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Karl

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30.08.2002
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Karl

Das monotone Ticken der grossen Standuhr in der Ecke war das einzige Geräusch im ganzen Zimmer. Es war ein schwerer Ton, ähnlich wie das Klicken einer Waffe die ungeladen abgefeuert wird. Die grosse Standuhr mit dem riesigen Ziffernblatt stand an der Wand direkt neben der Tür. Sie reichte fast bis zur Zimmerdecke. Auf dem dunkelbrauen Holzkörper rankten sich zahlreiche Verzierungen sodass die Uhr vor der kahlen weißen Wand nur noch bedrohlicher wirkte.
"Scheiss-Uhr. Jetzt halt doch endlich die Klappe. Ich kann mich so nicht konzentrieren."
Karl saß an einem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers. Neben ihm türmten sich Häufchen von zerknüllten Papierbögen. Karl scharrte mit seinen altmodischen Lederschuhen auf dem Parkett. Sein morscher, harter Holzstuhl war recht unangenehm. Karl war ein hagerer, faltiger Mann. Er wirkte sehr alt, obwohl er erst Mitte dreissig war. Graue Strähnen bilden sich in seinen Haaren und seine Hände sahen schon sehr knochig aus. Auf seinem ausgewaschenen Holzfällerhemd machte sich ein dunkler, getrockneter Kaffeefleck breit. Die Knie seiner engen Jeans waren schmutzig.
Er blickte von seinem Papier auf und sah das große viergeteilte Fenster. Es war kurz vor Mittag aber der Himmel war immer noch stark bewölkt. Auf dem Fenstersims stand ein Fernglas. Er benutzte es manchmal um Vögel zu beobachten. Voyeuristische Absichten lagen ihm fern. Dazu liebte er seine Frau viel zu sehr. Seine Frau, Alexandra. Auf dem Tisch lag noch die Gerichtsvorladung. Neben dem Tisch stand ein kleiner Hocker. Karl benutzte ihn oft als Fussablage, aber im Moment stand er mitten im Raum. Direkt darüber hätte die spartanische Glühbirne hängen müssen, aber im Moment baumelte da nur eine Schlinge. Eine Schlinge aus einem herausgezogenen Kabel, an den offenen Ende sorgfältig isoliert. In einer anderen Ecke des Zimmers stand eine staubige Kommode mit einem Telefon. Das letzte Einrichtungsstück war ein alter, schwarzer Fernseher.
Plötzlich brach die Mine des Bleistifts. Karl fluchte und zerknüllte das Blatt mit den eben geschriebenen Worten. Er legte den Bleistift auf den Tisch, wobei dieser, wegen Unebenheit der Unterlage, langsam wegrollte. Der Stift fiel auf den Boden und blieb liegen. Karl stand langsam auf und sah schwerfällig auf die große Uhr. Es war punkt zwölf. Er stieg auf den Hocker und legte sich die Schlinge um den Hals. Seine Augen waren leer und sein Mund eng zusammengepresst.
Langsam fing er an, auf dem Hocker hin und her zu wippen, dabei hielt er sich an dem Kabel fest. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, er atmete schwer.
Plötzlich läutete das Telefon. Karl hielt inne.
Hektisch riss er sich die Schlinge vom Hals und rannte in eine unauffällige Ecke des Zimmers, wo eine die kleine Kommode mit dem Telefon stand. Er nahm ab.
"Ja!"
"Hallo Karl, ich bins. Wie geht es dir, mein Junge?"
"Mutter... ähh... naja."
"Ich weis schon. Es ist für uns alle nicht leicht. Wir alle haben sie sehr gemocht."
"Mutter hör auf, ich habe dir schon gesagt, dass..."
"Fängst du schon wieder damit an? Du bist nicht daran schuld. Es war ein Unfall."
"Ja Mutter... ich weis."
"Na siehst du. Hast du schon etwas gegessen?"
"Nein, aber..."
"Dann iss jetzt erstmal etwas. Und ich komme dann später noch vorbei. Tschüß!"
"Aber... halt warte...!"
Doch da war schon das Klicken in der Leitung. Karl sackte an der kahlen weißen Wand zusammen und schluchzte. Er stützte seinen Kopf auf seine Hände und blieb eine Weile so regungslos sitzen.
Später raffte er sich auf und schlurfte in die kleine Küche. Riesige Geschirrberge türmten sich im ganzen Raum. Die Mülleimer waren überfüllt und verbreiteten einen beißenden Gestank. Karl öffnete den Kühlschrank. Ein brauner Apfel, eine leere Ketschupflasche und eine schimmlige Dose Eiersalat lagen in den dreckigen Fächern. Gleichgültig verließ Karl die Küche wieder. Dabei stieß er an den Mülleimer und der gesamte Inhalt verteilte sich auf den Fliesen. Einige Insekten flüchteten aus den Essensresten unter die Spüle. Karl nahm das alles gar nicht mehr war.
