Karsten S.
-Prolog-
Nach langem innerlichen Hin- und Her tue ich`s doch. Ich schreibe über Karsten S.!
Ich könnte auch über seinen Zwillingsbruder, Jens Sorge, „eineiig“ (was für ein Wort), schreiben, mach` ich aber nicht. Zumindest nicht vordergründig. Sicher wird dieser immer mal auftauchen, aber jener ist halt nicht so interessant. Glückliche, zufriedene Menschen sind selten interessant, sie wecken nur des Lesers Neid und wer liest schon gerne über jemanden, den er jede Zeile, jedes Wort nicht gönnt.
Karsten S. werden wir jeden Buchstaben gönnen, geradezu aufdrängeln, und es soll gar nicht mehr aufhören. Wird es aber! Nicht gleich, denn da wäre meine philosophische Tiefgründigkeit anfangs der Mühe nicht Wert gewesen. Aber irgendwann, in der absoluten Tiefe seines Raffens ist es auf einmal AUS. Aus mit dem Wortschwall um einen Versager und laienhaften Verbrecher, welcher erst naiv, sich dann jedoch mutwillig dem sündigem Pfuhl hingibt.
Oh, ich merke es selber, ich mag diesen Karsten S. nicht!
Schönes Schreiben!
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Karsten S. wurde „relativ“ zeitgleich (wir verdanken EINSTEIN diese geniale Formulierung) mit seinem Bruder Jens geboren. Ok, drei Minuten vor Jens!
Wesentlich schneller als relativ war aber beider Zeugung, die Befruchtung fand nämlich für unser Verständnis absolut gleichzeitig statt. Empfangen hat Maren Sorge, damals wie dann zu ihrer Niederkunft 21 Jahr jung, am 25. Dezember, drei Tage nach ihrem, natürlich 21. Geburtstag, von einem langhaarigem Kuttenträger in Borau.
Und schon überschlagen sich die Ereignisse! Erzähle ich erst von dem Heavy Metal- Fan oder von Borau?
Erst der Metaller: Der Akt der Liebe hinter der altehrwürdigen Disko ging so schnell, eigentlich schon das Kennenlernen zwei Minuten zuvor, dass mir der junge Mann total durch die Lappen gegangen ist. Sorry!
Ob Maren mehr über ihn weiß?
Eines weiß ich aber. Der Erzeuger war, ist und wird es nie sein. Was sein? Na sich bewusst sein, der Erzeuger „geseint“ (das Wort gefällt mir an dieser Stelle ganz hervorragend) zu sein!
Und Borau kenne ich. Flüchtig. Obwohl ich es besser kennen sollte, denn es gab schon „5500 v. u. Z. die ersten Besiedlungen für das Gebiet um Borau–Selau–Kleben.“
(Quelle: http://www.weissenfels.de/bas_b_gemeindestruktur_borau.html )
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Nun trug es sich zu, dass die beiden Heranwachsenden jede Menge Blödsinn veranstalteten. Nie wirklich kriminell, nie wirklich originell. Es ist nicht mehr herauszufinden, wer welchen Unsinn verzapft hat. Das konnte sogar Mutti Maren nicht, beide waren ja wie aus einem Ei gepellt und sahen vom obersten Haarwirbel bis zum Schniedel absolut identisch aus. Die Körperteile darunter waren für eine Analyse ebenfalls viel zu equivalent. Mutti Maren war es bald Leid, stets den Übeltäter zu selektieren, sie begnügte sich mit der allgemeinen Überzeugung von Erziehern, Lehrern und Nachbarn, dass es stets ihre Jungs waren, welche immer wieder Ärger machten.
Da fiel einer auf dem Weg zur Kinderkrippe vom Schlitten in den Schnee. Mutti Maren merkte es ziemlich spät. Nichts passiert, kein Sauerstoffmangel etwa bei einem mit dem Gesicht im Schnee liegenden Bündel Mensch. Aber für einen halbjährigen schon ein extrem frustrierendes Erlebnis!
Jahre später, nun im Kindergarten, war ein Bassin aufgebaut. Die Kinder sollten nach dem Mittag darin planschen, das Wasser würde bis dahin warm sein. Einer musste trotz Verbots ständig darin rumrühren – platsch lag er drin. Eine Erzieherin sah in dem Schubser wohl das einzig probate Mittel, den Stinker zu Belehren.
Naja, Pädagogik ist eine angewandte Wissenschaft ...
Jener eine lag allein daraufhin in einem Zimmer auf der Liege, seine Sachen mussten trocknen. Er spielte am Feuerlöscher und siehe da, er entspannte sich mit lautem Zischen.
Aha, Aufsichtspflicht ist eine nicht angewandte Wissenschaft ...
Auf der Klassenfahrt nach der Einschulung musste einer im Bett seiner Lehrerin schlafen, er war zu lange viel zu laut. Da lag der kleine freche Wurm neben dieser Tonne von Frau und tat kein Auge zu. Ich wette, dies hat ihn nachhaltig geschädigt.
Wir wissen ja, die Pädagogik ...
Die Grundschule verlief weitestgehend normal, immer wieder natürlich durchsetzt von kleinen und größeren Rüpeleien. Als um die Ecke eine neue Schule entstand, „delegierte“ man kurzerhand einen dorthin. Dies war definitiv Karsten S. und so verabschieden wir uns hier von der gemeinsamen Blödelei der Zwillinge und richten unser Augenmerk auf unseren potenziellen Problembürger.
Jens geht von nun an unbeobachtet von uns seinen Weg und pendelt heute zwischen Job, Familie und Couch hin und her. Wie langweilig! Ich bin wirklich froh, dass da noch Karsten S. ist (war), sonst hätte ich gar nichts mehr zu schreiben.
Interessant ist aber die Erkenntnis, dass, egal aus welchen Verhältnissen man kommt, nicht automatisch der Weg vorgegeben ist. Es spielen so unendlich viele Dinge eine Rolle, welche letztendlich eine nicht vorhersehbare Entwicklung generieren. Für die allermeisten wird es gut, für einige wenige leider nicht.
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Karsten S. musste sich nun in die neue 5. Klasse einleben. Alle mussten das, da durch die Neueröffnung allerlei üble Kinder aus den Schuler ringsumher hier ihr Sammelbecken hatten. Offiziell war er nicht, wie einige andere strafversetzt, aber wie interpretiert man diese Maßnahme dann? Er hatte schon große Fähigkeiten, sein Umfeld zu analysieren und ihm war klar, dass man ihn loswerden wollte und hierhin abgeschoben hatte. Wie bitter!
So gut er beobachtete und seine Nebenleute beeinflussen konnte, so wenig selbsteinsichtig war er. Er sah sich mittlerweile über den Dingen stehen und stürzte so immer wieder in ein tiefes seelisches Loch, wenn er zurechtgewiesen wurde. Seine heftigen und total überzogenen Reaktionen darauf machten die mühsame Kleinarbeit, mit welcher er sein Umfeld gestaltete, wieder zunichte. Der Neuaufbau war dann stets sehr beschwerlich. Ein Teufelskreis, welcher immer wieder in Eskalation und Isolation endete.
Es fehlte ihm die Lust auf Schule, da wurde er manchmal sehr kreativ. So legte er sich ein Blatt von seiner Zimmerpflanze auf das Frühstücksbrot. Schön eingebettet zwischen viel Butter und Marmelade, das schmeckte nicht zu bitter. Dann musste er alsbald kotzen und konnte den erschreckend aussehenden Auswurf Mutti Maren präsentieren, welche ihm daraufhin eine Entschuldigung schrieb und er sich zu Hause amüsieren konnte.
Ab und an litt er unter starker Migräne, so schlimm, dass er das Bett nicht verlassen konnte. Das war dann nicht so lustig. Und er kippte immer mal ganz spontan aus den Latschen, verletzte sich dabei aber zum Glück nie ernsthaft.
Er integrierte sich dennoch schnell in die Klasse, sein Selbstschutzmechanismus war definitiv intakt. Und er suchte sich Freunde, große Freunde, er suchte Halt. Aber stets begab er sich dadurch in Abhängigkeiten, insgesamt wurde seine mentale Struktur bröckliger.
Der erste war körperlich groß, geistig weniger, aber dennoch hatte dieser es irgendwie geschafft, auf Karsten S. mehr Einfluss zu nehmen, als für ihn gut war. Für mich stellt sich immer noch die Frage, nach dem WARUM. Karsten S. wäre ganz gut allein zurecht gekommen, baggerte dennoch bei zweifelhaften Individuen an.
René also war sein Auserwählter. Beide waren kreativ, Elektrotechnik begeisterte sie. Ein alter Fernseher wurde mit Glühlampen, Kabeln und Startern aus Neonlampen zum Diskomodul umgebaut, Karsten S. konnte das spielend. Die Starter holten sie sich aus den Neonlampen im Hochhausflur, die nun nutzlosen Leuchtstoffröhren segelten danach über die Köpfe der Passanten.
Nun meinte René, die Rücklichter von LKWs wären eine passable Neuerung zur nächsten Schuldisko. Ab aufs Fahrrad und auskundschaften, wo des Nachts ein LKW parkt. Dieser war schnell gefunden und durch mehrmalige Kontrollen als Ziel ausgemacht. Nun wurde sich für um zwei Uhr verabredet, Karsten S. sollte René abholen. Kasten S. war pünktlich zur Stelle, René natürlich nicht. So warf er kleine Steine an dessen Fenster, ohne Erfolg. Tatsächlich zog er dann alleine los (von René beabsichtigt?) und machte sich am LKW zu schaffen. Kurz darauf verbrachte er seine erste Nacht in Polizeigewahrsam.
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Was soll ich sagen? Eine Dummheit, mehr nicht? Was mich so enttäuscht ist seine Unfähigkeit zu erkennen, wann Schluss sein muss. Er lässt sich verheizen, stellt sich äußerst dämlich an und wird natürlich erwischt. Anscheinend bringt ihn sein Geltungsbedürfnis zu falschen Freunden.
Der Zwischenfall mit dem LKW blieb für ihn ohne jede Konsequenz, er hat auch René nicht verraten, ok. Der nächste Lapsus hat da eine andere Qualität. Eine Qualität von unsagbarer Dummheit, eigentlich ärgerlich für Schreiber und Leser!
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Frank ist auch nur groß. Frank hat eine Freundin, zu der er immer zum Bumsen hinmuss. Der kleine Karsten S. muss da nicht mit, nein. Er tappt dazwischen immer an Franks Seite, wenn dieser nicht gerade Bumsen muss.
Frank hat definitiv kriminelle Energie, Karsten S. bemerkt das natürlich nie. Und das tut Frank nur zum Zeitvertreib. Höchstwahrscheinlich sind die Pausen beim Bumsen zu lang, sodass er sich anders austoben muss.
Eines Tages schlendern beide an der Schule vorbei, aus der Karsten S. „wegdelegiert“ wurde. Eine Klasse war beim Sportunterricht auf der Außenanlage. Die Sporttasche voll mit den Wertsachen der Schüler lag dort herum. Frank rief: „Die holen wir uns!“ und Kasten S. sprintete sofort los, ergriff die Tasche und war flugs über den Hof.
Schöner Gag, nun ab zurück damit! Mal deren Leichtsinnigkeit aufzeigen. Aber nein, Karsten S. präsentierte sie lieber seinem Frank auf der anderen Seite des Geländes, als dieser gemächlich herbei geschlendert kam.
Dumm?
Ach wo!
Es kommt nämlich noch dümmer!
Das bisschen Geld und die eine Uhr waren schnell entnommen, dann flog die Tasche von Franks Hand im hohen Bogen in die ach so schöne Saale!
