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Kater Carlos Sternstunde
In der Boutique New Yorker hatte sie nichts Neues gefunden, das ihr wirklich cool genug war. Ellen blickte auf die Uhr, es blieb ihr noch Zeit, einige andere Geschäfte aufzusuchen, bis zu ihrer Verabredung mit Noel. Beinah wäre sie gestürzt, so heftig wurde sie angerempelt und, wie sie zu spät bemerkte, ihr die Tasche entrissen. Bis sie ihr Gleichgewicht wieder fand, sah sie nur noch auf Distanz einen Kerl davonrennen und in die Spiegelgasse einbiegen. Da, noch einer rennt in die gleiche Richtung. Vermutlich ein Komplize. Verflucht nochmal, mein neues Handy ist auch in der Tasche. Einzelne Leute, die den Vorfall aus Entfernung mitbekamen, waren stehengeblieben, begannen sich nun aber zu entfernen. Ellen hätte vor Wut schreien mögen. Vielleicht wirft er die Tasche ja irgendwo weg, wenn er das Geld findet. Sie lief nun schnell auch in die Spiegelgasse. Doch nirgends lag die Tasche mit den Dingen, die der Dieb nicht wollte. An der Ecke zur Querstrasse wäre sie beinah mit einem Passanten zusammengestossen, der eilig in die Gasse einbiegen wollte. Das war doch der Typ, der als zweiter gelaufen war. Jetzt erkannte sie ihn auch. Es war Karl, Karl Kühne, mit dem sie mal zur Schule gegangen war. Mit strahlendem Gesicht hielt er ihr die Tasche entgegen. «Ich konnte sie ihm wieder abnehmen.»
Es war wirklich alles vorhanden, das Handy, das Portemonnaie mit dem Geld sowie die Debit- und Kreditkarten, nebst all dem andern Kram. Sie atmete erleichtert tief durch. «Danke Karl. Ich dachte, du gehörst zu dem Kerl, der mich beklaute.»
«Ich? Wie konntest du so etwas denken, Ellen.» Sein Gesichtsausdruck wirkte nun wirklich betroffen. «Ich bin doch Superman.»
Verwundert sah sie ihn an. Er war zur Karnevalszeit mal in einem Superman-Kostüm zur Schule gekommen, erinnerte sie sich. Sie hatte dies nicht ernst genommen. Der Lehrer bemerkte, die Schule sei kein Kostümball und schickte ihn nach Hause. Karl war beleidigt gewesen und hatte sich nachträglich ab und zu mal mit seiner Rolle als Superman gebrüstet, was die andern Schüler nur belustigte. Seine Comics-Sprüche nahm niemand Ernst. Irgendjemand nannte ihn dann nach einer andern Comicfigur, Kater Carlo, was er überhaupt nicht mochte. Doch dieser Name blieb an ihm haften, auch wenn sie ihn entgegenkommenderweise einfach Carlo riefen.
«So habe ich es nicht gemeint. Ich erkannte dich nicht sondern sah nur jemand davonrennen.»
Karl lachte. «Ach so. Nun ich sah aus einiger Entfernung zufällig, was da passierte. Es war präzis eine Szene auf Superman zugeschnitten, also rannte ich sofort hinterher. Ich habe ihn erwischt, bevor er in die U-Bahn-Station abtauchen konnte. Als ich ihm einen Schlag versetzte, warf er die Tasche weit von sich und sprang die Treppe runter. Da ich die Tasche sichern wollte, ist er mir leider entkommen.»
«Ich weiss nicht, wie ich dir danken kann.»
«Oh, ich lasse mich gern auf ein Cola einladen.»
«Gern. Ist es dir recht wenn wir ins Galaxy gehen?» Dort war sie später mit Noel verabredet.
«Ja doch, dort ist es cool.»
Ellen musterte Karl über den Tassenrand. Er wirkt anders als früher. Das Pummelige ist weg, auch wenn er deshalb nicht besser aussieht. Er betreibt wohl Fitness, um seinem Ideal eher zu entsprechen. Eigenartig, dass er sich noch immer mit dieser Figur identifiziert. Es war jedoch sehr nett von ihm, dass er mir geholfen hat.
«Der Kerl hat die Tasche auf die Strasse geschleudert, als er merkte, dass ich näher kam. Ein Auto musste unvermittelt bremsen. Um sie sicherzustellen, musste ich mich darum kümmern. In der Zwischenzeit ist er dann entwischt. Ich habe mir sein Gesicht eingeprägt, als er sich umdrehte, ein Ausländer.»
Sagte er nicht erst, er habe ihm einen Schlag versetzt? «Wieso meinst du, dass er ein Ausländer ist?»
