene Form zurückgelassen. Unter den hängenden Wangen wirkte er wie vierzig, aber in seinen Augen glitzerte ein eingeschnapptes Kind.
„Die Hunde lauern auf das schwächste Glied“, sagte er. Bei jedem dritten Wort pfiff seine Kehle, als bereite ihm das Atmen Schwierigkeiten; die Hitze setzte ihm zu, Schweiß rann in dicken Tropfen von seiner Stirn.
„Wenn sie denken du machst schlapp“, fuhr er fort, „dann holen sie dich. Glaub nicht, dass ich dir dann helfe.“
Derek murmelte etwas wie „Danke für den Tipp“ und drehte sich leicht schwankend wieder nach vorne. Der Ekel klebte weiter wie ein stinkender Schwamm in seinem Bauch. Er schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Hinter seiner Stirn klebte weiter diese kalte Leere, die keinen klaren Gedanken zuließ. Er musste Ordnung in sein Hirn bringen. Er fing bei Eins an und zählte so weit er konnte. Dauernd verlor er den Faden und musste neu beginnen. Aber Stück für Stück wurde sein Verstand schärfer; seine lähmende Trance bröckelte wie eine Lehmhaut von ihm ab. Darunter kamen Fragen zum Vorschein, die Antworten suchten.
„Wo sind wir hier?“ fragte er plötzlich über die Schulter nach hinten. „Was machen wir hier?“ Dereks Hintermann sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf.
„Keine Ahnung.“
„Aber wohin gehen wir?“ wollte Derek wissen. Er reckte den Hals, sah suchend über die Köpfe hinweg.
„Wohin führt die Schlange?“
„Keine Ahnung“, wiederholte er genervt.
„Ich bin genauso schlau wie du. Alles was ich weiß, ist, dass wir seit Tagen in die selbe Richtung gehen. Wir laufen auf etwas zu.“ Derek drehte sich um und sah ihn an.
„Und worauf laufen wir zu?“ Der Mann antwortete mit einem grimmigen Ausdruck.
„Auf etwas Böses.“
Ohne Vorwarnung setzte sich der Zug plötzlich in Bewegung. Ein kahler Kopf nach dem anderen fing wie im Domino an zu laufen. Die ersten zögerlichen Schritte entwickelten sich zu einem steten langsamen Marsch durch die Wüste. Dereks Beine krampften taub vom ständigen Stehen. Er humpelte wie ein Verletzter, bevor sich seine Muskeln wieder ans Gehen gewöhnten. In der Entfernung, auf halbem Weg zum Horizont, sah er drei schwarze Flecken, die sie begleiteten. Sie spielten mit etwas, doch er konnte nicht erkennen was. Er wollte es auch nicht wissen.
„Wie heißt du?“ fragte der Hintermann unvermittelt. Derek schwieg einen Moment. Dann sagte er seinen Namen.
„Aha“, antwortete der Mann, wobei seine Stimme pfiff wie ein kaputter Kessel. „Mein Name ist Liam. Und weiter?“
„Wie weiter?“ Liam rollte mit den Augen.
„Wie ist dein Nachname?“ Derek wollte ihm antworten, aber seine Zunge blieb stecken. Die Sonne brannte mit einem Mal viel heller als zuvor.
„Ich heiße Derek Ri...“ Ihm wurde schwindelig. „Derek Ri...“ Es klappte nicht. „Mein Name ist Derek Ri...“ Ein weißer Blitz schoss durch seine Stirn. Der Schmerz loderte so sengend heiß, dass er dachte seine Nerven würden schmelzen. Eine unsichtbare Hand zog an den Nähten seiner Synapsen. Vor seinem inneren Auge tanzten Schnipsel aus tausend bunten Bildern. Seine Erinnerungen lagen vor ihm wie ein zerschlagener Spiegel. Derek sah sich selbst, wie er nach den Splittern griff um sie zu retten, bevor sie den Abfluss hinunter gespült wurden. Aber wenn er sie anfasste schnitten sie ihm in die Finger.