Die Uhr sah Mutti Maren an ihres ersten Sohns Handgelenk, dem Verhör hielt er nicht stand. So fand die Polizei auch Frank, die Tasche war leider weg. Mit ihr vor allem viele viele Schlüssel, der zu leistende Schadensersatz war für 14 jährige enorm.
Und er war jetzt polizeilich bekannt, ein jugendlicher Kleinganove.
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Kurz darauf kam die Jugendweihe. Den Zwillingen wurde es ermöglicht, zusammen diesen Feiertag zu begehen, obwohl die beiden Schulen unterschiedliche Termine hatten. So saß Karsten S. für einige Stunden in seiner alten Klasse, dies war ihm aber nicht wichtig. Bei Jens zu sein, an diesem Tage schon. Mutti Maren lag zu diesem besonderen Anlass im Krankenhaus, da sie nicht nochmal Mutti werden wollte. Wer wann wie und wo sie „beschenkt“ hatte, ist mir diesmal komplett entgangen, sie ist wohl immer etwas schneller als ich. Außerdem war ja gerade unser Karsten S. sehr aktiv und bedurfte meiner vollen Aufmerksamkeit. Ihm ging es zu diesem Zeitpunkt gar nicht gut, der Unfug mit Frank nagte sehr an ihm, er war enorm enttäuscht und hatte sich von Frank sogar losgesagt!
Richtig daran zu knappern hatte auch Bruder Jens. Der ärgert sich maßlos darüber, wie ihre Mutter unter dem Verhalten seines Bruders litt. Aber er war viel zu introvertiert, um mit Karsten S. Tacheles zu reden.
Nun waren beide ohne Mutti Maren bei der Feierstunde, dies machte sie gemeinsam sehr traurig. Der überschaubare Familienanhang war da und die Freundin ihrer Mutter. Diese hatte das Beisammensein für den restlichen Tag organisiert. Nach dem Brunch brachte die Freundin die Jungs in die Klinik zu Mutti Maren und lies die Drei allein. Es war eine schöne Runde, eine feierliche Runde! Sogar Karsten S. war umgänglich und total nett. In dieser kleinen Gruppe waren viele Emotionen unterwegs, enorm viel Liebe ging von Augenpaar zu Augenpaar zu Augenpaar. Und schließlich weinten sie zusammen und schworen sich auf eine gemeinsame Zukunft ein.
Karsten S. hatte auf einmal das innige Bedürfnis, für diese beiden sich zu ändern, er wollte gesellschaftsfähig werden. Noch am Vormittag hatte er die Formulierung des Festredners belächelt, jetzt sah er darin tatsächlich seinen neuen Weg, die einzige Möglichkeit, alles wieder ins Lot zu bringen.
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Puh, hier nun sollte ich eigentlich Schluss machen! So nach dem Motto: „Und sie lebten zufrieden bis an ihr Lebensende.“
Oder zumindest zu Jens umschwenken. Zuschauen, wie er bald Frau und Kinder, Haus und Hof, Auto und Garten haben wird. Will das jemand wissen? Nein. Und warum nicht? Richtig, wir gönnen es nicht nur ihm nicht, sondern niemanden!
Karsten S., die arme Sau, wird so etwas nie haben. Dazu lebt er ja auch nicht lange genug. Momentan ist er auf einem guten Weg und mir tut es auch mal gut, nicht immer über den Stress in ihm und seinem Umfeld berichten zu müssen. Ehrlich!
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Und tatsächlich verliefen die nächsten zwölf Monate sehr harmonisch im Hause Sorge. Die Mahlzeiten wurden wieder gemeinsam eingenommen, Karsten S. war zuvor schon länger nur noch in seinem Zimmer anzutreffen gewesen. Natürlich machte sich das auch in der Schule bemerkbar. Klar gab es immer mal Reibereien, Karsten S. hatte ja mehr Feinde als Freunde und so mancher Lehrer mochte ihn nicht und lies es ihn merken. Logisch, würden wir auch so machen, oder? Aber es ging aufwärts und er selbst hatte sichtlich Spaß daran!
Bis kurz vor den Sommerferien der 9. Klasse sah seine Welt genau so freundlich aus wie das Wetter. Man ging Baden, traf das ein oder andere Mädel, alles prima. Und bei den Raufereien verschaffte er sich gehörigen Respekt, er war sehr talentiert, hatte hervorragende Reflexe und absolut keine Angst. Das Leben kann so einfach sein und das genoss er außerordentlich.
Aber Karsten S. wäre nicht Karsten S. wenn er nicht Karsten S. wäre.
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So kam es in den letzten Zügen des Schuljahres doch noch zum Eklat mit einer Lehrkraft. Astrologie hatte bei allen Schülern keinen hohen Stellenwert, war aber nicht unbeliebt. Es war leichter Stoff, man konnte sich von der Mathe-Doppelstunde zuvor erholen und seinen Gedanken nachhängen. In diesem Unterricht hatte sich die „Elite“ in die letzte Bankreihe verdrückt, Lehrerin Thieme duldete dies, solange Ruhe war.
Frau Thieme hatte ein Credo: „Gewaltfrei in Rente gegen!“. Sie wollte den Stoff herunterrasseln und erwartete keinen neuen Astrophysiker mehr. Nun hatte jemand Plätzchen mit, genauer gesagt, diese runden leckeren Biskuitplätzchen. Der Hammer! Es wurde in dieser Stunde immer genascht, solange es leise blieb, war das für Frau Thieme ok. Blieb es aber nicht!
Karsten S. warf sich genussvoll eines ein, als sein Nebenmann einen Fahren ließ. Weder leise, noch geruchsarm. Karsten S. musste lachen und saugte so den passgenaue Teigtaler an. Der verschloss seinen Atemweg und es wurde ihm erst kalt, dann heiß, dann beides gleichzeitig. Er machte komische Geräusche, ein Grunzen und Röcheln, der Keks steckte fest. Raus aus dem Raum und mit dem Rücken voran in die Garderobe geworfen und endlich war der Weg für neuen Sauerstoff frei. Frau Thieme kam heran und schrie Karsten S. an, der rappelte sich auf und sie schüttelte ihn. Sie war außer sich, ihr Credo stürzte wie ein Kartenhaus ein!
Er war überrascht und sofort auf hundertachtzig. Nach dem ersten Atemzug kam der Reflex und er schwalbte ihr eine. Ordentlich. Mit links auf die rechte Wange!
In der Klasse hat das keiner mitbekommen. Die rote Färbung konnte auch von ihrer angestauten Wut herrühren. Karsten S. jedoch war von allen guten Geistern verlassen und eine lange, sehr lange Kette von Fehlentscheidungen versauten ihm die nächste Woche total, sowie den Großteil seiner Sommerferien.
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Karsten S. befand sich jetzt in einer unmöglichen Situation. Frau Thieme hielt sich die Wange und starte ihn entgeistert an.
Blitzschnell rannte er an der geschockten „Leererin“ vorbei ins Freie. Die frische Luft verschaffte ihm aber keine Abkühlung, sein Geist klarte nicht auf. Er rannte nach Hause, niemand war da, so kurz nach Mittag. Hier steckte er sich den Umschlag mit seinem Jugendweihegeld ein, vom welchen er auch seinen Anteil am Schaden durch die Aktion mit Frank beglichen hat.
Er wollte weg, weit weg!
Also wohin? Zum Bahnhof, der ist gleich um die Ecke!
Dort fuhr als nächstes ein Zug nach Leipzig. Also schnell eine Fahrkarte gelöst, ein Sandwich und eine Cola gekauft und ab in den Zug.
Nun kam er zur Ruhe, aß und trank alles auf, ihm wurde ein wenig warm ums Herz. Nun hatte er endlich Zeit zum Nachdenken.
Wohin wollte er? Das wusste er nicht, dies wird sich in Leipzig finden. Dort war keinesfalls Endstation, dass stand für ihn fest. Zurück wollte er definitiv nicht. Er hatte keine Angst vor den Konsequenzen, welche zwangsläufig durch seinen Ausraster auf ihn zukommen würden. Er war unheimlich traurig und wütend auf sich, dass er so die Beherrschung verloren hatte. Am schlimmsten war, dass alles, was er in den Monaten nach der Jugendweihe aufgebaut hatte, nun wieder im Eimer war. Er schämte sich deswegen, dies war sein größtes Problem. Große Scham und ein riesiger Frust auf sich selbst.
Was soll er sagen, wenn er gefragt wurde, wo er hin will, was er hier alleine macht? Es war Freitag, eine Woche vor den Sommerferien. Das war günstig, er könnte seine Großeltern in äh … besuchen.
Leider hatte er in der Hektik alles vergessen. Kein mp3-Player, kein Buch, nicht einmal seinen Rucksack hatte er mit! Aber genügend Geld, dies verteilte er auf mehrere Taschen und stieg in Leipzig aus.
Den Bahnhof und dessen Umfeld kannte er. Hier war er schon zweimal mit der Schule gewesen, im Zoo und am Völkerschlachtdenkmal. Der Zoo war klasse, ein wahnsinns Aquarienhaus!
Zuerst kaufte sich Karsten S. eine leckere Pizza und Cola, dann noch die BRAVO und erst danach schaute er nach seinem neuen Ziel. Es ist wohl Liebe auf dem ersten Blick, dachte er sich, als er den Namen Dresden las. Jawohl, irgendwie gefiel ihm das sofort und brachte ihn in Hochstimmung. Er kaufte eine Fahrkarte, entwerte diese und stieg ein.
Auch auf dieser Fahrt wurde er nicht mit unangenehmen Fragen belästigt. Er blätterte in der Zeitschrift (was für ein Wurstblatt aber auch) und ärgerte sich erneut über die überstürzte Abreise. Er sah überhaupt nicht wie ein Reisender aus und Utensilien zum Zeitvertreib hatte er auch keine dabei.
Aber er stand Mittag unter riesigem Druck, freitags kommt Mutti Maren nämlich zeitig nach Hause, das wäre problematisch geworden. Schließlich war er viel zu früh Heim und sie hätte ihn sofort angesehen, dass etwas nicht stimmt.
Am späten Nachmittag endlich rollte sein Zug in Dresden ein und entließ ihn in ein neues Abenteuer.
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Hier war er noch nie gewesen und die Stadt nahm ihn sofort gefangen. Die Elbe mit den Raddampfern, dahinter die Altstadt, ein herrlicher Anblick! Die Schiffe kamen nicht in Frage, zu gefährlich. Und so tauchte er in die City ein und fand schnell zur Frauenkirche, darüber hatte er schon gehört und ging auch hinein. So viel Prunk, braucht Gott das wirklich? Und dies in unserer Zeit?
Danach schlenderte er über den Theaterplatz zur Semperoper, aber das Gebäude gab ihn nicht viel. Weiter zum Zwinger, ein toller Bau mit schönem Innenhof. Es gab Stationen für Stadtrundfahrten, aber dazu war es zu spät und auch das traute er sich eigentlich nicht.
Karsten S. wollte nicht auffallen, ein Teenager mit Kunstinteresse? Gefährlich. Also ging er wieder zum Zentrum, holte sich eine Nudelpfanne am Assia-Imbiss und eine Cola. Das war sein Abendbrot und was macht man danach?
Auf einmal fällt ihm die viele freie Zeit auf die Füße. Er bekam echte Panik, was soll er hier den ganzen Tag noch machen und was erst in der Nacht? Da konnte er mit keinem Zug mehr fahren, viel zu gefährlich!
