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Karla haut ab
Karla sitzt auf dem Teppich und starrt auf das leere Blatt hinunter. Sie runzelt die Stirn, setzt den Stift an, will nicht hören, was in der Küche vor sich geht.
Wäre ihr Zimmer doch eine Festung … Mit riesigen dicken Steinen, die jeden Laut verschlucken. Die Karla beschützen. Nicht dieser kleine Raum mit Wänden wie Pappe, durch die sie Dinge hört, die sie nicht wissen will.
Weinerlich und zeternd kriecht die Stimme ihrer Mutter durch das Schlüsselloch der Tür. Plötzlich ein lauter Knall. Karla zuckt zusammen. Der Stift rutscht ihr aus der Hand und kullert unter das Bett.
Papa schreit: „Lass mich doch endlich mal in Ruhe! Dieses ständige Rumgeheule!“
Karla ballt die Hände zu Fäusten und drückt sie auf die Ohren. Hört es trotzdem. Das Schluchzen.
„Hör auf, mich für blöd zu verkaufen! Meinst du denn, ich merke nicht, was los ist, Michael? Du bist doch nur noch hier, weil wir Karla haben.“
„Stimmt, weil ich ja auch unbedingt ein Kind haben wollte!“
Karla hält die Luft an. Ihr Bauch tut weh. Es fühlt sich an, als wenn sie zu viel von den grünen Gummifröschen gegessen hätte, die verträgt sie nicht. Nur ist der Schmerz stechender. Tiefer.
Schluss damit! Sie darf nicht traurig sein. Papa meint das nicht so! Sie krabbelt unter das Bett und greift nach dem Kugelschreiber. Sie muss die Liste schreiben. So wie die beiden es ihr aufgetragen haben.
Im Flur brüllt Papa weiter: „Was willst du denn jetzt hören? Ich war einfach nur mit den Jungs ein Bier trinken. Jedes Mal die gleiche Scheiße, wenn ich nach Hause komme.“
„Ach ja? Weißt du was? Dann komm doch einfach nicht mehr nach Hause, wenn es für dich so unerträglich ist!“
Er lacht. Aber er ist nicht fröhlich. Karla kennt Papas Lachen, wenn er fröhlich ist. Auch wenn sie es schon lange nicht mehr gehört hat. Das letzte Mal im Sommer vor zwei Jahren, als sie mit dem Fahrrad zum See fuhren. Papa hatte eine Luftmatratze dabei, die aussah wie eine große Brezel, und ihre Mutter kleckerte sich Eis auf das schöne Kleid, das sie damals so gerne trug. Das bunt gestreifte. Sie kicherte, schmierte Karla einen Klecks Eiscreme auf die Nase und küsste sie auf die Stirn. Solche Tage waren selten, aber es gab sie. Karla hob sie in ihrer Erinnerung auf, legte sie sorgfältig in eine Truhe wie einen wertvollen Schatz.
Jetzt öffnet sie bedächtig diese Kiste und sieht Papa vor sich. Er hält die Riesenbrezel im Arm und lacht. Es klingt ganz leicht, obwohl er so eine tiefe Stimme hat. Um seine Augen fächern sich viele kleine Falten. Karla muss an ein Akkordeon denken und stellt sich vor, wie Papas Gesicht lustige Musik macht, wenn er glücklich ist.
Doch jetzt ist das Akkordeon kaputt. Dieses Lachen draußen im Flur klingt kalt. Wie eine Blechdose, die zu Boden fällt. Als er wieder spricht, klingt er plötzlich ganz ruhig: „Gute Idee, Corinna. Vielleicht sollte ich einfach nicht mehr nach Hause kommen.“
Karla hört Schritte.
„Nein!“ Ihre Mutter schnappt nach Luft, als würde sie ertrinken. „Michael, bleib hier. Ich habe das nicht so …“ Die Wohnungstür öffnet sich und fällt schwer ins Schloss.