„Ich heiße Derek Ri...“ Vor lauter Schmerz hielt er sich die Schläfen fest. Seine Zunge wollte sprechen, aber sein Verstand kannte die passenden Worte nicht.
„Ich kann mich nicht erinnern.“ Liam nickte.
„Das habe ich mir gedacht“. Er streckte seinen linken Arm aus und zeigte ihn Derek. Auf der Innenseite, knapp über der Beuge, standen ein paar Zahlen eintätowiert.
„66421“, las Liam vor. Derek überprüfte seinen eigenen Arm. Da standen ebenfalls Zahlen.
„5432 - Was hat das zu bedeuten?“
„Wir brauchen keine Namen“, sagte Liam finster.
„Wir haben Nummern.“
Kapitel 3
Eine kleine Ewigkeit verging, in der sie schweigend durch die Wüste wanderten. Wortlos setzten sie einen Fuß hinter den anderen, bis sie ihre Zehen nicht mehr spüren konnten. Die Sonne brannte Derek auf den Schädel; er spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf kroch und seine Gedanken erwürgte.
„Guck mal da.“ Liam flüsterte fast. Er zeigte nach vorne, vorbei an den Köpfen, zu einem blassen schwarzen Fleck am Horizont. Derek erkannte kaum mehr als ein Flimmern in der Ödnis. Je näher sie kamen, desto größer wurde der Schatten. Dünne Linien wurden erkennbar; Konturen zeichneten sich ab, Umrisse eines fernen Bauwerks: Ein mächtiger Giebel, flankiert von zwei Türmen.
„Was ist das?“ fragte Derek. Ob er die Antwort ertragen konnte, wusste er nicht. Liam gab ein pfeifendes Grunzen von sich.
„Ich weiß nicht recht,“ sagte er, „sieht aus wie eine Kathedrale.“
Die gewaltigen Ausmaße machten Derek schwindelig, wenn er hoch zur Spitze des großen Giebels blickte. Mit ihren beiden spindeldürren Türmen ragte die Kathedrale über ihren Köpfen auf wie ein böses Omen. Auf dem schwarzen Stein wucherte dürrer Efeu. Merkwürdige Ornamente, die wie Fleischerhaken aussahen, verunstalteten die Fassade. Den großen Torbogen zierten aus Stein gehauene Statuen, die Heilige zeigten, die Derek nicht erkannte. Statt sich der Schlange zuzuwenden, die unter ihnen durch das Tor verschwand, wandten sie sich in Abneigung von ihr weg.
Ein gusseisernes Gitter, so hoch wie zwei Häuser, versperrte anstelle eines Tores den Weg ins Innere. Wachen standen davor. Trotz der brennenden Sonne trugen sie schwarze Ledermäntel und dicke Stiefel. Die Hitze schienen sie nicht zu bemerken. Sie waren bewaffnet mit altertümlichen Karabinern. Unter grauen Stahlhelmen trugen sie Gasmasken, mit langen Schläuchen, die unter den Mänteln verschwanden. Derek konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Ihr Schweigen machte ihn nervös; ohne es zu merken kratzte er sich an der Stelle, wo die Zahlen in seinen Arm tätowiert waren.
Der Zug war vor dem Gitter zum Stillstand gekommen. Wieder warteten sie auf etwas, ohne zu wissen worauf. Die Wachen standen einfach nur da, bewegten sich kaum und sprachen kein Wort. Neben dem Tor, hoch über ihren Köpfen, hing eine monströse Tafel, wie auf einem Flugplatz, oder einem Bahnsteig. Derek versuchte ihren Zweck zu erraten, als plötzlich meterhohe Ziffern darüber flatterten. Mit ohrenbetäubendem Lärm klapperten die Zahlen über die Tafel, bis eine Liste von etwa hundert Nummern entstand. 5432 und 66421 standen irgendwo in der Mitte. Dann setzte sich das Gitter in Bewegung. Metall rieb an Metall, ein tiefes, langes Kreischen, wie ein sterbender Riese, als sich die Flügel langsam in die Dunkelheit der Kathedrale öffneten. Die Wachen nahmen die Gewehre in Anschlag.