Und noch ein Gefühl beschlich ihn. Ein ganz schlimmes. Heimweh! Er war den halben Tag unterwegs und hat sich dabei immer weiter von Mutti Maren entfernt. Ohne einen Kuss, ohne einen guten Rat von ihr. Heute gab es kein Zurück mehr und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Wenn er an seine Mutter dachte, befiel ihn sofort wieder große Scham. Zu Hause war jetzt bestimmt Terror, Mutti Maren weiß ganz sicher schon von dem Vorfall, schließlich war er schon Stunden überfällig und sein Zeug hat er auch in der Schule gelassen. Das wird irgendjemand zu ihm nach Hause gebracht und seiner Mutter alles Brühwarm aufgetischt haben.
Am liebsten würde er sie jetzt anrufen und Hilfe erbitten. Aber er konnte sich dazu nicht durchringen. Immer tiefer tauchte er in eine schwere mentale Krise ein, diese betäubte immer mehr seinen gesunden Menschenverstand. Obwohl ihm klar wurde, dass ihn in dieser fremden Stadt eine Nacht im Freien bevorstand, wollte er sich keiner Blöße hingeben und das Abendteuer suchen.
Er hatte Geld und damit kann man im Sommer auch ohne ein Dach über dem Kopf über die Runden kommen.
Dachte er.
Und so ging er zurück zum Fluss und schlenderte mit dessen Strömung gehend am Ufer entlang. Lange lange Zeit. Andere Passanten passierten ihn, ohne ihn groß wahrzunehmen. Er dachte über den Tag nach, wägte für und wider einer morgigen Rückfahrt nach Hause ab, kam aber zu keinem Ergebnis. Irgendwie relativierte sich der Zwischenfall, er sah ihn als gar nicht mehr so schlimm an. Und er wurde langsam müde.
Die einbrechende Dunkelheit ließ Karsten S. umkehren, er hatte nun Flussaufwärts die beleuchtete Skyline von Dresden vor sich. Der letzte Raddampfer legte an und machte Feierabend. Ihm taten die Füße weh und ihm fehlte sein Bett. Eine neue Krise bahnte sich einen Weg durch sein Bewusstsein und eine Welle totaler Frustration brach über ihn herein. Er war total müde und die Füße taten weh! So müde! Wie elend lang so ein Tag doch sein kann. Er ist für diesen Unsinn einfach viel zu klein!
Nun tauchte Karsten S. in die dunklen Gassen der Stadt ein und war nur noch auf der Suche nach einem Schlafplatz. So irrte er umher, das Heimweh fraß sich immer tiefer ins Gehirn. Schließlich kam er an einem sehr großen umzäunten Parkplatz vorbei, auf dem einige LKWs herumstanden. Die meisten aus der Tschechei. Er wollte auf einen solchen, sich hinten auf der Ladefläche schlafen legen, egal wohin es morgen geht.
Er umrundete den Platz einmal; zweimal und fand eine beschrankte Ausfahrt. Prima, dachte er sich und schlich hinein und auf einen kleinen Laster zu. Dieser hatte einen Aufbau mit Plane, da müsste man problemlos reinkommen. Karsten S. ließ sich aber noch etwas Zeit, blickte sich lieber nochmal um. Alles ruhig. Also an die Arbeit, er war sehr müde und brauchte unbedingt das Bett!
Die Plane war fest verzurrt, das Gummiseil sehr straff. Er fummelte schon eine Weile daran herum, als er Schritte und Stimmen hörte. Sofort tauchte er ab, wurde dennoch am Schlafittchen gepackt und heftig nach oben gezogen.
Was für ein neuerlich frustrierender Augenblick. Elend, absolutes Elend überrollte ihn. Schon in dieser kurzen Zeit begriff er seine erbärmliche Lage. Warum ist er nicht bei Mutti Maren und sucht mit ihr nach einer Lösung für seinen Ausraster? Was ist mit der ganzen Hoffnung, welche er ihr in den letzten Wochen gegeben hatte? Er steigert alles ins Extrem, so schlimm war das mit Frau Thieme doch gar nicht gewesen!
Er wollte sich losreisen, aber die Hände hielten ihn fest. Zwei Männer, wohl die Fahrer selbst, hatten ihn erwischt! Schlimmer ging`s nicht! Doch, denn schon fuhr die Polizei vor und zwei Beamte kamen schnurstracks auf ihn zu. Karsten S. fing an zu wimmern, er war jetzt nur noch ein Häufchen Elend, welches begreift, dass die Reise zu Ende ist.
Die Beamten redeten gar nicht erst mit ihm, sie verfrachteten Karsten S. in den Fond ihres Wagens und unterhielten sich angeregt mit den beiden Männern vom Parkplatz. Er war Luft für sie. Auch auf der Fahrt ins Revier wurde er weiterhin völlig ignoriert. Höchststrafe!
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Tipp: Kaum zu glauben, wie sicher man sich in so einem Polizeiauto fühlt. Es gibt zwar keine Türgriffe im Fond, aber selbst als, sagen wir mal „Strandgut“, ist es ein nicht unangenehmes Gefühl, in einem Streifenwagen chauffiert zu werden. Ja, gerade hier drinnen ist die Polizei „Dein Freund und Helfer“, probier es aus!
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Mit „Karsten Sorge?“, wurde er morgens geweckt. Er war blitzartig wach und hätte fast mit „Karsten S.!“ geantwortet. So huschte ihm ein schüchternes „Ja?“ über die Lippen. Eine junge Uniformierte brachte ein Tablett mit einem kleinen Frühstück. „Essen und dann geht es auf Reise.“ war ihre kurze, aber durchaus freundliche Mitteilung. Er fühlte sich sofort zu ihr hingezogen, ahnte aber, dass er sie nie wiedersehen würde.
Das belegte Brötchen und der Automatenkakao waren schnell vertilgt, nicht lange danach kam ein großer Beamter und geleitete ihn ohne ein einziges Wort zu einem Transporter. Hier nahm Karsten S. hinten Platz, die Fahrerkabine war abgetrennt, lediglich ein kleines Guckloch war mit einer Schiebtür verschlossen. Ob der Polizist oder jemand anderes nun hinterm Steuer saß, konnte er nicht erkennen, auch die Sicht nach draußen war sehr spärlich und vergittert.
Los ging die Fahrt. Eine lange Fahrt. Und wohin? Er hatte ganz schön mit Beklemmungen zu kämpfen. Wollte er es nicht gestern Abend genau so? In einem LKW schlafen und dann sehen, wohin die Reise geht? Da hätte er auch nicht einfach aussteigen können, wäre ein anonymer Reisender mit einem unbekannten Ziel gewesen.
Aus seiner Sicht jetzt eine dumme Idee!
Es sind Autobahnschilder, welche vorbeirasen. Erst Wilsdruff, dann Nossen und da steht schon wieder Leipzig auf dem großen blauen Schild. Aber es geht weiter nach Halle. Hier verlässt das Fahrzeug die Autobahn und fährt in die Saalestadt.
Oh oh, wo geht es denn jetzt hin? Definitiv nicht nach Hause, was für ein Jammer! Ängstlich versucht Karsten S. Details zu erhaschen. Aber er kennt sich in Halle nicht aus, er muss sich überraschen lassen. Der Transporter fährt langsam durch ein großes Tor und hält an einer Rampe an. Dort stehen zwei Beamte und kommen auf ihn zu. Aber erstmal wird da draußen leise geredet, einer sächselt enorm! Schließlich ist es soweit, die Tür wird geöffnet und er darf aussteigen.
Wenn nur Mutti Maren hier wäre! Karsten S. fehlt jegliche Kraft, auch nur ansatzweise Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Als ein Häufchen Elend schlürft er den Beamten hinterher. Und so tritt er ein in die Jugend-Vollzugsanstalt „Roter Ochse“ zu Halle.
Er ließ das Willkommensprozedere über sich ergehen, da wurde ihm hinter und in die Ohren, den Mund und unter die Zunge, sowie die Achselhöhlen und zur Krönung in den Hintern geguckt. Wie tief kann man noch sinken? Ihm wurde alles abgenommen, er bekam neue Sachen, ein Handtuch sowie Zahnbürste. Nach dem Ankleiden wurde er in eine Unterkunft eingewiesen, darin standen vier Doppelstockbetten. Zwei waren noch frei, er durfte sich eins Aussuchen.
Momentan war er allein, zum Mittagessen würde er seine neuen „Freunde“ kennen lernen. Ja wie spät ist es eigentlich? Er sah sich um, eine Uhr gab es nicht. Aber einen kleinen runden Tisch und drei (!) Stühle. Da würde bestimmt keiner ihm gehören. An jedem Bett war ein kleines Doppelschränkchen, viel hatte man eh nicht, um es dort zu Verstauen. Und es stand ein Eimer in der Ecke mit einem Deckel, groß und schwer.
Eine laute Klingel ertönte, mit der Durchsage: „Jugendfreund Sorge aus dem Zimmer treten!“ wurde er aufgeschreckt und folgte dieser Aufforderung. Ein Erzieher kam ihn abholen und zeigte Karsten S. den Weg zur Kantine. Dort trafen aus allen Richtungen ebenfalls Jugendliche ein und bildeten eine lange Schlange vor der Ausgabe. Alles sehr geordnet, alles sehr ruhig. „Hier musst Du mitschwimmen, dann kommst du durch!“, dachte er sich.
Der Erzieher will nach dem Essen mit ihm einen Rundgang durch die Anstalt machen, er solle einfach sitzen bleiben, wenn alle anderen gehen. Appetit hatte er nicht und das bisschen Hunger verging, weil ihn viele, nein, eigentlich alle neugierig bis abschätzend beäugten.
Das Essen war soweit ok, doch er stocherte lediglich darin herum. Wieder diese Klingel, alle erhoben sich, nahmen ihr Geschirr und brachten es weg. Wieder alles sehr geordnet und ruhig. Erst jetzt konnte er etwas essen, als die Meute den Saal verlassen hat. Der Erzieher ließ ihn gewähren, Karsten S. beeilte sich dennoch sehr und brachte sein Geschirr brav weg.
Der Weg war frei, sie gingen auf die Runde. Der Erzieher hieß Herr Heidenreich und war durchaus nett. Vielleicht bildete er oft das Empfangskomitee und war sehr wandelbar. Seine „dunkle“ Seite lernte man bestimmt erst später kennen. Auf jeden Fall fühlte sich Karsten S. durch ihn geborgen und beschützt.
Ein großer Waschraum für die Jungs, `zig Waschbecken an den Wänden mit Spiegeln darüber. Es gab Spender für Seife und Zahnpasta. Und offene Duschkabinen mit Spendern für Duschgel und Haarwäsche. Alles sehr sauber, „Das halten die Jungs selbst in Ordnung. Übrigens auch das Geschirr, sogar das Essen wird selber zubereitet. Natürlich alles unter Anleitung und Aufsicht.“, erfuhr er.
Zwei Schulräume schließen sich an, hier wurde auch gelernt! Die Großen arbeiten in Werkstätten, in den Ferien tun dies alle anderen auch. Oder pflegen den Garten, es gibt immer etwas zu tun! Dann gehen sie durch eine Werkstatt, hier wird aus Holz allerlei Zeug gebaut. Vogelhäuser, Gartenbänke, Zahnstocher und vieles mehr.
Alle Räume sind verwaist, obwohl sie deutliche Anzeichen einer momentanen Benutzung zeigen. „Es ist noch eine kurze Mittagsruhe, geht aber bald wieder los. Dann gehst Du wieder auf dein Zimmer und versuchst dich zu akklimatisieren, bevor Du nachher auf Deine Kollegen triffst.“ weist Herr Heidenreich in an. „Und dann kommst Du zum Vesper. Lass dich einfach vom Gruppenzwang leiten, hier sind alle Herdentiere. Versuch dich danach mit ihnen beim Fußball auf dem Bolzplatz im Hinterhof, vielleicht kommst du dann hier gut rein.“
Sofort flattern Karsten S. wieder sämtliche Nervenstränge und schon schallt die Klingel wieder durch das Gebäude! Er ging entgegen aller zurück zu „seinem“ Zimmer und legt sich aufs Bett. Angst, die blanke Angst rauschte durch seine Venen, die Zeit bis zur nächsten Klingel soll bitte ewig dauern!