Karla steht auf, legt die Hand auf die Türklinke. Sie will zu ihr gehen, ihrer Mutter über die schönen blonden Haare streichen. Ein Taschentuch holen und damit die Tränen abtupfen. Draußen knallen Fäuste gegen Holz. Ein Aufschrei. Karla zieht sich zurück. Das Wimmern im Flur legt sich um sie wie eine schwere Decke. Minutenlang steht sie zwischen ihren Büchern, dem sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch und dem Bett, auf dem mindestens zehn Kuscheltiere thronen.
Ihre Mutter sagt immer, sie sei schon viel zu alt für Kuscheltiere. Mit zehn sollte sie mit Freunden spielen, für die Schule lernen, nicht den ganzen Tag nur träumen.
Aber Karla lernt ja. Jeden Tag macht sie sofort die Hausaufgaben. Zeigt sie sogar ihrer Mutter. Doch sie scheint durch Karlas Schulhefte hindurchzusehen. Nickt zwar, aber ihre Augen sind leer.
Und das mit den Freunden ist so eine Sache. Karla weiß oft nicht, wohin. Steht immer am Rand, beobachtet den Trubel, aber traut sich nicht hinein. Die Mädchen in der Schule sind anstrengend. Karla möchte zu ihnen gehören, aber sie ist nicht laut genug. Ihr fehlen die Worte. Sie lauscht den Geschichten der anderen, staunt über die Ausflüge, die sie am Wochenende mit ihren Familien unternehmen. Karlas Eltern gehen manchmal noch mit ihr in den Stadtpark. In letzter Zeit geht sie aber eher alleine. Naja, nicht ganz. Herr Flauschi begleitet sie. Der kuschlige Eisbär freut sich, wenn er das Bett mal verlassen darf und draußen mit Karla auf der Parkbank sitzt.
Wenn keiner hinsieht, erzählt sie ihm von ihrem Schultag. Nach den Ferien ist es immer am schlimmsten. Da gibt es Lisa, die sie oft ärgert. Sie ist eine Angeberin. Prahlt mit neuen Klamotten und tollen Urlauben. Ein Handy hat sie auch schon. Sie wirft sich ihre braunen Locken über die Schulter und fixiert Karla. Wartet, bis alle ruhig sind, um dann zu fragen: „Und du, was hast du in den Ferien gemacht?“
Einmal war Karla mutig und erzählte von einem Ausflug nach Südfrankreich, von weichem Sand und glitzernden Wellen. Von einer Wanderung, bei der sie Eidechsen gefangen habe, die sich dann an ihrem kleinen Finger festzwickten und einfach so an ihren Händen herunterbaumelten. Da sah Lisa sich in der Runde um und fing hysterisch an zu lachen. „Achso? Südfrankreich also? Komisch, ich wusste gar nicht, dass der Penny in der Maistraße in Südfrankreich liegt? Da hat Elsa dich nämlich in den Ferien gesehen!“ Sie zeigte auf sie und hörte gar nicht mehr auf zu lachen. Die anderen Mädchen stimmten nach kurzem Zögern mit ein. Karla schrumpfte in sich zusammen. Ihre Wangen wurden heiß, sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und rannte auf die Toilette. Eine Stunde saß sie da, bis Frau Ruhpold sie fand und mit ins Lehrerzimmer nahm. Seitdem zuckt Karla lieber mit den Schultern, wenn eines der Mädchen sie etwas fragt.
Manchmal erzählt sie Flauschi auch von Frau Ruhpold. Sie ist ihre Deutschlehrerin und so alt wie Karlas Mutter. Obwohl sie jünger aussieht. Ihr Blick ist ganz hell und wenn sie Karla an der Hand nimmt, dann wird ihr Bauch ganz warm.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte Frau Ruhpold vor ein paar Tagen. „Du wirst immer ruhiger, Karla. Ist zu Hause alles in Ordnung?“
Karla nickte so heftig, dass es leise in ihrem Nacken knackste. Frau Ruhpold legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich. „Wenn du über etwas reden möchtest, komm gerne bei mir vorbei.“
Karla dachte an ihre Mutter. Wie sie genervt Wäsche in die Maschine stopfte und die Augen verdrehte. Sie schien immer ganz froh darüber zu sein, wenn Karla nicht redete.