Einen nach dem anderen kontrollierten sie die Gefangenen aus dem Zug. Als es soweit war griff die Wache nach Dereks Arm, umklammerte ihn mit eisernem Griff und las die eintätowierte Nummer. Sie sagte kein Wort, machte kein Geräusch. Hinter dem Visier der Gasmaske fand Derek keine Augen, kein Gesicht, sondern nur schwarzes Nichts. Die Wache schubste ihn weiter und Liam war an der Reihe. Sie rollten mit dem Zug und als alle Nummern der Liste durch waren, schloss sich das Gitter wieder unter lautem Getöse hinter ihnen.
Derek konnte nichts sehen. Draußen blendete die Sonne, doch hier drinnen herrschte seichtes Dunkel. Er brauchte etwas Zeit, um sich an die Schatten zu gewöhnen. Als er wieder sehen konnte, starrte er in Ehrfurcht nach oben. Das Innere der Kathedrale erwies sich als viel gewaltiger, als man von außen erahnen konnte. Die Decke hing so hoch, dass sie in der Dunkelheit verschwand. Endlose graue Säulen ragten über ihren Köpfen empor. Der Geruch von altem Stein hing schwer in der Luft, auf dem kalten Boden fühlte Derek sich, als stünde er auf einem gefrorenen Grab.
„Wo ist das Kreuz?“ Derek blickte plötzlich ängstlich um sich. „Wo ist der Altar? Wo sind die Beichtstühle? Die Bänke?“ Er suchte nach dem Inventar, doch es gab keins. Alles fehlte. In der Kathedrale herrschte gähnende Leere.
„Das ist keine Kirche“, keuchte Liam von hinten. „Wir sind hier in einer Fabrik.“ Seine Stimme zitterte. „Einem Vernichtungslager.“
Und da sah Derek die Maschine. Groß, rostig und grausam wartete sie in der Mitte der Halle. Ein rechteckiger Kasten, unförmig und zweckmäßig, zusammengehalten von faustgroßen Nieten. Aus den Seiten ragten Rohre, die über einem Abfluss im Boden endeten; mehrere Ventile waren an der unteren Hälfte angebracht, doch wozu sie gut waren, dass konnte Derek nur raten. Ein großer Trichter ragte oben aus der Konstruktion. Davor stand eine Stahltreppe, die zum Trichter hoch führte und in einer kleinen Plattform endete, die wie ein Sprungturm über den Abgrund ragte. Eine merkwürdige Gestalt wartete an ihrem Rand – ein Priester.
Bei dem Anblick der Maschine fing der alte Mann an der Spitze der Reihe bitterlich an zu weinen. Zitternd sank er auf die Knie, stammelte Entschuldigungen, ohne zu wissen wofür. Zwei Wachen packten ihn bei den Armen und schleiften ihn über den Boden zum Absatz der Treppe. Ohne Mitleid warfen sie ihn auf die Stufen. Er flehte um Gnade, doch die Wachen reagierten nicht. Als er sich nicht regte, legten sie die Gewehre an. Zitternd richtete der Alte sich wieder auf, zog sich mit den dünnen Armen am Geländer hoch, und setzte den Fuß auf die erste Stufe. Schritt für Schritt erklomm er die Treppe. Oben erwartete ihn der Priester. Sie wechselten ein paar Worte. Der alte Mann schaute furchtsam nach unten in den Trichter und nickte geistesabwesend. Er hob noch einmal den Kopf, blickte hinter sich, runter zur Schlange – und dann sprang er.
