Katertag
Ich bin zehn Jahre alt und hocke mit den andern im Gebüsch. Gebannt schauen wir zu, wie Lars die Straße überquert auf das Mehrfamilienhaus zu. Aber er kommt nicht mal bis zur Klingel, da reißt der Alte die Tür auf und kriegt Lars' T-Shirt zu fassen. Wie die Wahnsinnigen scheuchen wir uns gegenseitig durchs Gebüsch davon. Ob der die ganze Zeit da gewartet hat? Den Blick auf den Boden gerichtet schiebe ich das Geäst zur Seite. „Wo sind wir?“, fragt Alina. Ich habe nur eine Hand um mit der Vegetation fertig zu werden. Die andere hält immer noch die offene Flasche Roten. Ich bleibe stehen, nehme einen Schluck. Was ist das für ein Geschmack? Ich ziehe die Knie hoch an die Brust, die Decke wieder über die bloßen Schultern und bette den Kopf bequemer aufs Kissen.
Ich habe die Nase zu sitzen, höre mich selbst durch den Mund atmen. Die Luft schmeckt nicht, kein Tropfen Speichel am Gaumen und die Zunge fühlt sich ledrig an. Ich tastet nach der Wasserflasche, trinke ein paar große Schlucke und überlege, wie ich schlafen gegangen bin. Muss so drei gewesen sein. Das Wasser schmeckt nicht. Ich greife nach meinem Handy. Die Fotos von gestern stehen schon in der Gruppe. Ich scrolle zu Isas Chat.
„Kannst du noch O-Saft mitbringen?“, schreibt sie um 19:31 Uhr.
„Klar“, schreibe ich.
„Wo seid ihr?“, schreibt sie um 1:24 Uhr.
„Wo bist du?“, schreibe ich um 1:45 Uhr.
Ein Fragezeichen schicke ich ihr um 2:37 Uhr.
Eine Nachricht in der Gruppe. „Danke für den tollen Abend euch allen“, schreibt Isa und eine Zeile Herzen. Bei einem Herzen für jeden, hieße das auch eins für mich. Ich zähle nach, sind aber mehr Teilnehmer in der Gruppe als Herzen. Ich halte den Geschmack im Maul nicht mehr aus und stehe auf, fasse mir an den Kopf, blinzle und schaffe es ins Bad. Ich spüle, spucke aus, spüle nochmal, nehme gleich etwas Klopapier mit und lege mich wieder hin. Kann mich nicht erinnern, so viel getrunken zu haben, drehe mich auf die Seite und mir fällt ein, dass ich von Alina und Früher geträumt habe. Jetzt schmeckt alles nach Mundspülung. Ich stehe wieder auf und Beklemmung packt mich, als wäre da nicht genug Sauerstoff in der Luft, die nach Mundspülung schmeckt. Ich nehme das Klopapier und masturbiere. Kurz denke ich an Isa und schäme mich. Dann schiebe ich eine Lasagne für zwei in den Ofen, hocke mich davor in die Ecke und stelle mir vor, wie Isa mich jetzt sieht. Ich habe sie gestern kaum gesehen. Einmal um ihr den O-Saft zu geben. Dann hat sie zweimal in der Runde gelacht über etwas, das ich gesagt habe, aber sonst … Ich weiß noch, wie ich sie kennengelernt habe. Das geht mir nicht oft bei Leuten so und keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist. Sie saß in Methodik neben mir. Ich war unzufrieden, weil ich sie nicht angesprochen hab, also hat Lars sie gefragt, ob sie mal mit uns rumhängen will. Ich glaube ich habe von Lars geträumt und jetzt fällt mir ein, wie ich früher mal mit fünf eine fremde Frau umarmt habe, von der ich dachte, sie sei meine Mutter, aber meine Mutter stand neben ihr und beide haben auf mich runter gesehen, gelacht und ich hab mich geschämt. Ich schüttle heftig den Kopf, halte Beklemmung und den Geschmack nicht mehr aus und öffne den Ofen. Eine Viertelstunde brauche ich, um mich bei Netflix zu entscheiden, dann schaufle ich die halbgare Lasagne in mich rein, mit einer Schulter über der Bettkante hängend, damit der Arm beständig Portionen aus der am Boden stehenden Aluschale zum Mund befördern kann. Dem Geschehen im Fernseher kann ich nicht folgen. Das Handy vibriert. Inge hat mir ein Video geschickt. Ein Typ ohne Hose, der durch die Disko rennt. Ich verstehe es nicht und schicke ein Fragezeichen.
