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Karls Tod - oder das Ende vom Krieg - 1945
Karls Tod – oder das Ende vom Krieg
„Komm mann to mich, lütten Deern“, sprach August, ihr Vater, streckte die Arme aus und hob Marlies auf den alten Zossen vor sich. Er hielt sie mit einem starken Arm um den Bauch gut fest und lenkte mit dem anderen den Wallach. Marlies atmete tief den tröstlichen Geruch nach Pferd, Lederzeug und dem Tabak ihres Vaters ein. Im Schritt ritten sie die Dorfstraße entlang. Ihr stolzer, großer Vater und sie selbst, die kleine, schmächtige Göre mit den langen Zöpfen. Wo immer sie an den Nachbarn und Dorfbewohnern vorbei kamen, hoben die Herren respektvoll den Hut, die Bäckersfrau rief ihr zu „Bist ja mang en grooten Deern hück, Marlieschen!“ Marlies platzte fast vor Stolz. Endlich war sie auch mal größer als alle anderen, und ihr Vater zeigte, wie lieb er sein kleines Töchterlein hatte. Sie hatte ein ganz warmes, weiches Gefühl im Bauch. Selig legte sie ihre kleine Hand auf die seine mit den Schwielen vom Sattel- und Polstermachen.
„Fliegeralarm! Ab inn Keller!“ riss sie die schrille Stimme ihrer Mutter aus den süßen Träumen. „Treck dich dein Mantel an, dat de nüch noch siech wirst!“ Die Sirenen heulten ihr immer gleiches Lied. Schlaftrunken griff Marlies ihren abgewetzten, zu kleinen Wollmantel, schlüpfte in die Stiefel und holperte die Treppen zum Keller hinunter. Marlies zitterte am ganzen Körper – immer dieser Schrecken in der Nacht, seit bald zwei Jahren jetzt ging das schon so- immer wieder mussten sie runter in den Luftschutzkeller, während oben die Granaten explodierten und das ganze, alte Haus wackeln und beben ließen. Sie starb jedes Mal vor Angst im Keller. Außerdem war natürlich alles verdunkelt. Nur ein kleines Talglicht erhellte die Finsternis. Ihre drei Brüder foppten sie, wie immer: „Schittinenbüx!“ „Heulsuse!“ „Dummen Deern!“ so erklang es aus der Ecke, wo sie es sich auf den Kartoffelsäcken einigermaßen gemütlich gemacht hatten. Mutter verteilte Backpfeifen. „Ruhe in Karton!“ Sie bekreuzigte sich. „Lasst uns beten!“ und sie zwang Marlies, sich mit den anderen in den Dreck zu knien und die Hände zu falten. „Mutter Gottes, gebenedeit bist du unter den Weibern. Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Bitte für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes!“ Und immer so weiter, alle Litaneien, die sie aus der Klosterschule und der Sonntagsmesse kannte, wurden rauf- und runtergebetet.
Die Klosterschule. Marlies musste seufzen, wenn sie an die „barmherzigen Schwestern“ dachte. „Barmherzig!“ pah, dass ich nicht lache, dachte sie heimlich. Schwester Viktoria war die unbarmherzigste unter allen. Hatte man die Aufgaben nicht schön genug geschrieben, oder zu viele Fehler gemacht, hagelte es Hiebe auf die ausgestreckten Finger mit dem Rohrstock. Einmal hatte sie sie mit blankem Hintern übers Pult gelegt und sie versohlt, bis sie rote Striemen hatte. Marlies hatte keinen Mucks getan, wusste sie doch, dass das Schreien nur alles noch schlimmer machen würde. Aber aus ihren Augen war stumm ein ganzer Wasserfall an Tränen geronnen. Die einzige, die manchmal ein gutes Wort für sie hatte oder ihr auch mal über die Wange strich, war Schwester Franziska. Sie unterrichtete Malen und Sport. Und darin war Marlies besonders gut. Vor allem im Völkerball punktete sie stets kräftig für ihre Mannschaft. Marlies kuschelte sich tiefer in eine alte Pferdeecke, die im Keller lag und gab sich weiter ihren Gedanken hin.