Das Geräusch, dass er machte, klang wie aus einem Sägewerk. Derek hielt sich die Ohren zu. Weißer Dampf schoss aus den Ventilen, pfiff in schrillen Tönen. Der Kasten rappelte wie ein wütender Dämon, während die Sägen in Inneren den Alten verarbeiteten. Nach einer Minute endete der Spuk. Aus den Rohren an der Seite tropfte eine zähe, rotbraune Masse in den Abfluss. Stille legte sich über die Halle; niemand gab den geringsten Laut. Der nächste trat vor und bestieg die Stufen.
Kapitel 4
Dereks Blick haftete festgefroren an der Treppe; er konnte sich nicht losreißen. Er nahm gar nicht wahr, wie er an der Tätowierung kratzte, seine Nägel in die Haut grub, bis es blutete. Sein Kopf fühlte sich wie unter Wasser getaucht; Liam flüsterte auf ihn ein, aber seine Stimme murmelte nur fern an der Oberfläche.
„Was hast du gesagt?“ Langsam kehrten seine Sinne zurück. Liam riss ihn an der Schulter zu sich herum.
„Sie vernichten uns“, sagte er. Das heisere Keuchen seiner Lungen meißelte den Satz in Stein. „Sie zwingen uns zu springen. Dann verarbeiten sie uns zu Fleisch.“
Derek wollte widersprechen; sein Kopf konnte diese Worte nicht akzeptieren, da zerschnitten die Sägen die Stille. Das Geräusch der Maschine hallte durch die Kathedrale. Der Nächste wurde zur Treppe geführt. Derek schluckte fest. Dann sah er zu den Wachen.
„Aber sie machen gar nichts“, sagte er. „Sie stehen nur da.“
„Gehirnwäsche,“ erwiderte Liam. „Es ist der Priester. Er muss ihnen einreden zu springen.“ Er schaute zu der Figur im dunklen Gewand, die am Ende der Stufen wartete. Kindlicher Trotz glitzerte in seinen Pupillen. „Ich werde da nicht hoch gehen“, sagte er schließlich. Derek drehte sich wieder zu ihm um.
„Was hast du vor?“
„Rennen“, antwortete Liam. Derek sah zurück zu den Gestalten in den schwarzen Mänteln. Eine von ihnen patrouillierte entlang der Schlange. Den Karabiner in der Hand kam sie mit schweren Schritten näher.
„Aber was ist mit den Wachen?“
„Lieber lass ich mich erschießen“, sagte Liam. „Zusammen haben wir gute Chancen. Komm. Auf mein Zeichen rennen wir los.“
Derek blieb keine Zeit zu protestieren. Die Wache erreichte sie gleich. Plötzlich packte Liam die Frau, die hinter ihm in der Reihe kauerte, und schubste sie vor die Wache.
„Los!“ schrie er und rannte so schnell ihn seine Füße trugen. Derek zögerte einen Augenblick; er sah rüber zu der Frau - dann rannte er Liam hinterher. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Mechanisch trugen sie ihn über den Boden. Liam lief links, Derek rechts von der Schlange. In seinen Augenwinkeln verschwammen die kahlen Köpfe zu einem hektischen Film, in dem zwischendurch Liams Gestalt aufblitzte.
Derek spürte nur den Luftzug der Kugel; das hallende Donnern des Schusses hörte er nicht. Köpfe duckten sich in Panik und die Wachen hatten freies Schussfeld. Anlegen, feuern, nachladen. Der zweite Schuss ging nur knapp an ihm vorbei und schlug in die Säule hinter ihm.
Derek machte sich so klein er konnte. Er zog den Kopf ein und schlug Haken um ein paar Säulen. Eine dritte Kugel pfiff haarscharf an seinem Bein vorbei. Auf der anderen Seite keuchte Liam wie ein kranker Ochse. Er wurde langsamer. Schweiß lief in Flüssen an ihm herunter.
„Halt durch!“ rief Derek ihm zu. Am Ende der Kathedrale leuchtete das Wüstenlicht durch die gewaltigen Gitterstäbe.