Im Flur klimpert ein Kleiderbügel an der Garderobenstange. Karla geht einen Schritt auf die Tür zu und legt ihr Ohr ans Holz. Es raschelt. Bedächtig. Klingt irgendwie nach Heimlichkeit. Dann wird leise die Haustür geöffnet und wenige Sekunden später behutsam zugezogen. Stille breitet sich in der Wohnung aus. Karla zwinkert und sieht sich verwundert in ihrem Zimmer um. Fühlt sich an wie ein Traum. Das tut es immer. Sie ist einfach gegangen.
Die Liste! Karla hebt das Blatt Papier auf, setzt sich an den Schreibtisch und fängt an zu schreiben. „Dinge, die an mir schlecht sind: …“ Sie blickt auf, beißt auf den Kugelschreiber und starrt an die Wand. Langsam lösen sich all die fiesen Worte der vergangenen Monate von der Zimmerdecke und klatschen wie schwerer Regen auf ihre Schultern.
Karla hatte die Wut schon gespürt, bevor Papa nach Hause kam. Beim Abendessen sprach sie kein Wort. Sie hatte Angst. Laut und grob hatte ihre Mutter Teller und Gläser auf den Tisch geknallt und Karla Essen aus dem Kühlschrank hingestreckt, ohne sie anzusehen. Sie hatten sich an den Tisch gesetzt und schweigend angefangen zu essen. Nach jedem Bissen sah ihre Mutter auf die Uhr und schüttelte den Kopf.
Als Papa dann endlich von der Arbeit kam, sprang Karla auf, rannte in den Flur, wollte ihn umarmen, diese drückende Stille wegwischen. Aber ihre Mutter schob sich dazwischen.
„Wo warst du?“
Karla kämpfte sich an ihr vorbei, streckte die Arme aus und hoffte auf eine Umarmung.
„Dein Ernst jetzt, Corinna?“
Papa sah über Karla hinweg. Sie griff ins Leere. Keine Nähe. Ein Wort gab das andere, sie wurden laut, Karla wurde schlecht. Sie rannte von einem zum andern, zog an ihren Pullovern. Ihr Gesicht lief rot an, es brodelte in ihrem Bauch und sie fing an zu zittern.
„Hört auf damit! Hört auf zu schreien!“ Dabei schrie sie selbst. Tränen rannen ihre Wangen hinunter, ihre Stimme überschlug sich. Plötzlich packte Papa sie am Arm und beugte sich zu ihr hinunter.
„Karla! Ruhe jetzt! Wie oft denn noch? Führ dich nicht so auf!“ Im Hintergrund stand ihre Mutter mit verschränkten Armen und nickte zustimmend. Die beiden starrten auf Karla hinunter. Da war sie plötzlich, die Mauer. Zwei kalte große Steine.
Alles tauchte sich in rote Farbe. Karla schlug um sich, biss ihn in den Arm und trat nach ihrer Mutter. Wie konnten sie das immer wieder tun? Papas Griff wurde härter.
„Du gehst jetzt sofort in dein Zimmer“, zischte er. „Du hältst den Mund und reißt dich zusammen. Was ist bloß los mit dir? Entweder du kriegst keinen Ton raus oder flippst aus wie eine Irre.“ Karla brüllte vor Schmerz, wand sich hin und her. Er zog sie an sich. Sein Atem roch nach Rauch. Früher hatte er immer nach Minze gerochen. „Weißt du, was du jetzt machst? Du setzt dich an deinen Schreibtisch, nimmst dir ein Blatt und schreibst auf, was an dir alles schlecht ist! Vielleicht merkst du dann mal, wie schwer du uns das Leben eigentlich machst!“
Er legte seine großen Hände auf ihre Schultern, drehte Karla um und schob sie ins Kinderzimmer. Mit einem lauten Knall schloss er die Tür.
„Ich bin
- nervig
- seltsam
- hässlich
- faul …“
Was hatte ihre Mutter sie zuletzt genannt? Ach ja …
„- undankbar.“
Karla zieht die Augenbrauen zusammen. Wenn ihre Eltern nachher wiederkommen, sollen sie sehen, dass Karla sich wirklich Mühe gegeben hat.