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Machte sie aber nicht, er muss zum Vesper. Wieder zurück in der Speisesaal zu den Verrückten. Doch so schlimm sind die gar nicht! Wieder alles sehr geordnet und ruhig, einige schauten ihn erneut neugierig an. Trotz des gutgemeinten Ratschlags von Herr Heidenreich machte Karsten S. nicht beim Bolzen mit. Lieber drückte er sich im Abseits herum, fand das Spiel aber lustig. Über alles, was irgendwie Stress von ihm abhielt, war er äußerst dankbar.
Siehe an, der erste kam und sprach Karsten S. an. Was er wohl verbrochen habe, um hier zu landen. Völlig überrumpelt gab er an, seinen bekloppten Lehrer verprügelt zu haben. Hm, warum tat er denn das? Muss man hier drinnen tatsächlich versuchen, jemanden zu beeindrucken? Warum gibt er kein pauschales „Hab` Mist gebaut.“ an? Aber so interessant erschien er dem Fragesteller nicht, da dieser sich schon wieder aus dem Staub machte.
Bald gab es Abendessen und dann ging es ganz schnell. Waschen oder Duschen, Pflege der Kauleisten, alles unter Aufsicht, schon komisch. Doch Karsten S. dämmerte es, dass dies irgendwann zur Routine werden würde. Aber eigentlich wollte er hier gar nicht so lange bleiben. Er wollte nur zu seiner Mutti Maren!
Das Licht wurde schnell abgeschaltet, durch das kleine vergitterte Fenster kam natürlich noch jede Menge Sonnenlicht. Wie spät war es eigentlich? Mensch, hier drinnen verlernte er noch die Uhr!
Irgendwie wollte keiner so richtig etwas von ihm wissen. Der Fragesteller vom Bolzplatz lag ein Bett weiter, dennoch war er Luft. Naja, vielleicht muss man erst jemand den Schädel einschlagen, um hier wahrgenommen zu werden. Doch eigentlich gefiel ihm es so wie es war, er blieb lieber anonym und unbeobachtet. Er kam sich eh wir das Küken unter Geiern vor.
Einer von den Großen klopfte ständig an seine Wand und bekam daraufhin etwas zurück geklopft. Alle im Zimmer kommentierten diese Zeichen mit lustigen oder abfälligen Äußerungen, Karsten S. verstand kein „Wort“.
Nun erlebte er auch die Funktion des Eimers in der Ecke. Einer stand auf und pinkelte stehend hinein. Igitt! Im den nächsten gefühlten zehn Minuten mussten so ziemlich alle mal, einer seilte sogar einen Teddyarm ab. Da war sogar Klopapier! Warum machten sie ihr Geschäft nicht vor der Nachtruhe, das wird doch bald Stinken?
Es gab dann noch weitere, anscheinend sehr belustigende Klopfdiskussionen, darüber schlief unser kleiner Antiheld jedoch ein.
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Klingeln, überall klingelte es. Karsten S. wähnte sich in einem Glockenturm, nur alles mit elektrischem Geläut. Er fand dann aber zügig an die Oberfläche seines Bewusstseins und registrierte benommen die Klingel der Haftanstalt.
Was für ein Erwachen, er war völlig gerädert. Und sofort fühlte er sich unwohl, als Fremdkörper in dieser Zwangsgemeinschaft. „Alles Antreten!“ plärrte es aus dem Lautsprecher und tatsächlich, alles rollte sich aus den Betten und reihte sich im Flur auf. Wo war das obligatorische „Gute Morgen!“? Karsten S. folgte dem Herdentrieb und stellte sich ganz hinten an. Ein Erzieher, streng blickend, baute sich vor den Jungs auf. „Norman, ist etwas in dem Eimer?“ wollte er wissen und schaute den Großen, welcher gestern Abend sich einen abgeklopft hatte an. Norman sagte: „Jawohl, jede Menge von allem!“ und fand das total witzig. „Herbringen und Entsorgen, sofort!“ blaffte der Erzieher zurück. Doch Norman schaute irritiert und setzte an: „Das machen doch immer die Neuen …“ und bekam sofort einen ordentlichen Tritt ans linke Schienbein. Das tat ihm sichtlich weh. „Nochmal?“ fragte der Erzieher. Norman machte sich humpelnd auf den Weg.
Alles schaute Karsten S. an, sogar der Erzieher. „Der Junge wird in Ruhe gelassen, um den kümmere ich mich persönlich!“. Ihm wurde heiß und kalt, gleichzeitig.
Nun kam aber schon die Routine ins Rollen, das geht sehr schnell. Er folgte wie das Lamm den Schafen seiner Truppe in den Waschsaal und danach zum Frühstück. Bis auf drei Jungs ging es danach in den Schulungsraum. Die anderen haben die Schulzeit vorzeitig beendet und müssen herumwerkeln.
Hier ging es recht normal zur Sache, alles war auf Selbststudium ausgelegt, da die Jungs verschiedenes Alter hatten, aber man war beschäftigt. Karsten S. hatte natürlich keine Nerven für solche Nebensächlichkeiten, mit ihm trieb sein Selbsterhaltungstrieb ein schlechtes Spiel. Aber der Lehrer zeigte dafür Verständnis, er schien eh mehr eine Aufpasserfunktion zu haben.
Karsten S. kam ein wenig mit den anderen ins Gespräch, aber die Wellenlänge passte gar nicht. Er fühlte sich ein wenig wohler, nicht mehr so gehetzt.
Nach dem Mittagsessen ging es für ihn nicht zur Ruhe, er musste zum Erzieher ins Büro. „…um den kümmere ich mich persönlich!“ hämmerte es sofort durch seinen Schädel. Mit was, Strom etwa? Ja, unser Karsten S. war am Arsch!
Ihm wurde auf wirklich nette Weise erläutert, dass er kein Verbrecher wäre. Er hat Scheiße gebaut, aber das weiß er selber. Dies hier ist definitiv nicht sein Umfeld, er braucht seine Familie, seine Freunde. Wenn er jetzt da draußen jemanden mächtig vor die Karre gefahren ist, so wird er das wieder hinbiegen.
Und die Sache mit dem Eimer war ein abgekartetes Spiel, sein Kollege aus der Nachtschicht kennt die Klopfzeichen. Die haben sich bei der Abendtoilette alle etwas aufgespart, um ihn am Morgen einen ordentlich gefüllten Eimer zu kredenzen. Deswegen habe er sich den Drahtzieher vorgeknöpft und Karsten S. daraufhin unter seinen Schutz gestellt.
Er attestierte Karsten S. einen guten, einen weichen Kern. Achten solle er auf schlechte Einflüsse, sich lieber ein solides Umfeld suchen, auch wenn dies ihm momentan langweilig erscheint. „Ach ja, Deine Mutter ist hier, sie will dich mitnehmen.“ kam abschließend als Satz, welcher Karsten S. umhaute. Er schluchzte wie ein Baby, der Erzieher lehnte sich zurück und schaute ihn eindringlich an. „Ich will dich hier nie wieder sehen!“
So ein schöner Satz, im Kopf unseres Lieblingsprotagonisten erklang das lieblichste Glockenspiel, was er je vernommen hatte. Nicht diese schrille Anstaltsklingel, mehr das zarte Porzellangebimmel am Dresdner Zwinger.
Noch einmal vernahm er beim Abschied die Klingel, er würde sie nie wieder hören.
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Mutti Maren stand völlig aufgelöst als ein kleines Etwas im Gästeraum der Anstalt. Ihr Großer hatte all seine Sachen wieder und stürzte auf sie zu. Sie wendete sich sofort ab, ließ ihm keine Chance für eine herzliche Umarmung. Da war etwas zerbrochen in ihr!
Draußen wartete Mutti Marens Freundin in ihren Wagen, Jens war nicht da. Sie rutschte wortlos in den Beifahrersitz. Karsten S. stieg hinten ein. Er registrierte sofort, dass die Türen sich von innen öffnen ließen. Warum auch nicht, war doch schon immer so !?!
Mutti Maren sagte auf der Heimfahrt nur einen Satz: „Ich habe dir Rouladen gekocht.“ Ihrer Freundin rollten die Tränen hemmungslos über die Wangen, fuhr sie aber sicher nach Hause.
Karsten weinte still in sich hinein, sagte aber nichts.
Es soll schon Idioten gegeben haben, welche in ähnlicher Konstellation auf den von Liebe zeugenden Satz mit den Rouladen geantwortet haben, dies wäre ihm egal. Da soll der Taxifahrer dieser kleinen Familienzusammenführung zitternd vor Wut dem Teenager an die Wäsche gewollt haben. So zumindest wurde mir berichtet, als ich einem Freund diese Szene zwischen Mutti Maren und Karsten S. erzählte. Dieser Freund sah Karsten S. dadurch wesentlich positiver. Warum nur irren sich so viele Menschen in ihm?
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Er kam Heim, es gab lecker Rouladen, er ging die letzte Woche vor den Sommerferien zur Schule, bekam sein Zeugnis, er war da und war es nicht. Er war aber nicht lobotomiert worden, keiner hatte in seinem Gehirn rumgerührt. Aber er bekam keine Zuneigung von Mutti Maren und das verkraftet er überhaupt nicht!
In den ersten beiden Ferienwochen musste er für einen gemeinnützigen Zweck arbeiten. Ein Jugendrichter hatte ihn in seiner Abwesenheit dazu verknackt. Mutti Maren hatte sich darum kümmern müssen und ihm eine Stelle im Krankenhaus verschafft. Geld gab es natürlich keines, das Wäscheplätten im Keller war trotzdem ok.
Er stand unter Beobachtung, über ihn wurde berichtet und Mutti Maren litt wegen ihm. Es öffnete sich ein neuer Teufelskreis. Liebe aufbauen ohne Vertrauen auf deren Beständigkeit, ohne Vertrauen mehr in das eigene Kind. Das ging bei Mutti Maren nicht. Zu oft wurde sie enttäuscht. Da war der Erzeuger, das ist lange vergessen. Da ist Karsten S., welcher stets präsent und nun bedrohlich auf sie wirkte. Nicht durch physische Gewalt, nein. Aber ständig die Angst, nein, die Gewissheit, da kommt bald der nächste Hammer! Damit kam sie nicht mehr klar und dies konnte sie auch nicht verstecken. Und so erkaltete die Beziehung zwischen ihr zu ihm.
Karsten S. registrierte das schmerzlichst. Er war sehr sensibel, er merkte, wie er auf andere wirkte. Unter dem Leid seiner Mutter litt er ebenfalls, fand aber keine Kraft, irgendwie positiv darauf einzuwirken. Allmählich schwante ihm, dass es mit ihm immer wieder große Probleme geben würde. Fehlt da vielleicht ein Vater? Ach was, das hätte schnell zu einen handfesten Konflikt geführt. Mutti Maren konnte sich ja auf ihn konzentrieren, da Jens absolut problemlos war. Aber er tickte eben immer wieder aus, das wurde ihm klar.
Und so entfernte auch er sich mental von seiner Mutter, um sie zu schützen, es selber leichter zu haben. Es kostet nämlich unendlich viel Kraft, einer Liebe hinterher zu hecheln, die man nicht bekommt!