„Wir sind gleich am Tor!“ Er schaute wieder rüber, aber konnte Liam nicht mehr sehen. Sofort hielt er an. Ein paar Meter hinter ihm lag Liam am Boden; ein Kugel großes Loch klaffte in seinem Bein, aus dem dunkles Blut strömte.
„Steh auf!“ brüllte Derek durch die Hallen. „Mach schon, steh auf!“ Da fletschte die Dunkelheit ihre Zähne. Drei Hunde krochen aus den Schatten zwischen den Säulen hervor. Ihre Krallen klackten auf dem Steinboden. Knurrend, die Köpfe gesenkt, mit angelegten Ohren, näherten sie sich Liam.
„Steh auf!“ Er versuchte verzweifelt sich aufzurichten, schaffte es nicht, denn seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Panisch krallte er sich in den Stein und zog sich über den Boden. Derek wollte sich gerade einen Weg zu ihm bahnen, da sprangen die Hunde los. In einem Herzschlag hatten sie ihre Zähne in seinem Hals gegraben und zerrissen ihn wie ein totes Reh.
Zu spät. Weiter. Rennen. Nicht stehen bleiben. Hinter Derek hatten die Wachen nachgeladen und legten zum Feuern an. Eine Kugel schwirrte weit an ihm vorbei, eine zweite verfehlte knapp seinen Hals. Die dritte traf ihn am Arm. Er strauchelte. Heißes Blei floss durch seine rechte Körperhälfte, zog ihn nach unten. Mit jedem Schritt tropfte das Loch. Seine Kräfte schwanden. Nur noch wenige Meter bis zum Tor. Etwas Glück und er konnte sich vielleicht zwischen den Gitterstäben durchquetschen, raus in die Wüste, weg von der Maschine...
Der Gewehrkolben traf ihn wie ein Betonklotz im Gesicht; der Schlag riss ihn zu Boden. Die Wache tauchte aus dem Nichts auf, nagelte ihn mit dem Stiefel auf der Brust am Boden fest. Er versuchte noch vergeblich sich zu befreien - dann verlor er das Bewusstsein.
Kapitel 5
Er erwachte mit dem Gefühl von frostigem Stahl im Gesicht. Die Kanten der Metallstufen bohrten sich in seine Wangen und sein Schädel brummte wie ein Wespennest. Leise platschte ein Tropfen Blut von seiner Stirn auf den Boden, auf dem er lag.
Zögerlich warf er einen Blick über die Schulter hinter sich. Zwei Wachen, brutale Statuen in der unergründlichen Dunkelheit ihrer Masken, versperrten ihm mit angelegten Gewehren den Weg. Derek seufzte. Er sah ihnen an, dass sie ihn wenn nötig tragen würden. Wenn es sein musste, warfen sie ihn über die Schulter und schleppten ihn die Treppe hoch.
Mit dem schmutzigen Handrücken wischte er sich das Blut von der Stirn; seine Platzwunde brannte, doch das kümmerte ihn nicht mehr. Es hatte keinen Zweck. Für Widerstand war er zu schwach. Es war zu spät. Er könnte sich gegen sie werfen, noch einmal versuchen zu fliehen, aber es hatte wenig Sinn. Die Hunde würden ihn genau wie Liam zerfetzen. Alles, was ihm jetzt noch blieb, war bis zum Ende zu gehen und zu sehen was passierte.
Zitternd wie ein alter Mann zog er sich hoch, stützte sich auf dem Geländer ab und erklomm die ersten Treppenstufen. Heißes Blei schwamm in seinen Beinen. Jeder Schritt war eine Qual, aber er zwang sich vorwärts. Auf halber Höhe hielt er inne. Er drehte sich zu den kauernden Erscheinungen um, die in der Halle froren und atmete tief ein. Dann richtete er die Augen wieder vorwärts und erklomm mit zusammengebissenen Zähnen den Rest der Treppe.
