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Kasimirs Beine
Eines Morgens beschloss der Faulpelz Kasimir, dass er keine Lust zum Aufstehen hatte. In seinem Bett war es so schön kuschelig und gemütlich, und draußen wartete ja nur jede Menge Arbeit auf ihn. Besser war es da doch, sich noch einmal tief in sein weiches Kissen zu kuscheln und von den vorwitzigen Sonnenstrahlen, die durch sein Fenster fielen, an der Nase kitzeln zu lassen.
So lag er zufrieden in seinem Bett, und der Morgen schritt immer weiter fort. Kasimir aber war schon fast wieder eingeschlafen.
Plötzlich begann sein großer Zeh zu zucken, und mit einem Schlag war der Faulpelz wieder wach und starrte mit großen Augen auf seinen Fuß.
„Hoppla, was ist das denn?“, fragte er erstaunt. Denn eigentlich war er viel zu bequem, um sich zu bewegen, und er konnte sich das Zucken seines Zehs nicht erklären.
Natürlich bekam Kasimir keine Antwort. Aber dafür begannen auch seine anderen Zehen lustig zu zucken, bald auch noch seine Füße und schließlich seine gesamten Beine, sodass er gehörig durchgerüttelt wurde in seinem weichen Federbett. Es war gerade so, als wollten seine Beine ihn wach schütteln und aus dem Bett zerren. Damit war er aber gar nicht einverstanden.
„Heda, aufhören!“, schrie er empört und hielt sich mit beiden Händen an dem Bettpfosten fest.
Da ging plötzlich ein gewaltiger Ruck durch seinen Körper, und schwupp standen seine Beine ohne ihn vor dem Bett!
Noch immer gaben sie keine Ruhe, sondern tanzten fröhlich im Schlafzimmer umher.
„So ist das also“, schimpfte Kasimir und zog die Decke über sich, „ihr wollt nicht mehr liegen! Dann macht doch, was ihr wollt, ich bleibe jedenfalls hier in meinem schönen warmen Bett!“
Das ließen die Beine sich nicht zweimal sagen. Sie tanzten noch eine Runde durch das Zimmer und liefen dann schnurstracks auf den Flur. Der rechte Fuß drückte die Klinke der Wohnungstür hinunter, das hatte er sich von der rechten Hand abgeguckt, und der linke stieß die Tür auf. Dann hüpften Kasimirs Beine vergnügt durchs Treppenhaus nach unten. Sie waren überhaupt nicht böse darüber, dass Kasimir im Bett bleiben wollte. Schließlich kamen sie so zu einem freien Tag. Sonst mussten sie Kasimir immer dorthin tragen, wo er gerade hinwollte, und so schnell oder langsam laufen, wie es ihm gefiel. Heute aber würden sie endlich einmal machen, was sie wollten.
Als erstes liefen sie auf den großen Fußballplatz und sprangen dort im taunassen Rasen herum, bis sie einen vergessenen Ball fanden. Das war vielleicht eine Freude! Sofort begannen sie zu dribbeln und zu kicken, der linke Fuß jagte dem rechten den Ball ab, der rechte gab ihm einen Tritt, da musste der linke ihm den roten Zeh zeigen, bekam einen Freistoß und pfefferte den Ball ins Tor. Kasimir mochte ja keinen Fußball, und er hätte sich bestimmt sehr gewundert, hätte er gesehen, wie gut seine Beine ohne ihn spielten.
Nachdem die Beine genug vom Fußball hatten, machten sie sich auf den Weg in die Tanzschule. Kasimir konnte nämlich auch nicht tanzen und erlaubte seinen Füßen normalerweise nicht einmal, den Takt zu einem guten Lied zu klopfen.
Die Beine sprangen durchs geöffnete Fenster in den großen Tanzschulsaal. Es war ja noch Vormittag und die Tanzstunden fanden erst später statt, sodass niemand da war, der Kasimirs Beine hätte stören können. Nur ein großer Kassettenrekorder stand im Raum, und der rechte große Zeh, der immer sehr gescheit war, drückte auf die Abspieltaste und fröhliche Musik ertönte. Die Beine fingen an zu steppen und sprangen auf und ab. Sie drehten sich im Kreis und tanzten noch viel schöner, als sie es am Morgen in Kasimirs Schlafzimmer getan hatten, denn mit Musik funktionierte das alles noch besser. Wenn Kasimir das gewusst hätte!