Nach den beiden Wochen im Krankenhaus, hatte er ein kleines Anhängsel, Ina. Sie war zur Ferienarbeit in der Klinik und lief Karsten S. dadurch immer wieder über den Weg. Sie war nicht die hellste, aber sehr lieb und sexy. Aber, aber, kein naives Blondchen, was ihr wieder denkt !?! Mit ihr verbrachte er den Großteil der restlichen Ferien, er war nicht oft zu Hause. Leider konnte sie die fehlende Liebe von Mutti Maren nicht ersetzen und so brach die Beziehung kurz vor dem neuen Schuljahr auseinander.
Karsten S. steckte das gut weg, sie war ihm ein netter Zeitvertreib in einem sonst so oft von Langeweile geprägten Sommer. Zum letzten Schuljahr wollte er nochmal angreifen, er hatte gute Vorsätze, denn es galt auch, eine Lehrstelle zu finden.
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Und so schlitterte er in sein nächstes, langwieriges Abenteuer. Herr Hancke, der neue Englischlehrer betrat die Bühne. Ein Lackaffe vor dem Herrn, jung, drahtig, egozentrisch und mit Stielaugen auf die taffen Mädels in seiner Klasse. Karsten S. wusste, er hatte bei denen keine Chance, alle Jungs im übrigen auch nicht, aber eine heiße Favoritin hatte er dennoch heimlich (alle anderen bestimmt auch). Beatrice, welch Engel!
Hancke bemerkte sie ebenfalls sofort, auch ihre kleinen Defizite und schnell war sie ständig das Opfer für seine doofen Witzchen oder Sticheleien. In Karsten S. erwachte der Beschützerinstinkt, warum kann er sich nicht einmal heraus halten? Er brachte seinerseits stets bissige Spitzen, wenn sich Hancke an Beatrice heranmachte oder sie verspottete. Dazu kommt noch, dass beide sich sahen und sofort wussten, dass sie sich nicht mögen!
Fest steht, Hancke machte den ersten Fehler. Ein Lehrer, auch wenn es sein allererstes Jahr an einer Schule ist, darf auf keinem Fall seine Zu- und Abneigungen zur Schau stellen. Erst recht nicht in einer Klasse, in der die Hormone verrückt spielen!
Jedenfalls hatte Karsten S. in kurzer Zeit sechs Fünfen hintereinander, damit war er Abschlussgefährdet. Daraufhin musste er zusammen mit Hancke zum Direktor, dies erzürnte den Lehrer natürlich. Beiden wurde Mäßigung nahegelegt, klipp und klar bekam jeder eine Teilschuld zugesprochen.
Eindeutig ein Tiefschlag für Hancke! Karsten S. wusste dies als Sieg für sich zu werten, wollte aber auch zum Ziel zurück, etwas für sein Halbjahreszeugnis zu tun.
Es ging ganz gut weiter, Hancke änderte ebenfalls sein Verhalten und ließ Beatrice in Ruhe. Die Noten von Karsten S. wurden gut. Jedoch überspannte er wieder einmal den Bogen. Seine Spezialität war ja wirklich, aus kleinen Dingen ganz große Sachen zu machen. So hatte er total vergessen, ein Gedicht zu lernen. Dreimal könnt ihr raten, wer dieses als erstes Rezitieren durfte. Ja, ihr Hellseher, unser Lieblingsprotagonist natürlich!
In die Ecke getrieben, machte er den Fehler, nicht zuzugeben, dass er es verpennt hatte, zu lernen. (Vor allem wäre jetzt für mich die Reaktion von Hancke interessant gewesen: zeigt er Größe?) Nee denkste, Karsten S. fragte unverdrossen, ob er das Gedicht nicht in der Fischsprache vortragen dürfte. Hancke stimmte dem überrumpelt zu.
Also baute sich unser Entertainer vor der Klasse auf und bewegte lautlos seine Lippen, den Atmen eines Fisches nachahmend. Die meisten johlten, wenige sahen durchaus erschrocken aus. Herr Hancke lief Krebsrot an, zitterte am ganzen Körper und kam mit erhobenen Fäusten auf Karsten S. zu. Dieser nahm sofort eine Verteidigungsstellung ein, Hancke stand ihm bebend gegenüber. Ein Augenblick der Besinnung, dann verließ der Lehrer den Klassenraum.
Und dann ward Ruhe.
Herr Hancke kam nicht zurück, Karsten S. setzte sich einfach auf seinen Platz und guckte ins Buch. Die Stunde endete, eine bedrückende Lähmung herrschte in der Klasse. Alle verließen den Raum, Karsten S. ging nach Hause, für ihn war der Tag gelaufen.
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Diese Geschichte führte zum endgültigen Bruch mit seinen Mitschülern. Im Nachhinein haben auch jene, welche das erst lustig fanden, schnell verstanden, dass der Bogen weit überspannt wurde. Immer wieder waren sie durch Karsten S. verärgert worden, jetzt hat er es endgültig übertrieben. So etwas macht man mit keinem Lehrer, das ist geistige Körperverletzung.
Karsten S. kam am nächsten Tag wieder in die Schule und hatte eine Entschuldigung von seiner Mutter für die beiden verpassten Stunden am Vortag mit. Mutti Maren erfuhr nichts davon, sie glaubte ihn sein Unwohlsein. Eigentlich war es ihr sogar egal.
Keiner redete mit ihm, er war völlig isoliert. Er gab sich selber sehr defensiv, suchte ebenfalls keinen Kontakt. Schau an, hat er es selber begriffen, was passiert war? Etwas spät, da hilft auch keine Einsicht, manche Dinge muss man sich einfach vorher überlegen.
Wir können uns vorstellen, wie schwer der Schritt für Hancke war, wieder vor die Klasse zu treten. Zum Glück waren einige Tage vergangen, Zeit heilt bekanntlich Wunden. Alle? Mitnichten! Hancke zeigte aber Größe, er war nicht zum Direktor gelaufen, benotete die Darbietung von Karsten S. auch nicht, schließlich hatte, er unwissentlich zwar, zugestimmt. Er behandelte Karsten S. neutral, Hilfe durfte dieser jedoch nicht mehr erwarten.
Der Vorfall machte keine Runde durch die Schule oder in die Elternhäuser. Alle Beteiligten schämten sich zu sehr, als dass jemand darüber redete. So ging der normale Alltag weiter, Karsten S. lediglich mit dabei, nicht mehr mittendrin.
In der Schule war er ein Außenseiter, er besaß aber einige Kumpels aus seiner alten Schule immer noch. Diese Beziehungen hat er nie ganz abreißen lassen. Und so kam er klar, er fuhr zweigleisig. Er trennte schulisches vom privaten, war keiner Seite Rechenschaft schuldig. Langsam entspannte sich das Verhältnis zu seinen Mitschülern wieder, aber er blieb ein gebranntes Kind, zu dem es keinen wirklich hinzog. Er beteiligte sich bei den gemeinsamen Aktivitäten, dies aber eher passiv.
Das Halbjahreszeugnis war in Ordnung, in Englisch lag er auf 3. Gut, den Umständen entsprechend. So wagte er sich an ein für ihn äußerst wichtig gewordenes Thema, der Lehre. Er hatte einen Plan, der Beruf selber war zweitrangig. Er wollte weg von hier, alle Brücken abreißen. Und so bewarb er sich in Nordhausen für die Ausbildung zum Berg- und Maschinenmann. Da gab es ein Internat, keiner würde ihn kennen, er konnte völlig von vorn beginnen.
Toller Plan, die Rechnung ging auf, er wurde unerwartet schnell angenommen. Mutti Maren war zuerst bestürzt, verstand dann aber seine Motivation. Sie hatte mitbekommen, dass seine Verhältnisse hier zerrüttet waren. An den Wochenenden würde er ja nach Hause kommen, seine Wäsche musste doch gewaschen werden. Vielleicht lief es dort besser für ihn, vielleicht kam er endlich zur Ruhe.
Und so kam der Frühling, danach der Sommer, die Schule war vorbei. Zur Abschlussfeier ging er, das wurde sogar ein richtig schöner Abend. Viele waren auch sehr umgänglich mit ihm, vielleicht weil sie wussten, dass sie ihn los waren? Es könnte auch am Alkohol gelegen haben, viele waren noch nicht so vertraut mit diesem Element.
Karsten S. kam erstaunlich prima mit Beatrice klar, er durfte sie sogar nach Hause begleiten. Seine heiße Flamme, was für ein Finale! Ihr Stecher war nicht da, so sprang er zumindest als Kavalier ein. Sie war nicht mehr ganz nüchtern, Karsten S. hatte viel getrunken, konnte aber bereits viel vertragen. Im Hausflur wollte sie mit ihm Rumknutschen, er machte mit. Aber sofort stieß sie ihn zurück und mäkelte, er könne überhaupt nicht küssen!
Ihr war er jahrelang nachgerannt und nun das! Er blieb dennoch ruhig, gab ihr einen kleinen Schmatzer auf die Wange und sagte Adieu. Karsten S. wollte den großen Abgang. Dann war er weg, sie sah ihn nie wieder.
Schon in den gesamten Ferien bekam ihn kein ehemaliger Mitschüler mehr zu Gesicht, im Brückenabreißen war er sehr konsequent. Und dann ging es, bis auf die spärlichen Besuche bei Mutti Maren, für immer nach Nordhausen.
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„Ich bin Bergmann, wer ist mehr?“
Ja, genauso kann man einen neuen Lebensabschnitt würdevoll beginnen. Und so beeindruckte Herr Ehlers unter anderem auch Karsten S.! Ehlers war ein kleiner kerniger Kerl, zwar in die Jahre gekommen, aber unheimlich dominant und total von dem überzeugt, was er referierte. Er erinnerte Karsten S. an den Aufseher in Halle, jenen, der ihn nie wiedersehen wollte. Er flößte einem enormen Respekt ein und man bewunderte ihn. Da stand ein echter Füller, Hauer und Steiger, ein Schachter, der sich hochgearbeitet hat, diesem Mann glaubte man!
Die beiden Jungs auf seiner Bude waren ruhige Zeitgenossen, Mike und Heiko aus Halle. Sie kannten sich schon aus ihrer Schule und nahmen Karsten S. recht schnell in ihre Mitte. Karsten S. ließ hier natürlich wieder sein Talent aufblitzen, unscheinbar und devot zu wirken. Und er hatte tatsächlich auch vor, diese Bescheidenheit in der neuen Runde zu behalten.
Ihn beeindruckte das gesamte Umfeld mächtig, hier waren echte Männer, welche auch aus ihnen ganze Kerle machen wollten. So wurde er schnell in die Trainingsgruppe Kraftsport aufgenommen, irgendwie hatte die Sportlehrkraft Master Michel (der wollte tatsächlich so angesprochen werden) einen Narren an ihn gefressen. Michel hatte keine Ahnung vom Bergbau, aber vom Gewichte bolzen und Mädchen stemmen.
Na herzlich Willkommen Karsten S., das bringt dich bestimmt weiter …
Er fand sich prima zurecht, war der Beste seiner Klasse und blühte richtig auf. Leider auch sein Selbstbewusstsein, was sich nach und nach klangheimlich zu einem regelrechten Monstrum aufblähte. Seine Zimmerkumpels Mike und Heiko sahen sich das eine Weile an, dann entschieden sie zu reagieren. So wollten sie Karsten S., mal wieder aus dem Kraftraum kommend, nicht auf ihre Bude lassen und stemmten sich von innen gegen die Tür.
Dieser sich von außen ebenfalls, völlig überrascht ob der Gegenwehr. Ihn kam überhaupt nicht in den Sinn, nach der Ursache zu fragen, er wollte in SEIN Zimmer. Bald steckte er zwischen Rahmen und Tür, die Klinke im Rücken. Seine beiden Kontrahenten stemmten sich mit allem was sie hatten dagegen. Nun kochte Karsten S. langsam über, es tat jetzt wirklich weh und zurück ging es auch nicht mehr.