Am Ende wartete der Priester auf ihn. Sein kahler Schädel und die dürre Statur, in dem altertümlichen Gewand mit dem weißen Kragen, wirkten surreal an diesem Ort. Er stand vor dem Abgrund, der nur wenige Zentimeter neben ihm aufklaffte, wie ein Torwächter. Ein Geruch von Weihrauch haftete an ihm, durchzogen vom beißenden Gestank der Angst. Menschen waren vor ihm in den Tod gesprungen; dennoch lag ein milder, ungerührter Ausdruck in seinem Gesicht. Seine Hände waren über einer zerfledderten Bibel gefaltet, als bereite er sich auf die Sonntagspredigt vor.
„Hallo, Derek“, sagte der Priester. Wie er seinen Namen aussprach, ließ Derek auf einmal alle Hoffnung aus den Gliedern fahren.
„Weißt du, wo du hier bist?“ Erschöpft lehnte er an der Balustrade, suchte ihren Halt und glotzte hohl auf das Lächeln des Predigers. Als er schließlich antwortete, befreite ihn die Gewissheit seiner Worte.
„In der Hölle“. Der Priester nickte.
„Das ist wahr. In der Hölle.“
Die Hände um das Geländer geschlungen sank er auf die Knie.
„Aber warum bin ich hier?“ fragte er atemlos. „Ich kann mich an nichts erinnern.“ Der Priester nickte wieder.
„So geht es allen. Niemand kann sich an etwas erinnern - das gehört dazu.“ In einer ruhigen Geste, wie ein weiser Großvater, deutete er auf den Abgrund, der jenseits der Treppe klaffte.
„Wirf einen Blick nach unten. Dann wirst du sehen.“ Vorsichtig und mit großer Anstrengung zog sich Derek über das rostige Gitter und schob seinen Kopf über das Ende der Treppe.
Unter ihm tat sich der Schlund der Maschine auf. Von hier oben ging es kilometerweit in die Tiefe. Tausend Sägen, zum Schneiden von Fleisch gemacht, ragten im Inneren des Trichters hervor. An kräftigen Haken verfingen sich die Körper, damit sie nicht unbearbeitet durchrutschen konnten. Im Zentrum, da wo der Trichter im dunklen Hals verschwand, drehte sich eine mächtige Schraube, die die Reste nach unten sog und die zerteilten Körper zu einer zähflüssigen Masse zerrieb.
Der Anblick drohte Derek zu verschlucken. Hypnotisiert starrte er in die Schwärze, die Schatten zwischen den Sägen, den blutigen Spuren der Gewalt, den Resten der zerteilten Opfer. Etwas sog ihn herab, zog ihn nach unten. Es war nicht die Erwartung seines eigenen Schicksals. Da unten lauerte etwas Unbekanntes; etwas Fremdartiges.
Ein Kranz aus Augen öffnete sich und glotzte ihn an. Sie betrachteten ihn und Dereks Stirn explodierte. Vor seinem Inneren Auge zerbarst ein Spiegel in Millionen Splitter. Eine unsichtbare Hand zog an den Nähten seiner Synapsen – nur wurden sie wieder zusammen geknotet, statt auseinander gerissen. Bilder aus tausend und einem Lebensbild setzten sich zu einem grauen Kaleidoskop zusammen. Der Schnelldurchlauf eines vergessenen Lebens, die Idee einer Vergangenheit – zerschlagen und wieder geklebt. Da waren Geburt, Eltern und das erste Weihnachtsgeschenk, mit dem kleinen Derek im Kindersitz am Kopf des Tisches; der erste Schultag, die Pubertät und die erste Freundin; eine Couch, viele Freunde und ein bewegtes Leben. Eine Collage aus wichtigen Momenten und alltäglichen Kleinigkeiten, die einen zum Menschen machen.