«Ha, die kann ich alleweil von unseren Leuten unterscheiden. Es war da etwas Orientalisches an ihm.»
Ellen schätzte es gar nicht, dass solche Vorkommen vorschnell und pauschal Ausländern zugeschrieben wurden. Ihre Mutter war eine geborene Italienerin. Vielleicht hat er ja recht, aber sicher kann er nicht sein.
«Was machst du so?», fragte sie ihn, um von dem Thema wegzukommen.
«Oh, viel Sport und ich gehe in Discos oder in Konzerte.»
«Ich meinte eigentlich eher beruflich.»
«Ich hatte Ingenieurwissenschaften studiert und arbeite bei Dell in der Forschung. Und du?»
«Ich arbeite im Sekretariat des Bürgermeisters.»
«Das klingt ja nach politischer Karriere.»
«Nein, nein, überhaupt nicht. Ich habe keine Ambitionen auf ein politisches Amt. Die Arbeit dort ist jedoch sehr interessant. Man bekommt einiges mit an politischen, sozialen und kulturellen Themen. Mein Alltag besteht jedoch vorwiegend aus gewöhnlichen Sekretariatsaufgaben.»
Karl wollte etwas sagen, doch in diesem Moment stellte sich jemand neben Ellen hin, beugte sich und gab ihr zur Begrüssung einen Kuss.
«Hallo Carlo.»
Jetzt erkannte Karl ihn. Es war Noel, der auch mit ihnen zur Schule gegangen war. Sie hatten damals nicht die gleiche Wellenlänge, sodass sie einander mieden.
«Hallo Noel.»
«Karl war mir behilflich, als jemand meine Handtasche klaute. Er kam zufällig daher und konnte sie dem wieder abnehmen», erklärte Ellen an Noel.
«Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, Carlo. Noch immer auf dem Superman-Trip?», bemerkte Noel mit sarkastischem Ton.
«Wenn du meinst, ob ich diese Ideale noch immer hochhalte, ja. Es sind Werte, die in dieser Gesellschaft heute noch notwendiger sind als früher.»
Noel grinste, bemerkte aber weiter nichts, da er einen warnenden Blick von Ellen aufgefangen hatte.
«Es war einer dieser Ausländer. Ich habe mir sein Gesicht eingeprägt und werde ihn mir vornehmen, wenn er mir wieder begegnet.»
«Noel ist Jurist», sagte nun Ellen zu Karl, um ihn abzulenken.
«Du bist aber nicht einer jener Rechtsverdreher … Oh, entschuldige bitte, es ist mir einfach so rausgerutscht. Du bist kein Strafverteidiger, wollte ich fragen?»
Ellen konnte ein Feixen nicht unterdrücken. Eine solch ironische Formulierung hätte sie Karl nicht zugetraut. «Die Kanzlei, in der Noel arbeitet, vertritt verschiedene Sparten, Strafverteidigung ist nur eine davon», sagte sie schnell, da sie wusste, dass solche Redensarten Noel sehr sauer aufstiessen. Für ihn war sein Berufsstand über jeden Dünkel erhaben.
«Wir vertreten keine Kleinkriminellen. Es sei denn, ein Gericht bestellt jemanden von uns als Pflichtverteidiger. Mit Rechtsverdrehung, wie du es nennst, hat dieser Beruf überhaupt nichts zu tun. Solche unqualifizierten Aussagen machen höchstens Leute, die mal in einem Streitfall unterlegen waren.» Innerlich kochte er. Ausgerechnet diese Comicfigur wagt es, mir eine solche Frechheit ins Gesicht zu sagen.
«Was magst du trinken, Noel?» Ellen versuchte die beiden von dem Thema abzubringen.
«Ich nehme gern einen Kaffee.» Einen Moment schien es, die Sache sei beigelegt. Doch dann wandte er sich nochmals Kurt zu. «Aber ich muss mich schon etwas wundern, Carlo, über dein Rechtsverständnis.»
Karl machte ein zerknirschtes Gesicht. «Es tut mir leid, es war ein dummer Ausrutscher. Natürlich habe ich grossen Respekt vor dem Recht. Darum bin ich auch der Meinung, dass man diesem Nachachtung verschaffen muss, wenn es missachtet und nicht geahndet wird. Ich kann da nicht wegschauen. Heute hat sich dies einmal mehr als richtig erwiesen.»
Noel schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte leise, aber noch hörbar: «Kater Carlos Sternstunde.»
Karl merkte, dass er hier am falschen Platz war. Seine Wiederbegegnung mit Ellen stand nicht unter einem so guten Stern, wie er erst meinte. Nach kurzem Zögern erhob er sich, um zu gehen.