Wieder vibriert es. „Der sieht aus wie du“, schreibt Inge. Ich schaue mir das Video nochmal an, kann ihr aber nicht zustimmen. Die letzten Lasagne-Reste sind eine Qual.
Das Handy vibriert.
„Alles klar?“, will Robert wissen.
„Sicher“, antworte ich.
„Was war gestern los?“
„Wie? Was war denn los?“
„Isa war ganz schön sauer …“
Ich lege das Handy weg und decke mich wieder zu.
Was Kindheit und so angeht, lief eigentlich immer bei uns. Ich und mein Bruder und Lars wir können richtig nostalgisch werden. Lars hat, glaube ich, mit vierzehn angefangen zu saufen. An seinem sechzehnten Geburtstag hat er mich eingeladen. Ich wusste gar nicht, dass er noch so viele andere Leute kennt. Ich habe als einziger nicht getrunken. Ich weiß nicht mal mehr, warum nicht? Das heißt ich und ein sehr hübsches Mädchen, Sonja, oder so, die mit ihrem Freund da war. Die hat auch nicht getrunken. Und sie war auch die einzige, die sich mit mir unterhalten hat, ich hab ja den Mund nicht aufgekriegt. Das hat mich die ganze Zeit voll fertig gemacht, dass die so schön war. Erst als sie mit dem Macker neben ihr rumgemacht hat, habe ich gecheckt, das der ihr Freund ist.
Selber habe ich mit 16 angefangen. Das war bei so einer Nachtwanderung. Die ganze Klasse war dabei, mit Ausnahme der Langweiligen, zu denen ich normalerweise auch gehörte aber irgendwie wollte ich mit 16 nicht mehr langweilig sein. Und Alina drückt mir diese Flasche Roten in die Hand und da war das keine große Entscheidung mehr. Irgendwann bleiben wir dann zu zweit zurück und Alina meint, sie müsse mal pissen gehen. Ich darf nicht gucken, aber weggehen darf ich auch nicht, falls einer ankommt und versucht sie zu vergewaltigen. Also bleibe ich mit der Flasche Roten in der Hand am Straßenrand stehen und als ihr Beschützer frage ich nach einer Weile: „Wurdest du schon vergewaltigt?“
„Ne“, sagt sie. Dann ist es still. Und dann: „Bist du noch da?“
„Ja“, sage ich.
Sie taucht wieder auf und betrunken stapfen wir zusammen durchs Unterholz zur Schule. Und da ist Rambazamba, ich werde wieder nüchtern und das war es dann. Kein Absturz, keine Katastrophe, eben gar nichts. Alina beobachtet mich von meinem Bürostuhl aus. Der Hinweg war wahrscheinlich das Romantischste, was mir je passiert ist. Ich muss eingenickt sein. Mein Handy vibriert. Der Bildschirm des Fernsehers ist mittlerweile auf Stand By. Jetzt summt es nur noch aus den Boxen. Es nervt, aber ich bin zu müde und vollgefressen um aufzustehen. Mein Bauch hat sich, obwohl ich eigentlich eine normale Figur besitze, locker fünf cm über den Bund meiner Unterhose geschoben. Ich rülpse kleine Stückchen in einer Lasagne-Magensäure-Wolke aus meinem Rachen und hechle wie vor Anstrengung. Endlich schaffe ich es aus dem Bett, um den Fernseher wieder anzuschalten. Wieder vibriert mein Handy und automatisch lege ich einen Porno ins CD Laufwerk. Bevor der eigentliche Akt gezeigt wird spannen die Muskeln ein paar Sekunden. Es kribbelt im Kopf. Ich werfe das Taschentuch neben den Mülleimer und kann gestärkt zum Handy greifen. Robert hat ein Bild geschickt, von einem der mir ähnlich sieht und auf einer Parkbank schläft. Mit dem Serotonin kommt im Kopf die fixe Idee, dass nicht ich Isa verärgert habe, dass da eine Verwechslung vorliegt. Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher erscheint es mir. Meine Finger wischen hektisch durch die Kontakte, finden Inge. Es klingelt. Ich warte. Gerade als ich auflegen will, geht sie ran.
„Ja?“, kommt es verschlafen aus dem Gerät.