Dann stolperte der Film in eine normale Geschwindigkeit. Die Szene wurde langsamer, das bernsteinfarbene Gefühl der jüngsten Vergangenheit legte sich wie ein Filter über die Bilder. Derek sah einen Mann, mit Haaren bis zu den Schultern, gekleidet in Jeans und eine selbstgestrickte Wolljacke, und erkannte verwundert, dass er das war.
Es war mitten in der Nacht; das Bier noch in der Hand winkte er seinen Freunden zum Abschied und stolperte über den Vorgarten in Richtung seines Autos. Die Szene sprang und plötzlich sah Derek sich selbst, wie er am Steuer seines alten Cabrios saß, die Flasche zwischen den Knien, eine Zigarette im Mundwinkel, eine Hand am Lenker, mit der anderen suchte er blind nach einer CD. Verzweifelt hielt er Ausschau nach der richtigen Ausfahrt aus dem Vorort.
Wieder machte der Film einen Sprung und Derek sah die gelbe Ampel am Ende der Straße. Statt langsamer zu werden drückte er auf das Gas und wurde schneller; die Ampel konnte er noch schaffen. Das Licht sprang auf Rot. Von rechts kam der Kombi. Es ging zu schnell um noch zu reagieren. Das Bier kippte über seine Hose, die Zigarette fiel ihm aus dem Mund, als sein Kühler das andere Auto in der Mitte zerriss. Es war ein Familienwagen: Ein Kombi, beige, für bis zu drei Kinder geeignet. Der Vater starb sofort; die Mutter schlug mit dem Kopf auf das Armaturenbrett, wo ihr Schädel zerschellte und blutige Splitter zurückließ. Dereks Gedanken waren nicht schnell genug um zu fassen, was gerade passierte. Als letztes sah er den kleinen Jungen im Kindersitz auf der Rückbank. Die Splitter der Windschutzscheibe schnitten durch ihn durch, wie durch Butter.
„Du hast dir das Genick gebrochen, als du im Straßengraben gegen einen Baum gefahren bist“, erklärte der Priester, als Derek wieder zu sich kam. Er brauchte eine Sekunde sich zu erholen. Er klammerte seine Finger in das Gitter, um nicht herunterzufallen.
„Deshalb bin ich hier“, keuchte er. „Ich habe diese Familie auf dem Gewissen. Der Junge...“ Ein dicker Kloß im Hals würgte seine Worte ab. Tränen tropften von seinem Kinn, fielen durch das Gitter hindurch und zerschellten geräuschlos im eisernen Tiefe unter ihm.
„Dieser kleine Junge...“, stammelte er, „ich bin schuld...ich habe sie...“
„Getötet“, beendete der Prediger seinen Satz. „Ja, das ist wahr.“ Er machte eine Pause.
„Aber das ist nicht der Grund warum du hier bist.“ Derek drehte seinen Kopf und sah ihn fassungslos an.
„Was? Wieso dann? Was ist schlimmer, als eine ganze Familie zu töten?“ Das Lächeln des Priesters wurde unmerklich breiter.
„Alles, was davor passiert ist.“
In den Pupillen des Priesters sah Derek sich selbst, wie er zusammengesunken auf der obersten Stufe kniete.