«Wohnst du noch bei deinen Eltern?», erkundigte sich Ellen. «Vielleicht können wir uns ja wieder einmal treffen.»
«Ja doch, ich bin noch an der alten Adresse wohnhaft.»
«Ist das dein Ernst», dass du dich mit Kater Carlo verabreden willst? Noel sah Ellen zweifelnd an.
«Du mochtest ihn ja noch nie. Aber so naiv ist er nun auch nicht, wie du tust. Sein Superman-Gehabe ist ein harmloser Spleen von ihm, dem er nicht entwachsen ist. Ich weiss noch nicht, ob ich mich mit ihm verabrede. Aber ich wollte ihm wenigstens ein gutes Gefühl für seinen Einsatz geben. Dies war nämlich sehr nett. Keiner der anderen Passanten hat auch nur den geringsten Versuch unternommen, mir zu helfen. Die hatten nur gegafft.»
«Dies ist auch richtig so. Wenn jedermann meinte, Superman spielen zu müssen, würde es im Chaos enden.»
Nun war Ellen verärgert. «Du meinst also, es war in Ordnung, dass man mich ausraubte?»
«So habe ich es nicht gemeint. Das weisst du genau», sein Ton war ungewollt schärfer ausgefallen als beabsichtigt.
Es dauerte eine Weile, in der beide schmollten, bis Ellen wieder versöhnend das Gespräch mit einem andern Thema aufnahm.
Mit Karl verabredete sie sich dann doch, zwei Wochen später im Fahrenheit. Noel hatte sich diesen Samstagnachmittag mit Freunden zum Joggen verabredet. In dieses Szenelokal würde er sich danach bestimmt nicht verirren.
Als Ellen eintraf, war Karl bereits dort. Sie erschrak, als sie ihn sah. Sein Gesicht war zerschrammt.
«Hattest du ein Unfall, Karl», fragte sie mitfühlend. Er sah wirklich etwas mitgenommen aus.
«Hm, so würde ich es nicht nennen. Am Mittwochabend kam ich erst bei Dunkelheit nach Hause und nahm von der Busstation wie gewohnt den kürzeren Weg durch den Park. Da hatten sie mir aufgelauert, sie mussten mich beobachtet haben. Plötzlich fielen drei Gestalten über mich her. Einer von ihnen war garantiert jener, den ich verfolgte. Ich erkannte ihn an den Kleidern. Mit ihm allein wäre ich spielend fertig geworden. Ich konnte auch einige Schläge austeilen, doch dann traf mich ein harter Gegenstand am Kopf, der mich zu Boden gehen liess. Ein Nachbar, der mit dem Hund draussen war, ist dazu gekommen. Da haben sie die Flucht ergriffen. Es sind allesamt Feiglinge, die sich nur hinterrücks und in der Überzahl mächtig fühlen. Leider lässt man solche Typen umgehend wieder frei, wenn sie erwischt werden. Das nennt sich dann Rechtsprechung. Aber ungeschoren kommen die mir nicht davon. Meine Freunde vom Superman-Fan-Club werden mich unterstützen.»
«Es tut mir leid, dass du meinetwegen solche Unannehmlichkeiten ertragen musstest.»
«Aber du kannst ja nichts dafür, du warst ja auch nur ihr Opfer.»
Ellen lächelte. «Aber ich hatte dich in der Nähe.»
Sie streckte ihre Hand aus, um ihm bekräftigend den Arm zu drücken.
Karl schreckte zurück, bevor sie ihn berührte, und fauchte aufgebracht: «Auuuah, du hast mir wehgetan.» Sein Blick, den er Ellen zuwarf, wirkte richtig böse. Die Spritzflecken auf Ellens gelber Bluse, welche durch ein von ihm dabei umgeworfenes Glas mit Cola verursacht wurden, ignorierte er einfach.
«Entschuldige», stammelte Ellen nun verärgert. Sein grimmiger Blick stimmte sie nachdenklich. Er ist doch so, wie die Jungs immer sagten, ein egozentrischer Kater Carlo, der sich als Superman aufspielt.
«Es tut mir leid, Carlo, ich muss jetzt gehen.» Sie hatte Mühe ein lautes Lachen zu unterdrücken, ehe sie draussen war. Es war ihr plötzlich in den Sinn gekommen, dass Noel letzthin am Abend noch Joggen war, und lädiert nach Hause gekommen war. Er sei in der Dunkelheit im Park mit einem andern Jogger zusammengestossen, bemerkte er damals eher wortkarg. Männer sind doch manchmal grosse Kinder, ging ihr durch den Kopf.