Fragen, Reden, Relativieren?
Nö, der Kampf ging weiter und dann war er drinnen. Hatte Mike oder Heiko etwas zurückgesteckt?
Aber jetzt: Fragen, Reden, Relativieren!
Mitnichten, Karsten S. griff sich das erste, was er in die Hände bekam und drohte den beiden mit dem Kehrblech aus dem Eimer hinter der Tür. Mike und Heiko war die Angst deutlich anzusehen, dies beruhigte unseren Protagonisten, es schien ihn zufrieden zu stellen.
Ganz klar, er hat diesen Kampf nicht gewollt und dennoch gewonnen. Er hat jedoch auch nichts zu einer Entschärfung des Konflikts beigetragen. Karsten S. hat nichts dazu gelernt!
Er ließ die Schaufel sinken, zitternd am ganzen Körper. Da war viel Adrenalin unterwegs, aber er schüttelte es ab. Auch Mike und Heiko entspannten sich und nun endlich wurde geredet. Ein arrogantes Arschloch wäre er in kürzester Zeit geworden, ganz anders, als am Anfang ihrer Gemeinschaft. Schnell waren sie auf der Straße und saßen beim Bier im Biergarten um die Ecke.
Heute haben alle Drei dazu gelernt. Es wurde Tacheles geredet und Karsten S. empfand diese Erfahrung als sehr angenehm (natürlich auch das Wissen, beide im Kampf besiegt zu haben).
Für uns bleibt festzuhalten, das für ihn diese Art von Erfahrung, einen so positiven Lernprozess aus einem Konflikt heraus zu generieren, die letzte ihrer Art war. Es geht abwärts, dem Sicherungsseil seines Aufstiegs gehen langsam die Fasern aus.
Zum Halbjahr konnte Karsten S. seiner Mutti Maren ein überaus gutes Zeugnis präsentieren. Sie war innerlich völlig aufgelöst und zerrissen. Auf der einen Seite freute sie sich unheimlich für ihr Problemkind, auf der anderen bedauerte sie zutiefst, in den letzten Monaten nichts davon mitbekommen zu haben!
Wie auch, er war ja nie da! Und wenn, dann stellte er den Dreckwäschekoffer am Freitagabend ab und nahm am Sonntagnachmittag alles gewaschen und gebügelt wieder mit.
Karsten S. lud Mutti Maren zum Dinner in seiner neuen Heimat ein, sie war zur Zeugnisausgabe extra mit dem Zug angereist. Und er brachte sie unbewusst zum schmunzeln. Vor dem Hauptgang legte er wie früher als kleiner Wurm seine Gabel und Messer möglichst weit auseinander, stets in unbewusster Hoffnung, dadurch ein besonders großes Mahl serviert zu bekommen.
Schön, diese kleinen Dinge des Lebens! Und jetzt war er ein echter Kerl geworden. Zwar nicht größer als einsachzig, aber wohl proportioniert.
„… und, hast du eine Freundin?“, Mutti Maren ging aufs Ganze. „Nö, mal dies und das, aber die treten ihre Hühner hier selbst.“, wiegelte er ab. Das war so eine Redewendung vom Master Michel, welcher seit Jahren seine Jungs penetrant animierte, in diese Hierarchie einzubrechen.
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Im zweitem Halbjahr lief eigentlich alles in geordneten Bahnen und Karsten S. brach in die Nordhäuser Rangordnung ein. Hätte ich wegen IHR auch gemacht, wenn ich mehr Eier gehabt hätte …
Simone war seine Auserwählte und er auch ganz nach ihrem Geschmack. Eigentlich brach gar nicht Karsten S. in die Hackordnung ein, sondern Simone aus deren aus. Sie forcierte nämlich gewaltig den Kontakt zu ihm, so klein sie auch war, Mumm hatte sie.
Eine negative Entwicklung jedoch etablierte sich sukzessive bei vielen Jungs, die Sauferei. Mike, Heiko und Karsten S. waren oft im Biergarten oder dessen Wirtshaus und gaben sich dort regelmäßig die Kante. Manchmal gleich nach Feierabend, dann ging es ohne Abendbrot ins Bett und morgens wieder auf die Schulbank bzw. in die Werkstatt. Manchmal blieb früh auch einer liegen, meistens natürlich unser aller Liebling.
Mutti Maren bekam ihn nun kaum mehr zu Gesicht, sie wusste aber durch die Telefonate den Grund, welcher ja ein Guter zu sein schien.
Karsten S. schaffte den Spagat zwischen Ausbildung, Freundin, Kraftsport und Sauferei. An den Wochenenden war er mit Simone allein, seine Kumpels gaben ihr Geld zu Hause in Halle aus. Um seine Dreckwäsche kümmerte sich die Mama von Simone, vor allem sie war sehr froh über den Fang ihrer Tochter, Karsten S. hatte einen ausgezeichneten Ruf im Umfeld des Internats. Ihr Vater war da eher skeptisch, er kannte die jungen Schachter zur Genüge.
Er rasierte sich jetzt das Schamhaar ab, welches jedoch die schockierende Erkenntnis erbrachte, dass sein Schniepel dadurch nicht wirklich viel größer wurde. Simone machte das wenig aus, sie mochte eh viel mehr seine Einmaligkeit, er war definitiv total anders als die Anderen!
Sie verbrachten ruhige Wochenenden in Nordhausen, Simone war sehr auf viel Schlaf bedacht. „Schlaf ist die neue Art von Luxus!“, sagte sie immer. Sie waren viel in der Umgebung unterwegs, gingen kaum in Kneipen, bekochten und bemutterten sich weitestgehend selbst. Der Wochenbeginn war störend, aber er ging immer äußerst ausgeglichen in den neuen Zyklus.
Im späten Frühjahr, die Abende waren jetzt wieder warm, saßen sie endlich wieder in den Biergarten. Karsten S. übertrieb es einmal mehr mit der Sauferei, war mental saugut drauf, wie er fand. Mike und Heiko ließen ihn dann bald allein. Es waren auch andere Kerle aus Nordhausen da, Simone wie so oft unter der Woche nicht. Viel wusste er nächsten Mittag, als er endlich erwachte, nicht mehr, nur, dass er irgendwie hin und her gestoßen und wohl auch getreten worden war. Und so sah er auch aus!
Karsten S. ließ sich viel Zeit, um in den Spiegel zu schauen. Die Schürfwunden an den Armen hatte er schon im Bett entdeckt, sein Kopf fühlte sich ähnlich porös und etwas verschoben an. Ein blauroter Halbmond ging bald Stück für Stück im Badspiegel auf, wie seine rechte Gesichtshälfte war auch dieses Auge blutunterlaufen, die Nase tat enorm weh und knisterte beim Abtasten. Alles im allen nichts gefährliches, aber sehr unschön und äußerst schmerzhaft.
Simone kam, sie hatte in der Stadt davon gehört, dass ein vorlauter Schachter von Einheimischen am Abend im Biergarten übel zugerichtet worden war. Sie wusste sofort, wen es erwischt hatte, zu oft hatte die Nordhäuser Cliquen sich aggressiv gegen Karsten S. geäußert und sie kannte auch seine große Klappe.
Simone stand zu ihm, auch als er sich schon am nächsten Nachmittag wieder in der Stadt zeigte, gingen sie Hand in Hand. Er war erstmal nicht bei der Ausbildung, der Arzt hatte ihm ein Attest ausgestellt und zu einer Anzeige geraten. Diese stellte er nicht, er wusste, dass er selber schuld war. Geschlagen und am Boden liegend ins Gesicht getreten zu werden, ist das fair? Es war ihm egal.
Der offensive Umgang mit seiner Schändung brachte ihm viel Respekt ein, er versteckte sich nicht, er schwärzte niemanden an und jammerte nicht herum. Mike und Heiko entschuldigten sich tausendmal, Karsten S. winkte ab, gab immer wieder sich selber die Schuld. Seine Kraftsportgruppe sann auf Rache, Karsten S. winkte wieder nur ab. Master Michel war sehr beeindruckt, sprach aber vor versammelter Mannschaft von Mäßigung, das Auftreten von Karsten S. sei für die Täter Strafe genug.
Er schockierte natürlich noch Mutti Maren, da er mit Simone das Wochenende bei sich zu Hause verbrachte. „Es war ein Unfall. Es sieht viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist.“ Mit dieser Erklärung gab sich Mutti Maren bestimmt zufrieden. Ganz bestimmt!
Ach so, ganz nebenbei bemerkt, die beiden Frauen verstanden sich prima. Halfen sie sich vielleicht gegenseitig beim Tragen derselben Last?
Im Laufe des Frühsommers erblühte sein gesamtes Gesicht in den schönsten Anlassfarben, bevor alles in ein zartes Gelb überging, um pünktlich zu Lehrjahresende vollends zu verblassen.
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Endlich Ferien, seine letzten (Karsten S. wusste es nur nicht) ...
... und er machte es sich mit seiner Simone wirklich schön. Zu Beginn zumindest. Sie hatten die Bude im Internat für sich allein oder waren auf Achse. Das Geld reichte, es gab einiges zu sehen und zwischendurch viel Ruhe, je nachdem, nach was Simone gerade zumute war.
Die Schlägerei und vor allem sein Auftreten danach holte sie aber wieder ein. Ein Typ, der Tiger nämlich, war sehr interessiert an Karsten S.. Simone kannte diesen katzenhaften Vagabunden, ein hinterhältiger, schleichender Unheilstifter. Er war der Boss der Clique aus ihrem erweiterten Umfeld, einem Umfeld, welches den Verlust ihrer Simone an Karsten S. gar nicht gefallen, aber ihr zuliebe schweren Herzens dann doch toleriert hatte. Die Schläger, welche Karsten S. zusammen gelegt hatten, waren aus einer anderen Clique. Deren Boss war Roland, der „Erzfeind“ vom Tiger.
Das passt ja prima zusammen, lieber Karsten S.!
Der Tiger kreuzte mit penetranter Regelmäßigkeit auf, verbreitete dabei stets schlechte Stimmung bei dem jungen Paar und unterschwelliges Unbehagen. Er tigerte um sie herum, bekam sie aber nicht richtig zu fassen. Vorerst nicht.
Dann fuhr Simone mit ihren Eltern in den Urlaub. Die zwei letzten Ferienwochen schienen für Karsten S. zur Qual zu werden. Er blieb in Nordhausen, hier fühlte er sich heimisch, und tief in sich spürte er eine gewisse Unruhe, er wollte etwas Neues erleben.
Tiger nutzte die Gelegenheit, lud ihn oft in seinen Lieblingsbiergarten ein, präsentierte sich mit Karsten S., schmierte ihm Honig ums Maul oder regte die ein oder andere Diskussion an. Einige Mitglieder seine Clique kamen peu à peu hinzu, der harte Kern natürlich. Und so war unser Lieblingsprotagonist da gelandet, wo seine Simone ihn niemals haben wollte.
Und wir?
Naja, jedenfalls verging die erste Woche nahezu ausnahmslos im Biergarten oder beim Tiger zu Hause. Zugegeben, er war sehr geschickt im Umgang mit Karsten S., wusste genau, was dieser hören oder erleben wollte und gab es ihm in Überfluss. Und er würzte in den weiteren Tagen dessen Leben mit Spannung. Sie unternahmen nachts kleine Streifzüge durch Nordhausens Schrebergärten und Einfamilienhaussiedlung, stiegen in Gartenlauben ein und bedienten sich genüsslich an den dortigen Leckereien.
Kleine Delikte, nichts großes. Der Tiger kannte Tricks und Kniffe, um unbemerkt in die kleinen heiligen Stätten der Städter zu gelangen. Die richtigen Häuser inspizierten sie lediglich im Vorbeigehen, erschienen ihnen aber auch einnehmbar.