Aber Kasimir lag noch immer in seinem Bett, denn er konnte ja gar nicht anders. Langsam wurde es ihm aber auch ein bisschen langweilig. Er hätte sich gerne ein Buch aus dem Regal geholt, aber das ging nicht, dazu hätte er aufstehen müssen. Außerdem bekam er jetzt Hunger. Immerhin hatte er heute noch nicht gefrühstückt. Aber ohne seine Beine konnte er ja nicht in die Küche gehen, wo noch der gute Kuchen stand, den seine Großmutter ihm gebacken hatte.
So lag Kasimir im Bett, das ihm gar nicht mehr so weich vorkam, und lauschte auf das Knurren seines Magens.
„Ich bin ja dumm!“, rief er plötzlich. „Ich brauche doch gar keine Beine, um in die Küche zu kommen. Schließlich kann ich auch auf meinen Händen laufen!“
Also ließ er sich aus dem Bett gleiten und versuchte, auf seinen Händen zu gehen. Das war viel schwerer, als er es sich vorgestellt hatte, und er kippte immer wieder um. Dennoch kam er vorwärts, auch wenn seine Hände unglaublich schmerzten, als er in der Küche ankam: sie waren eben nicht zum Laufen gemacht.
In der Küchentür ließ sich Kasimir erst einmal auf den Boden plumpsen und schnappte nach Luft. Er war aber auch sehr stolz auf sich, es ganz ohne seine Beine geschafft zu haben.
Doch als er auf den Küchentisch spähte, wo der köstliche Kuchen stand, traten ihm die Tränen in die Augen: Der Tisch war viel zu hoch für ihn, und er konnte sich ohne Beine ja auch nicht auf einen Stuhl setzen. Auch alle anderen Nahrungsmittel in seiner Küche hatte er feinsäuberlich im Kühlschrank und auf Hängeregalen verstaut. Und ohne seine Beine war er einfach zu kurz und zu klein, um da hinauf zu reichen.
Sein Magen knurrte noch einmal ganz laut, und Kasimir begann vor Hunger und Wut zu weinen.
„Was hab ich mir da eingebrockt“, schluchzte er vor sich hin. „Meine Beine sind mir davon gelaufen und jetzt muss ich hier verhungern.“
In der Tanzschule waren Kasimirs Beine unterdessen aus der Puste geraten und aus dem Fenster wieder ins Freie gesprungen. Sie waren erschöpft und die Füße hatten Schmerzen von dem wilden Tanzen. Sollten sie nach Hause gehen und sich wieder ins Bett legen?
Als sie über den Marktplatz liefen, kam ihnen eine bessere Idee. Es gab dort nämlich einen Laden für Fußpflege. Das war genau das, was sie jetzt brauchten.
Das linke Knie klopfte vorsichtig an die Tür und die Ladenbesitzerin öffnete.
„Ach du liebe Zeit!“, rief sie etwas überrascht aus. Es war das erste Mal, dass Beine allein zu ihr kamen.
Aber eigentlich, überlegte sie, war das sehr praktisch, dann konnte der Besitzer der Beine in der Zwischenzeit etwas anderes machen, während die Füße es sich bei ihr gut gehen ließen.
„Also, kommt nur herein“, sagte sie freundlich, und die Beine sprangen in den Laden und platzierten sich auf einem Stuhl.
Die Ladenbesitzerin untersuchte die Füße und stellte fest, dass sie vom vielen Tanzen Blasen bekommen hatten.
„Jetzt werde ich euch richtig verwöhnen“, meinte sie und tätschelte den linken Fuß, ohne auf das eifersüchtige Zucken des rechten zu achten.
In den folgenden zwei Stunden ging es Kasimirs Beinen so gut wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie wurden ganz liebevoll abgewaschen und rasiert. Die Füße wurden mit einer wohlriechenden Creme eingerieben und massiert, bekamen ein Blasenpflaster und die Nägel schnitt die Ladenbesitzerin ihnen auch. Am liebsten wären die Beine noch viel länger geblieben, aber irgendwann war die gute Frau mit der Pflege fertig und erklärte ihnen, dass der nächste Kunde auf sie wartete; seine Beine hatten auch den Rest von ihm mitgebracht, und deshalb konnte er böse Blicke auf Kasimirs Beine werfen, die so gründlich von der Fußpflegerin verwöhnt wurden. Seine Miene wurde noch grimmiger, als er die Fußpflegerin sagen hörte: „Normalerweise muss man für meine Behandlung ja bezahlen, aber ihr habt sicher kein Geld dabei. Also mache ich mal eine Ausnahme. Ihr armen Füße hattet die Massage schließlich wirklich sehr nötig!"