„Moin.“
„Was' los?“
„Wegen gestern … “
„Kannst du dich erinnern?“
„Nicht wirklich, aber …“
„Hätte mich auch gewundert.“
„Was war denn genau …?“
„Na ja, du hast die ganze Zeit versucht Isas Nacken abzulecken, und sie anzufassen … war ja erst lustig, aber irgendwann … wie geht’s eigentlich dem Auge?“
Erschrocken fasse ich mir ins Gesicht. Es tut weh. Ich lasse Inges Stimme fallen und laufe ins Bad.
Ich bin mir sicher, obwohl … Das war heute morgen noch nicht da. Und wie es pulsiert, unter dem linken Augen, das hätte ich doch gemerkt. Keuchend umklammere ich das Waschbecken und atme schweren fleischigen Mog aus, versuche die Gedanken abzuschütteln. Galliger Brechreiz juckt im Rachen. Ich schließe einen Moment die Augen, schlucke und schaffe es unter Aufbietung aller Kräfte die erste Ladung zurückzuhalten. Nach einigen Minuten trete ich etwas beruhigt auf den Flur, stütze mich dabei an der Wand ab. Isa hat mich geschlagen und da bricht es schwallartig aus mir raus. Eine braune Suppe sammelt sich am Boden. Ich atme schwer mein aufgedunsener Bauch zuckt, arbeitet heftig weitere Flüssigkeit nach oben. Es hört nicht auf. Ich falle auf die Knie, weil keine Luft, stütze mich ab. Konstant sprudelt die käsige Kotze, sammelt sich zwischen meinen Fingern. Alles schwankt, ich sondere Flüssigkeit in der Masse meines Eigengewichts auf die Fließen ab. Als es endlich aufhört, kann ich nichts sagen oder denken, krieche erschrocken von der Pfütze weg, die an der Schwelle meines Zimmer leckt und Blasen wirft. Gebannt und angewidert hängt mein Blick an meinem ehemals Inneren, da bewegt sich etwas in der Mitte der Pfütze. Ich schreie, höre mich nur noch schreien und heiser werden, während eine Hand aus der Pfütze wächst, ganz mit gelb brauner Kotze bedeckt. Unter und Oberarm tauchen auf, klatschen die Hand auf die Fliesen und wuchten erst eine Schulter, dann Kopf, Hals, zweiten Arm und schließlich einen Torso aus der Pfütze. Mit beiden Armen abgestützt hält sich das Wesen aufrecht, während Kotze von ihm heruntertropft. Seine Zunge hängt aus dem Mund, es brüllt. In Panik finden meine Hände einen Besen, mit dem ich mich bewaffne. Ein Knie kommt zum Vorschein. Langsam richtet es sich auf, blickt mich an und ich sehe den Typ auf der Parkbank und den Discoflitzer und – es hat einen Steifen – und mich selbst, da drehe ich durch und schlage zu. Ich brülle, es brüllt zurück, versucht das Gesicht mit den Armen abzuschirmen. In blinder Wut dränge ich es zurück, Stück für Stück zur Haustür, hektisch fummelt es am Vorhängeschloss, dabei dreht es mir den Rücken zu und jetzt erst Recht, es heult als ich auf es eindresche, reißt die Tür auf und schon ist es weg und ich schlage die Tür zu.
Ich putze mir noch einmal die Zähne und trinke einen halben Liter Wasser. Dann hole ich Eimer und Wischer und mache die Kotze weg. Mein Handy vibriert. Isa ruft an, ich bin perplex.
„Ja?“, sage ich.
„Hi.“ Sie lacht.
„Na?“ Ich habe mich immer ein bisschen vor diesem Gespräch gefürchtet, dachte ich zumindest.
„Ging ja ganz schön ab gestern“, sagt sie.
„Mhm“, mache ich, „fand's eigentlich etwas lahm.“
„Oh.“
Kurz freue ich mich, ganz normal mit ihr sprechen zu können.
„Aber sag mal, du warst nicht zufällig gerade bei Rewe, oder?“
„Ne.“
„Da aufm Parkplatz lief ein nackter Kerl rum, der sah voll aus wie du.“
„Ist ja komisch.“
„Also weswegen ich anrufe“, beginnt sie nach einer kurzen Pause, „hast du heute schon was vor?“
Ich schaue in mein Zimmer zum laufenden Fernseher.
„Eigentlich ja“, sage ich.
„Oh“, macht sie.
„Sonst noch was?“
„Ne, ich dachte nur …“
„Okay, wir sehen uns.“
Ich lege auf und bin seltsam zufrieden. Ich fühle mich erwachsen.