Hinzu kam immer mal ein Joint, holländisches Gras, dort sogar völlig legalisiert. Der Tiger achtete enorm darauf, dass sich Karsten S. mit Alkohol und Drogen nicht übernahm, ihm sollte auf keinen Fall ein Kater ereilen. Sein Appetit durfte nicht verdorben werden.
Als Simone zurück war, ließ der Tiger sofort ab von Karsten S., dieser wusste nur zu gut, nichts von alledem seiner Liebsten zu erzählen. So bagatellisierte er seine Unternehmungen mit der Clique und gab sich am letzten Wochenende vor dem zweiten Lehrjahr ganz der Liebe zu seiner Simone hin.
Aber innerlich hatte er Hunger, Heißhunger sogar, eigentlich zerfraß ihn ganz langsam ein großes Verlangen nach dem Tiger und dessen kleinen Nettigkeiten.
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Mike und Heiko waren wieder da, die Schulbänke erwarteten ihre Benutzer und dann sollte es auch endlich Untertage gehen! Der normale Alltag tat Karsten S. gut, er gewann etwas Abstand vom Tiger. Der September ließ sich so an wie es vor den Ferien geendet hat, diesmal aber ohne Schlägerei. Karsten S. schien unantastbar geworden zu sein, selbst wenn von Rolands Clique Typen im Biergarten herumlungerten, lies ihn das kalt.
Sein Selbstbewusstsein wuchs beständig, seine Zimmerkumpels machten sich schon wieder Sorgen. Er war wieder im Schulmodus mit Lernen, Gewichte stemmen und Biertrinken, Simone sparte er sich für die Wochenenden auf.
Dann bekam Karsten S. einen gewaltigen Dämpfer verpasst, völlig unbeabsichtigt..
Endlich ging es nämlich Untertage, darauf hatten alle sehnsüchtig gewartet. Viel hatten sie schon darüber gehört, aber außer der ersten halbherzigen Befahrung zu Beginn der Ausbildung waren sie immer nur in den Werkstätten Übertage gewesen.
Da war selbstverständlich bei allen ganz viel Aufregung im Spiel. Nach der Schwarzkaue ging es diesmal zum Abfassen der Lampen- und Selbstretter weiter, dann noch die Teeflasche füllen und schon standen alle vor dem Förderkorb. Dies soll schon bald Routine werden, heute hatte das alles aber seinen ganz besonderen Reiz. Für Karsten S. vielleicht vergleichbar mit den abenteuerlichen Nächten in Nordhausens Gartenlauben.
Im Korb war es eng wie in einer Fischdose, die Batterie des Vordermanns in die eigene Männlichkeit gequetscht, ging es rasend schnell auf 600 Meter Teufe. Dabei durfte man nie seine Knie durchdrücken, es gab regelmäßige Notbremsungen zu Probezwecken, danach wäre man glatt 10cm kürzer.
Unten auf der Sohle wurde die Truppe an verschiedene Steiger aufgeteilt, welche mit den Jungs zu den Brigaden vor Ort gingen. Karsten S. fuhr noch ein wenig auf den Gurtbändern, ein sehr junger Steiger begleitet ihn. Dann waren sie da und standen vor einem riesigen Bergmann, der Brigadier hier vor Ort. Er protestierte umgehend gegen die Aufnahme eines Lehrlings, beruhigte sich jedoch wieder. Für Karsten S. war diese Szene sehr einschüchternd, obwohl er auch staunte, wie so ein großer, starker und alter Bergmann sich von einem Bubi von Steiger recht schnell in die Schranken weisen ließ.
Der Steiger ging daraufhin seines Wegs, wünschte beiden „Glück Auf“ und Karsten S. blieb beim Brigadier zurück. Hier war er nur noch Der Junge, der Brigadier blieb der Brigadier. Er erklärte ihm umgehend seinen Protest: „Lehrlinge wurden als halbe Männer abgerechnet, die allermeisten werden diesem Anspruch jedoch nicht gerecht, was sich am Monatsende in der Lohntüte der ganzen Brigademitglieder negativ bemerkbar machte.“ Er baute sich vor Karsten S. auf, fasste ihn an beide Oberarme und brüllte donnernd: „Aus diesen Leberwürschten machen wir echte Knacker!“.
Karsten S. glaubte tatsächlich, er habe gerade eingeschissen. Das war zuviel, sein Stolz krachte in den Keller, sofern das hier unter überhaupt möglich war. Schließlich geht er viermal die Woche in die Muckibude!
Was er nicht weiß: Der Brigadier brachte diesen Spruch bisher nur einmal, obwohl er schon viele Jungen angelernt hatte. Dieser Eine hatte sich dann auch zu einem prächtigen Hauer entwickelt. Bei Karsten S. sah er ähnlich gute Anlagen, er gefiel ihm!
Tja, unser Held war tödlich beleidigt! Ja ja, sowenig er in sich hineinschauen ließ, so wenig erkannte er aber auch, welche Gefühle ihm entgegengebracht wurden. Beim Brigadier nicht, beim Tiger nicht, wohl nur bei Mutti Maren und seiner Simone!
Irgendwie verging die restliche Schicht dann wie im Flug, er lernte die gesamte Brigade kennen (auch den bisherigen Lieblingsschüler des Brigadiers, mit dem er dann sogar zusammen noch einige Bohrungen setzte) und schon ging es wieder zurück zum Förderkorb zur Ausfahrt.
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Die Unnahbarkeit von Karsten S. nervte zusehends seine Zimmergenossen. Alle erzählten nur noch von ihren Erlebnissen Untertage, wer die beste Brigade erwischt hat, wie cool das da unten ist und was man so alles schon gemacht hat. Lauter kleine Helden!
Er nicht. Dabei ist er tatsächlich in einer Spitzenbrigade gelandet und machte mit dem Bohrer den coolsten Job von allen. Die anderen schaufelten sich die Arme lang, mussten sich mit dem tauben Gestein herumplagen. Karsten S. half beim Bohren ins wertvolle Flöz!
Immer wenn es jetzt nach unten ging, hatte er Wut im Bauch. Er war davon besessen, im Schachtsumpf bei den Mammutpumpen eine ordentliche Ladung Gelamon 1 anzubringen, um die ganze Röhre absaufen zu lassen. Doch woher bekam er einen Zünder? Das war absolut ausgeschlossen! Auch wenn sie mal nach dem Schießen einen Blindgänger fanden, war dieser zerstört und musste natürlich abgegeben werden. Karsten S. war nie zuerst vor Ort, der Brigadier leuchtet ab und dabei fand er manchmal einen Zünder. Und mit dem Abraum, worin manchmal noch einer zwischen dem tauben Gestein herumlag, hatte er eh nichts zu tun, Karsten S. ging gleich ans Bohren für den nächsten Schuss.
Schon in der zweiten Woche änderte er seine Freizeitgestaltung. Die Muckibude war passé, er tauchte wieder beim Tiger auf! Er wollte sich hier beweisen, hielt das aber vor seinen Zimmergenossen geheim. Er ist halt unterwegs, will sich selber finden, schließlich meinen doch alle, er hätte sich zum Negativen verändert.
Mike und Heiko schöpften Hoffnung, schließlich kam er immer gut gelaunt am späten Abend zurück, vielleicht traf er sich nun auch unter der Woche wieder mit Simone. Erzählen tat Karsten S. nichts, es geht sie ja auch wirklich nichts an!
Am Freitag traf er sich diesmal nicht mit Simone, sie vertröstet er auf Samstagnachmittag. Ihr fiel gar nichts auf und dass sie sich nur an den Wochenenden trafen, schrieb sie seinem Lerneifer zu. Auch sie hatte Stress, stand sie selber unmittelbar vor den Prüfungen. Und dass Karsten S. nichts aus dem Schacht erzählte, empfand sie, nach dessen Vorfreude zwar merkwürdig, aber auch nicht weiter schlimm.
Freitagabend wollte der Tiger mit ihm in den Keller eines Einfamilienhauses einsteigen und Zeugs für eine große Party am Samstagabend herausholen. Karsten S. drängte sich dazu förmlich auf, Tiger hatte lediglich „ganz nebenbei“ von dem geplanten Bruch erzählt und wie spannend so eine Sache sein konnte. Das fand Karsten S. auch.
Und so trafen sich beide im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht und zogen los, um das Haus, auf welches sie es abgesehen hatten, aufzusuchen. Tiger hatte es vorher wochenlang beobachtet und wenn alles normal lief, waren Herr & Frau des Hauses mit ihren großen Sporttaschen unterwegs, zu irgendeinem Sport- oder Fitnessclub.
Das Haus lag dunkel vor ihnen. Kein Hund, die Nachbarn durch hohe Hecken abgedeckt. Warum igeln sich Leute nur immer so ein?
Also ab durchs offene (!) Gartentor und erstmal vorsichtig ums Haus geschlichen, dabei fanden sie eine separate Tür, sicher zum Keller, denn diese war am Ende einer Treppe unter dem Erdgeschoss. Karsten S. stand schmiere, Tiger machte sich an der Tür zu schaffen. Unerträglich lang wartete er im Dunkeln an der Hausecke, um einen guten Rundumblick zu haben. Aber was ist, wenn jemand plötzlich um die andere Ecke gegenüber kam?
Man kann nicht alle Ängste beiseite schieben, nicht alle Möglichkeiten berücksichtigen. Manchmal muss man darauf vertrauen, dass nichts passieren wird, dass zum Beispiel der Aufzug nicht streikt oder nicht doch zufällig jemand um die Ecke guckte!
Der Tiger hantierte nicht gerade leise an der Tür, sie schien besser gesichert als gedacht. Es gab mal ein Rütteln, dann wieder ein Knarcksen, jede Menge Krach in dieser relativen Stille! Karsten S. wurde es, je länger er wartete, immer unheimlicher. Er schaute vor sich um die Ecke, hinter sich zur anderen und schreckte bei jedem Geräusch von da unten zusammen.
Dann vernahm er ein Händeklatschen, der Tiger freute sich, die Tür war offen und kein Alarm schrillte los. Somit kam seine Feuertaufe, Karsten S. sollte sich nämlich als erster im Keller umsehen. Er hatte schon alles durchdacht, hier draußen war ja genug Zeit dafür. Die Lampe war einsatzbereit, der große Rucksack hing leer auf seinem Rücken. Tiger würde jetzt Wache stehen, der Fluchtweg war ebenfalls klar.
Und im Haus war auch keiner, oder ?!?
Tiger kam hoch, klopfte ihm auf die Schulter und fragte, ob alles klar ist. „Klar doch, ich geh da jetzt rein!“ und schon stiefelte Karsten S. die Treppe runter, erst cool, dann immer vorsichtiger. Er kam an der Tür vorbei, sehr filigran hat sich der Tiger da nicht angestellt, das Schließblech war aus dem Rahmen gesplittert. Sicher muss man erstmal wissen, wie und wo man den Hebel ansetzen muss, aber das war schon ein enormer Schaden. Bei Profis kann man nach getaner Arbeit die Tür wieder verschließen!
Egal, er schlich weiter, ein Ohr ins Haus und eines nach draußen gerichtet. Absolute Stille, nur hinter dem schmalen Gang voller Obst, Gemüse und Konserven drang durch den schweren Vorhang etwas Licht. Ach du Scheiße, Karsten S. stellten sich sämtliche Härchen auf. Fluchtbereit schob er sich lautlos Schritt für Schritt nach vorn und stand endlich hinter dem Vorhang.