Der Hausschlüssel dreht sich im Schloss und die Wohnungstür geht auf. Karla hält den Atem an. Sie lauscht den Schritten. Zitternd drückt sie die Türklinke nach unten und späht hinaus in den Flur. In der linken Hand hält sie die Liste. Das Papier wellt sich unter ihren Fingern.
„Komm schon“, spricht sie sich Mut zu und zieht die Tür komplett auf. Sie läuft ins Wohnzimmer und sieht ihre Mutter auf dem Sofa sitzen. Sie starrt in den Fernseher, aber der ist aus. Karla wedelt mit dem Blatt Papier. „Ich bin fertig, Mama.“
Ihre Mutter verdreht die Augen und winkt ab. „Karla, bitte, ich habe jetzt keinen Nerv für sowas.“
„Aber ihr habt doch gesagt …“
„Karla! Meine Güte! Geh in dein Zimmer!“
Karla stampft auf. Sie fuchtelt mit der Liste vor dem Gesicht ihrer Mutter herum. „Ich hab mir solche Mühe gegeben. Jetzt schau doch …“
Ihre Mutter greift nach dem Blatt, zerknüllt es und wirft es in die Ecke. „Du machst mich fertig, Karla. Siehst du nicht, dass ich meine Ruhe brauche? Reicht es dir nicht, dass Papa gegangen ist, weil du dich aufgeführt hast wie eine Verrückte? Geh in dein Zimmer!“
Karla starrt noch immer in die Zimmerecke auf das zerknüllte Papier, die Worte, die alles wieder gutmachen sollten. Die Arme hängen schlaff an ihr hinunter. Langsam geht sie ein paar Schritte, hebt das Blatt auf und streicht es sorgfältig glatt. Vielleicht sollte sie einfach vorlesen, was sie alles aufgeschrieben hat. Sie räuspert sich. „Dinge, die an mir schlecht sind: Erstens …“
Ihre Mutter springt auf, packt Karla und zieht sie hinter sich her. „Du tickst doch echt nicht mehr ganz richtig! Ab mit dir! Wenn du jetzt nicht ruhig bist, können wir gerne mal wieder darüber sprechen, ob es dir im Heim nicht vielleicht besser gefallen würde. Willst du das?“
Karla schüttelt den Kopf, reißt ihren Arm aus dem Griff ihrer Mutter und rennt in ihr Zimmer. Sie hört, wie der Fernseher eingeschaltet wird. Ein Mann berichtet mit ernster Stimme über das schlimmste Jugendgefängnis in ganz Amerika. Gefährliche Jungs und Mädchen sind dort untergebracht. Wenn sie sich nicht benehmen, werden sie von den Wärtern in besondere Zellen gesteckt, in denen sie sich beruhigen sollen. Da gibt es nicht mal Tageslicht.
Karla schaut aus dem Fenster. Ob es im Heim auch solche Zellen gibt?
Sie geht zu ihrem Kleiderschrank und öffnet die Tür. Da unten liegt er, ihr mit Palmen und lachenden Seesternen verzierter Reisetrolli. Er ist ziemlich klein, aber ein bisschen was passt schon rein. Ihre Eltern schenkten ihr den Koffer damals für den Urlaub in Italien. Das ist schon eine ganze Weile her. Ganz stolz hatte sie ihn gepackt und zum Auto gezogen. Papa hatte gelacht, sein Gesicht lustige Musik gemacht.
Karla fragt sich, wann wohl das Akkordeon kaputt ging. Wie sie es reparieren könnte.
Sie dreht sich um, stapft zurück zum Tisch und reißt ein weiteres leeres Blatt von ihrem Block ab. Auf dem Bett beobachten Herr Flauschi und die anderen Tiere sie mit aufgerissenen Augen. Karla legt sich zu ihnen und erklärt ihnen die ganze Angelegenheit. Es muss sein.
Mit ernstem Blick setzt sie den Bleistift an und schreibt:
„Packliste von Karla Memminger.“
Darunter schreibt sie die ersten beiden Dinge, die sie unbedingt mitnehmen muss auf ihre Reise.
„Briefpapier und Briefmarken!“
Schließlich muss sie sich von unterwegs regelmäßig melden, um ihnen zu sagen, dass es ihr gut geht.