So sprangen die Beine vergnügt aus dem Laden und winkten zum Abschied noch einmal mit beiden Füßen abwechselnd.
Sie waren jetzt wieder voller Unternehmungslust und beschlossen darum, ihren freien Tag mit einem besonderen Abenteuer zu krönen: Sie wollten Radfahren. Das machte Kasimir nämlich auch nie, er fuhr lieber mit dem Bus und dachte nicht daran, wie langweilig das für seine Beine war.
Kasimirs Beine spazierten also eine Weile durch den Ort auf der Suche nach einem besonders schönen Fahrrad, das sie sich ausleihen konnten. Schließlich fanden sie eines, das nicht angekettet war; das rechte Bein schwang sich vergnügt über den Sattel, die Füße sprangen auf die Pedale und ab ging die Post. Das entführte Fahrrad flitzte nur so dahin, denn Kasimirs Füße legten sich ordentlich ins Zeug.
Allerdings konnten sie nur geradeaus fahren. Denn ein Fahrrad hat ja einen Lenker, und den konnten die Füße alleine nicht bedienen, schließlich mussten sie in die Pedale treten. Da fehlten ihnen zum ersten Mal an diesem Tag die Hände.
Das Fahrrad wurde immer schneller, den Beinen wurde es mulmig zumute und sie vergaßen ganz zu bremsen – da krachte das Rad mit vollem Schwung gegen eine Häuserwand.
Einen Moment lang lagen Kasimirs Beine benommen da. Der Aufprall war sehr schmerzhaft gewesen. Als sie sich vorsichtig aufrappelten, merkten sie zwar, dass sie sich nichts gebrochen hatten, aber eine Menge Kratzer hatten sie allemal, und von der wohltuenden Massage merkten sie überhaupt nichts mehr. Das Fahrrad war außerdem ganz verbogen. Langsam und kleinlaut humpelten Kasimirs Beine von dannen. Sie fühlten sich sehr elend und wussten nicht, wie sie sich versorgen sollten. Alleine, das wurde ihnen plötzlich klar, würden sie das ohnehin nicht schaffen.
So kehrten sie zu Kasimirs Haus zurück und blieben einen Moment ratlos unten vor der Haustür stehen. Sie hatten ja keinen Schlüssel. Der große rechte Zeh drückte auf den Klingelknopf neben Kasimirs Namen, doch nichts rührte sich – der arme Kasimir saß noch immer hungrig in seinem Flur und konnte den Türsummer nicht erreichen.
Aber Kasimirs Beine hatten Glück, denn in diesem Moment kam der Nachbar mit seinem Schäferhund die Treppe hinunter, um spazieren zu gehen, und öffnete von innen die Tür, sodass die Beine hineinschlüpfen und die Stufen zu Kasimirs Wohnung hinaufsteigen konnten.
Die Wohnungstür war noch immer geöffnet. Leise tappten die Beine hinein und fanden Kasimir, der zusammengesunken auf dem Fußboden saß.
Er schreckte erst hoch, als ein ähnlicher Ruck durch seinen Körper ging wie am Morgen. Erstaunt blickte er an sich herunter und stellte fest, dass seine Beine zurückgekehrt waren. Vorsichtig streckte er sie aus und wackelte mit den Zehen.
„Gott sei Dank seid ihr wieder da“, seufzte er. „Aber ihr tut schon ganz schön weh.“
Die Beine antworteten nicht. Das war keine Überraschung.
Kasimir stand vorsichtig auf und machte ein paar Schritte durch seine Wohnung. Erst langsam, dann immer schneller, und schließlich begann er mit einem lauten Jubelschrei zu tanzen – so froh war er, seine Beine wiederzuhaben.
Als nächstes holte er eine kühlende Wundsalbe aus dem Schrank und legte sie auf den Küchentisch. Doch bevor er seine Beine versorgte, widmete er sich erst einmal dem Kuchen seiner Großmutter.
„Das nächste Mal stehen wir aber zusammen auf“, murmelte er mit vollem Mund. Kasimirs Füße stießen sich verschwörerisch an. Sie wussten schon, dass sie ihn bei der nächsten Gelegenheit mit in den Fußpflegeladen nehmen würden – die hübsche Fußpflegerin würde ihm sicher genauso gut gefallen wie ihnen.