Alles ruhig, nur ein leises Summen konnte er jetzt hören. Was war das? Er atmete ganz leise ganz tief ein, hielt die Luft an und schob den Vorhang ganz langsam, ganz vorsichtig beiseite, gerade soviel, um etwas sehen zu können. Ah, eine Kellerbar, leer, mit einem kleinen Aquarium an der Wand gegenüber. Puh, nun schob sich Karsten S. am Stoff vorbei und stand in dem Raum. Er sah sich nur kurz um, ging zur Tür rechter Hand und bemerkte, dass diese von außen verriegelt war. Prima, da kommt also keiner so schnell rein!
Überall standen teure Spirituosen herum, Weinflaschen lagen in einem großen Regal an der Wand und zwei Kühlschränke waren mit Bier, Sekt und Schnaps gefüllt. Er öffnete sich ein kaltes Jever, dann packte er die wertvollen Spirituosen in seinen Rucksack, zwölf verschiedene Sorten Scotch-Whisky und ging mit zwei weiteren Flaschen Bier in der Linken zurück zum Tiger.
Der polterte dann in den Keller, Karsten S. wartete wieder an der Hausecke und trank genüsslich die nächste Molle. Alles blieb ruhig, der Tiger kam bald mit seinem vollen Rucksack und schon schlichen sie zurück durch den Garten hinaus auf die Straße, liefen um die nächste Grundstücksecke und waren alsbald weg.
Was für ein leichtes Spiel, abgesehen vom Türöffnen und den Ängsten am Vorhang zur Kellerbar! Der Tiger hatte süßen Weißwein für die Frauen und eine Zigarrenkiste erbeutet, er trug ebenfalls noch zwei Flaschen Jever in der Hand.
Sie gingen zum Tiger, leerten dabei die Biere, nahmen die leeren Flaschen mit und ließen sich bei ihm in die Couch fallen. Nun noch einen wohlverdienten Joint und dann verabschiedete sich Karsten S. vom Tiger, ließ die gesamte Beute für die Party morgen zurück, auf welcher er nicht erscheinen würde, da er schließlich mit Simone zusammen sein will.
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Die nächsten Wochen verliefen recht harmonisch. Karsten S. ging wieder zum Training, aber nur noch zweimal die Woche. Auch mit Simone traf er sich einmal schon unter der Woche. Er machte für alle einen ausgeglichenen Eindruck, er selbst dachte auch gar nicht mehr über den Schachtsumpf mit seinen gewaltigen Mammutpumpen nach. Da gab es jetzt wichtigeres. Sogar sein Brigadier sah sich in seiner positiven Ersteinschätzung bestätigt!
Doch einmal die Woche verschwand er bis spät in die Nacht und keiner wusste, wohin. Er äußerte sich nie dazu, die Fragen ließen bald nach, schließlich waren alle recht froh über die momentane Entwicklung.
Er unternahm noch einige Einbrüche mit dem Tiger, aber vergriff sich nie an der Beute. Ihm reichte der Thrill und ein Joint danach. Der Tiger zeigte ihm, wie er die Türen aufbrach, doch Karsten S. verfeinerte die Technik sehr schnell. Problem war dabei stets, dass dann keiner Schmiere stand.
Langsam wurde es zur Routine und Karsten S. wollte mehr, viel mehr. Er hatte da etwas ganz spezielles im Sinn, die Bude von Roland. Er wusste nun, wo dieser hauste, eine schäbige Bleibe im Hinterhof eines Mietshauses. Das war kompliziert, die Tür war von allen Seiten einzusehen, das würde nur ganz spät in der Nacht möglich sein. Zum Glück kam man in den Hof unbehelligt rein, denn bei Roland war ständig was los, da gingen die dunkelsten Gestalten ein und aus. Das wiederum war sehr gefährlich!
Dem Tiger erzählte er nicht davon, der würde kneifen. Das Ding musste er allein durchziehen.
Bei Roland gab es keinen echten Rhythmus, der kam und ging wie die ganzen Typen bei ihm auch. Da war wirklich nur vor dem Morgengrauen etwas zu machen. Er beschloss, nicht oft dort abzuhängen, sondern spazierte zwei ganze Wochen lang immer mal gegen 3 Uhr in den Hof und fand stets alles sehr ruhig vor. Er ging immer unverhohlener zur Tür von Roland, klinkte daran herum und lauschte in die Stille. Alles normal, kein Ton war zu hören, kein Licht ging irgendwo an und die Tür war natürlich immer verschlossen.
Noch eine Woche ging ins Land. Karsten S. wollte sich sicher sein, dass um 3 Uhr alles schlief. Er dachte durchaus an Selbstschutz, das lernt man ja schon bei der Ersten Hilfe! Er wusste auch, bei diesen Bruch musste er aufs Ganze gehen, würden sie ihn erwischen, war nur eine schnelle Flucht, oder eventuell eine geniale Story hilfreich, vielleicht !?!
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Und dann steht er da an der Laterne, im Hof direkt unterm Licht. Der Schatten fällt unter seine Füße, von oben sieht man ihn nicht. Das weiß er. Ist nicht gerade jemand mal Kacken, so früh um drei, so wird es sein, wie in den letzten drei Wochen. Es würde jetzt auch ruhig bleiben wie die letzten Male davor, denn da hätte er hier wirklich Teppiche ausrollen und lauthals feil bieten können, ohne dass da auch nur einer aus einem Fenster geschaut hätte.
Nun hockte er vor der Tür seines Begehrens, der freie Eintritt war wie stets zuvor versperrt. Das Holz war alt, sehr alt, das hatte Karsten S. schnell herausgefunden. Hier konnte er einen eleganten Hebel ansetzen, Faser für Faser heraus spalten, ganz klein und leise. Und dann war er am Ziel, das Schließblech fand keinen Halt mehr.
Wo saßen die vielen Riegel? Keine? Denn die Tür war schon geöffnet. Huch, da ist sich ja jemand verdammt sicher! Karsten S. durfte dies egal sein, er stand in Rolands Bude!
Er machte seine kleine Lampe an. Was für ein Chaos, was für ein Assi! Karsten S. drehte sich erstmal um, um die Tür von innen zu betrachten. Und ob, zwei schwere Riegel, von innen zu bedienen, waren daran fest verschraubt, beide jedoch ihrer Bestimmung entsagt.
Karsten S. verschloss die Tür mit den Riegeln, hier wollte er allein sein. Allein mit dem, was ihn erwartet. Viel konnte es nicht sein, so wie das hier aussah. Bevor er in den Hauptraum weiterging, knipste er das Licht an, wohl wissend, wie dreist dies war. Er setzte alles auf eine Karte und als er ins Wohnzimmer gleich dahinter kam, musste er mitleidig lächeln. Das hier war nicht die Bude eines Bandeschefs, damit gewinnst Du keinen Blumentopf. Alles dreckig, Essensreste auf Tellern, halbleere Bierflaschen, hier hat lange keiner bewusst reingeschaut. Karsten S. lächelte, als er sich aufs Sofa stellte um genüsslich auf den Tisch zu pinkeln.
Nun aber weiter, die einzig volle Flasche Bier hatte er auch schon entkorkt, angetrunken und trug sie leger in der linken Hand. Am liebsten würde er hier ewig schmarotzen, er war der Okkupant, aber es war zu eklig. Geradeaus ging es zum Bad, das brauchte er nicht mehr, links ließ es die Küche liegen. Er wollte schnell ins Schlafgemach, seine Aggression lindern, seinen Hass, auf was auch immer, befriedigen.
Manchmal bringt der Feind, welcher friedlich schlafend vor dir liegt, eine unverhoffte Linderung!
Karsten S. schaltete auch dort das volle Licht ein, Roland lag da allein. Er verspürte keine Angst, es war ja nicht Roland, sondern seine Leute gewesen, die ihn verprügelten, aber das spielte schon lange keine Rolle mehr. Dieser Zufall damals, vielleicht sogar von ihm selbst heraufbeschworen, konnte Karsten S. ihm nicht in die Schuhe schieben, sein Feind war er dennoch!
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Nun schaute Karsten S. auf Roland hinab, Linderung verspürte er keine. Er wollte ihm nie etwas Körperliches antun, sondern „nur“ mental schaden. Dieser Einbruch sollte genügen.
Roland lag diagonal auf dem schäbigen Bett, ungepflegt in seinen Klamotten und hatte ein süßes Lächeln im Gesicht. Karsten S. sein Blick fiel auf das Schränkchen links davor, dort lag ein Tütchen mit weißem Pulver. Daneben, direkt auf dem billigen Sprelacart waren drei weiße Streifchen gezogen, leicht verstreut.
„Was haben wir denn da, das kann ich doch dem Tiger präsentieren!“, säuselte es in Karsten S.! Er strich das Pulver in die Tüte zurück, stellte seine leere Bierflasche genau dort ab, und ging hinaus, machte das Licht aus, ging hinaus, machte auch da das Licht aus und ging hinaus, nicht ohne auch dort das Licht auszumachen und stand wieder im Hof.
Oh, für Karsten S. stellt das Tütchen eine enorme Trophäe dar! Er könnte das Zeug für sich behalten und lange unabhängig vom Tiger bleiben. Doch er wollte mit diesem eigentlich weitere kleine Raubzüge unternehmen, vor allem, da er jetzt gerade sein Meisterstück an Kaltschnäuzigkeit abgelegt hatte. Das Tütchen würde dem Tiger gefallen.
Karsten S. wusste nicht einmal, um was es sich dabei handelte, er hatte keinerlei Ahnung von diesen Dingen, seinen gelegentlichen Joint bekam er immer schon fix und fertig vom Tiger kredenzt.
Warum aber das Zeug nicht gleich ausprobieren? Es dämmerte der Samstagmorgen, heute lag nichts an, außer zum Vesper bei Simone zu sein. Bis dahin würde er etwas schlafen und wieder klar im Kopf sein!
So ging er zurück ins Wohnheim, seine Bude war wie immer am Wochenende frei. Er machte sich ein Bier auf und duschte. Der Dreck von Roland musste runter! Hunger hatte er keinen, außerdem war er sehr unruhig, er wollte das Zeug unbedingt ausprobieren.
Roland hatte sich wohl vier Streifen gelegt und einen davon durch die Nase gezogen. Sicher war er schon betrunken gewesen. Also legt sich Karsten S. seiner Logik folgend zwei Streifen, versteckte dann das Tütchen in einen Schuh unterm Bett und zog erst links, dann gleich rechts das Pulver durch die Nase.
Er musste seine Nase heftig reiben, das brannte vielleicht! Und schon haute es ihn um. Er ließ sich ins Kissen sinken, schaffte es sogar noch, seine Beine hochzuhieven, sein letzter Gedanke war, genau so glücklich zu lächeln, wie es Roland getan hatte ...
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... schlimm nur, dass Simone ihn so am Abend fand. Er war längst überfällig, ging nicht ans Handy, so dass sie ihrer Logik folgend im Wohnheim nachschaute.
Was sie dort vorfand, war ein Karsten S., welcher eingekackt- und gepinkelt hatte, mit blutiger Nase und den Mund voll erbrochenem lächelnd im Bett lag.
Leblos!
Der Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen, Karsten S. war schon kalt.
-Epilog-
„Diese Geschichte ist zum Teil biografischen Ursprungs, nur dass bei mir jemand irgendwann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und mich aus dem sich noch langsam drehenden Strudel herauszog. Dieser Person ist die Geschichte gewidmet, als großes Dankeschön für ALLES, auch wenn ich weiß, dass sie sie nie lesen wird!
Ich habe den Wertegang von Karsten S. lediglich etwas weiter gesponnen, um zu erfahren, was für ein Ende mich ereilt hätte. Nun weiß ich seines, meines jedoch immer noch nicht, hoffe aber, es wird ein besseres sein!“
PS: diesen Epilog habe nicht ich geschrieben !!!