Auch das Künstlerische erregte ihr großes Interesse. Mit Andacht sah sie oft ihrem Vater in seiner Werkstatt zu, wie er die schönen Stoffe abmaß, zurechtschnitt, und sie über den Rahmen der Sofas spannte. Wie glatt und weich sich das anfühlte, welch schöne Muster und Farben! Sie wollte später unbedingt in seiner Werkstatt arbeiten. Aber sie war ja nur ein Mädchen. Das ließen sie ihre Brüder immer wieder spüren. Noch dazu ein hässliches laut ihren Brüdern. Sie hatte eine Hasenscharte, von Geburt an. Wie oft hänselten sie Marlies „Schiere Deern! Ahle Hex!“ und ziepten sie an den langen Zöpfen, bis sie weinte, und in den Garten lief, zu ihrem einzigen Freund außer ihrem Vater, zu Karl, dem Puter. Karl galt auch als hässlich mit seinen Triefaugen und der lappigen Haut am Hals. Das verband sie irgendwie. Außerdem ließ er sich streicheln, füttern und umarmen, blieb ganz ruhig bei ihr stehen, wenn sie wieder mal weinend ihre Tränen in seinem Federkleid trocknete. Nicht wie die dummen Hühner, die immer hysterisch gackerten und flatterten und wegflogen, wenn man sich ihnen näherte. Oft stibitzte sie für ihn heimlich ein Apfeleckchen aus der Küche, von dem nur einer grade mal abgebissen hatte. Ihm vertraute sie alle ihre kleinen Sorgen und Nöte an. Dass es schon seit Wochen nur noch Kartoffel- und Kohlsuppe gab, oder die eklige Graupenplörre. Die Mutter tat wirklich, was sie konnte, um den großen Haushalt mit vier Kindern und den Gesellen satt zu kriegen. Aber die Lebensmittelmarken reichten hinten und vorne nicht, und die Regale im Kaufmannsladen waren meist leer. Die Hühner konnten sie nicht schlachten, sie brauchten die Eier, auch, um sie weiter zu verkaufen. Wenigstens, wenn sie manchmal Milch und Mehl hatten, gab es die leckeren Apfelpfannküchlein, die Marlies so liebte.
„Dat is den verdammten Österreicher schuld!“ schimpfte der Vater oft lauthals am Mittagstisch. Die Mutter hielt sich erschreckt den Zeigefinger vor den Mund. „Sei still, August! Sonst holn se dich noch ab!“ Die Gesellen guckten geflissentlich auf ihre Teller. Es war im ganzen Dorf bekannt, dass August gegen das „Nazipack“ war, wie er sie oft nannte. Aber niemand traute sich, was gegen ihn zu unternehmen, er war ja noch ein Veteran, ein Held vom Kaiser Wilhelm. Außerdem kriegsversehrt, von Verdun, Papa hatte es mit der Lunge. Für Marlies war er sowieso ihr Held. Er hielt immer zu ihr, nahm sie in Schutz vor der strengen Mutter, wenn sie ihr Backpfeifen gab, oder die Brüder mal wieder gemein zu ihr waren. Sie durfte dann oft, wenn er im Sessel am Ofen saß, auf seinem Schoß Platz nehmen und er spielte „Hoppe, hoppe, Reiter“ mit ihr, obwohl sie viel zu groß dafür war, oder er zeigte ihr seine Kohlezeichnungen aus dem Krieg, von Pferden, seinen Lieblingen, oder von französischen Dörfern. Mit 17 war er Feuer und Flamme als Kaisers Husar in den Krieg gezogen. Sie liebte ihn unmäßig. Er war ihr ganzer Trost. Außer Karl.