„Ich verstehe nicht“, stammelte er. Statt ihm zu antworten, wiederholte der Priester mit einem Lächeln seine Geste und deutete in den Abgrund. Auf Knien zog sich Derek über den Rand und spähte in das Dunkel. Die Schatten drehten sich im Wirbel, die Augen öffneten sich und der Schmerz hinter seiner Stirn erwachte wieder zum Leben. Der Film ging von vorne los – doch diesmal langsamer. Er konnte jedes Detail erkennen:
Im Kindergarten sah sich Derek, wie er auf den Wänden Porträts der Kinderfrau malte und signierte; seine Mutter, wie sie seine ersten Bilder stolz mit einem Magneten an den Kühlschrank heftete und wie Derek mit dicken Backen glücklich strahlte. Die Schulzeit, in der er gelangweilt in der letzten Reihe saß und Seite um Seite mit Bildern bekritzelte; wie er seiner ersten Freundin einen selbstgemalten Comic schenkte; wie er vergaß zu lernen. Die Pubertät und die Streiterein mit den Eltern; die schlechten Zeugnisse, die Joints und seine verriegelte Zimmertür; die Wochenenden auf Partys, die Mädchen; der Streit mit seinem Vater und das Gespräch über Perspektiven. Dann der Rausschmiss von der Schule wegen Drogen; ein paar halbfertige Zeichnungen; ein gebrochenes Herz und viele Partys. Irgendwann die Suche nach ein Ausbildung; Vorstellungsgespräche, die er verschläft, Termine, um die er sich nicht kümmert, Verabredungen, die er nicht einhält; der Streit mit seinen Eltern und die Frage, warum er denn nichts aus sich und seinem Talent macht; der Rausschmiss von zu Hause; die erste eigene Wohnung, ganz alleine. Zum Schluss die heruntergekommene Bude; die leeren Leinwände, zerbrochenen Bleistifte; ein paar Frauen, die kommen und gehen; die bequeme Couch, in der er zu versinken droht; die Drogen auf dem Wohnzimmertisch; die Party; das Auto; der Unfall; der Junge; der Tod.
Langsam zog sich Derek über die Kante zurück. Einen ewig langen Herzschlag blieb er auf dem kalten Metall liegen und rührte sich nicht. Es schien, als sei er an Ort und Stelle gestorben, aber dann bewegte er sich doch und stand vorsichtig auf.
„Ich verstehe“, sagte er, woraufhin der Priester ihn fragend ansah.
„Ich bin nicht wegen der Familie hier, oder? - sondern wegen mir selbst.“ Schwankend drehte Derek sich zur surrealen Erscheinung des Geistlichen hin, dessen Lächeln unmerklich größer wurde.
Schließlich wandte er sich herum und zeigte mit dem Finger auf die elenden Figuren, die am Treppenabsatz warteten und verwirrt zu ihnen hoch glotzten.
„Wir sind alle aus ähnlichen Gründen hier. Wir haben die gleichen Verbrechen begangen, nicht wahr?“ Der Priester konnte sein Grinsen nicht verstecken.
„Wir sind Abfall. Kompost. Faule Masse, die durch den Fleischwolf gedreht wird, um den letzten Tropfen herauszuquetschen.“ Die Mundwinkel des Klerikers zuckten nervös vor Anspannung. Derek streckte die Arme aus, erfasste die ganze Halle mit einer Geste.
„Das hier“, sagte er, „ist die Kathedrale des verschwendeten Fleisches – der Ort, wo Talent hingeht um zu sterben.“ Der Priester lachte laut aus.
„Jetzt hast du verstanden!“
Derek humpelte zum Ende der Treppe. Seine blutigen Zehen ragten über den Rand , bereit zu springen. Da fiel ihm die Tätowierung an seinem Arm ein.
„Wofür sind die Zahlen?“ Jetzt grinste der Priester mit vollem Gesicht.
„Das fragst du jedes Mal.“ Derek nickte. Dann sprang er.
Mitten in der Wüste, eine Schlange aus Menschen. Gelbes Ödland erstreckte sich meilenweit in alle Richtungen. Da gab es keinen Baum, keine Berge - nur etwas ausgebleichtes Gras in den Rissen im Boden. Anfang und Ende der Schlange verschwanden hinter dem Horizont. Die Sonne knallte auf die kahlen Köpfe der kranken Gestalten. Dumpfer Schmerz pochte durch Dereks Glieder. Sein Fleisch, seine Muskeln brannten wund, als wäre er gerade aus einem Fleischwolf gekrochen. Er konnte sich an nichts erinnern. Da juckte ihn etwas am Arm. Verständnislos, mit hohlem Blick, starrte er auf die Zahl, die darin eintätowiert war: 5431.