Marlies seufzte leise beim Gedanken an Karl. Letzte Woche, am Ostersonntag, war’s, da verbrachte die Mutter stundenlang in der Küche, und keiner durfte sie betreten. Dann deckte sie die große Tafel, richtig mit dem guten Porzellan von Tante Dine, Tafelsilber und Servietten und so. Alle saßen ganz gerade am Tisch und hatten die Hände auf der Tischdecke. Mutter trug eine große Schüssel mit Suppe herein. „Lasst uns beten“, sagte der Vater und alle falteten die Hände und er sprach das Tischgebet n. Marlies tunkte den ersten Löffel ein – hmmmm! Das war eine richtige Fleischbrühe, schön fett und schmackhaft. Lange hatte es nichts mehr so Gutes gegeben!
Danach trug die Mutter die Suppenterrine ab und servierte den nächsten Gang: ein riesiges Stück Braten, mit Mehlklößen und Kohl. Marlies beäugte den Braten – er sah irgendwie wie ein riesiges Hühnchen aus. Sie nahm den ersten Bissen – da machte Willi, ihr Bruder „put!put!“ und die Jungens lachten. Marlies spie sofort den Bissen aus. Sie erschrak zu Tode. Der Braten war Karl, der Puter! Heulend rannte sie raus – zu Tante Dine in der Einliegerwohnung. Wie konnte die Mutter nur! Sie hasste sie in diesem Moment. „Wat is dir denn, lütten Deern?“ besorgt nahm Tante Dine sie in den Arm. Marlies wurde von Schluchzern geschüttelt. „Karl – Mama hat Karl geschlachtet! Sie ist sooo gemein!“ „Komm mann bei mich“, tröstete sie Tante Dine. „Ihr habt doch nix anständiges zum Essen gehabt seit Wochen. Außerdem war Karl schon alt. Jetzt ist er im Vogelhimmel, da wird er den ganzen Tag von den kleinen Engelchen gestreichelt und gefüttert. Ihm geht’s gut, mach dich mal keine Sorgen, Marlieschen!“ und sie gab ihr ein Stück Rosinenstuten mit Butter, eine Kostbarkeit in dieser Zeit. Marlies nickte, aß den Stuten genüsslich und hörte langsam auf, zu schluchzen. Tante Dine war so lieb!
Nun war der Fliegeralarm aufgehoben und sie stiegen wieder die Treppen in die Wohnung hoch. Vater lag seit zwei Wochen im Krankenhaus, auf Intensiv. Sein Lungenleiden war schlimmer geworden. Die Ärzte wussten sich keinen Rat mehr. Man konnte nicht operieren. Marlies weinte oft nächtelang in ihr Kissen. Am nächsten Morgen, nach der Messe, spielte sie alleine Hüpfekasten auf der Straße. Die Jungens kickten mit einem Ball. Plötzlich sah sie auf – ein riesiger, blonder Hüne stand vor ihr und bohrte den Lauf seines Maschinengewehrs auf ihre Brust. Er brüllte sie in einer unverständlichen Sprache an. Die Jungens hatten sich hinter einer Mauer versteckt. Verzweifelt blickte sich Marlies um, sie wollte um Hilfe schreien, aber kein Laut kam aus ihrer kleinen Brust. Sie fühlte sich zur Salzsäule erstarrt wie Lots Frau. Sie merkte, wie etwas Warmes, Nasses zwischen ihren Strümpfen herunterlief. „You silly Belgian Bastard, leave this poor little girl alone!” schrie ihn auf einmal ein farbiger Soldat an und schob die MP des Hünen zur Seite. Er hob Marlies auf seinen Arm und gab ihr ein Stück Schokolade. Sie zitterte immer noch wie Espenlaub. Aber dieser Soldat schien es gut mit ihr zu meinen. „Come on, go to your Mom, poor little girl! War is over! Krieg aus!“ lachte er. Seine weißen Zähne blitzten lustig in seinem schwarzen Gesicht. Marlies verstand nur „Mam“, und genau dahin lief sie jetzt auch, so schnell sie ihre wackligen Füße trugen.