Wieder im Wohnzimmer steuerte er das Telefon an und wählte die Nummer des Pizzaservices. Mit monotoner Stimme bestellte er eine normale Pizza Margherita, nannte seine Adresse und legte ohne ein weiteres Wort auf. Danach stellte er den unbequemen Stuhl vor den alten Fernseher mit der abgebrochenen Zimmerantenne und schaltete ihn ein. Der Empfang war schlecht, aber man konnte erkennen, dass die Nachrichten liefen. Auf dem verstaubten Bildschirm flimmerte eine Amateuraufnahme von einem braunen Geländewagen, welcher langsam eine enge Straße hinauffuhr. Plötzlich näherte sich von der anderen Seite ein Truck. Der Geländewagen fing an zu schlingern, während der Truck seine Richtung beibehielt. Ein Unfall war unvermeidlich, der Geländewagen drehte sich in das andere Fahrzeug hinein und wurde mehrmals herumgeschleudert. Kurz darauf wurden 2 Bilder gezeigt. Karl und seine Frau.
Die Fernbedienung schlug mit solcher Wucht auf die Mattscheibe, dass diese mit einem Blitz zersprang. Feuer bildete sich nicht, aber ein dicker schwarzer Rauch. Karl fing an zu husten und schleppte den Fernseher in die Küche. Dort ließ er ihn fallen und verschloß die Tür. Im nächsten Moment läutete es. Der Pizzabote stand mit erschrockenem Gesicht vor der Tür. Karl begrüßte ihn freundlich.
"Ähhhh... das macht 4,90... bitte."
"Endlich was zu essen. Mmmh wie das duftet. Herrlich. 4,90 sagen sie? Hier, stimmt so. Und schönen Tag noch."
Kalr drückte dem verwunderten Jungen einen 10 Euro-Schein in die Hand und schloß die Tür bevor dieser reagieren konnte. Kaum hatte er das getan verschwand sein Lächeln wieder und der gleichgültige Gesichtsausdruck zeigte sich. Still setzte er sich an den grossen Tisch und aß bedächtig die Pizza. Dabei beobachtete er ruhig die Schlinge an der Wand.
Plötzlich, er hatte die Pizza noch nicht aufgegessen, sprang er auf und stieg wieder auf den kleinen Hocker. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und begann, Schwung zu holen. Im gleichen Moment ertönte die Türklingel. Karl erschrak auch diesmal und wollte das Kabel wieder entfernen. Doch er fiel schon. Der rundliche Hocker kippte um und begann, wegzurollen. Karl strampelte mit den Beinen in der Luft und röchelte. Die Klingel läutete ein zweites Mal. Wild zerrte er an dem Kabel. Die Augen quollen leicht heraus. Der Hocker hatte in seiner Bahn nun schon einen Halbkreis beschrieben. Das Klingen wich nun einem energischen Klopfen, gefolgt von einer Stimme:
"Ist bei ihnen alles in Ordnung da drin?"
Karl verliessen langsam die Kräfte, aber er zappelte immer noch in der Luft. Der Hocker hatte seine Runde nun vollendet und kam direkt unter Karl zum Stehen. Gierig ergriffen seine Füsse das Holz und er konnte sich abstützen. Das reichte um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Karl fiel laut auf den Boden und blieb auf der Seite liegen. Er hustete und röchelte. Nach einem kurzen Augenblick begann er, zur Tür zu kriechen. An der Tür richtete er sich auf und öffnete einen Spalt. Auf dem Hausflur stand seine Nachbarin mit einer leeren Tasse in der Hand.
"Geht es ihnen gut? Sie sehen schlecht aus..."
Karl holte noch etwas Luft und röchelte:
"Alles Bestens, danke... warum...sie?"
"Achso, ich wollte Fragen ob sie etwas Paniermehl haben. Meins ist gerade alle geworden und ich wollte nicht extra nochmal einkaufen gehen."
Karl dachte an seine Küche und schüttelte leicht den Kopf.
"Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen. Schönen Tag noch."
Und damit schloss er die Tür. Lange Zeit blieb er, an der Wand gelehnt, dort stehen. Nachdem er wieder auf diese Weise eine Menge Zeit verschwendet hatte, setzte er sich endlich in Bewegung. Er stellte den Hocker wieder ordentlich unter die Schlinge, stieg darauf und entknotete die Kabel. Gerade als er damit fertig war, ertönte die Türglocke erneut. Langsam näherte sich Karl der Tür und öffnete diese langsam. Noch bevor er reagieren konnte hatte seine Mutter schon die Wohnung betreten.
"So, da bin ich. Mal sehen ob bei dir alles in Ordnung ist. Na, von Ordnung kann man hier ja wohl nicht sprechen. Alles voller Staub und da liegt noch eine halbe, kalte Pizza rum. Und was macht das ganze Papier hier? Hast du keinen Papierkorb? Du solltest außerdem mal eine Lampe an die ollen Kabel an der Decke machen, sonst hast du nachts gar kein Licht. Ich seh schon, ich muss hier mal ein bisschen helfen. Jetzt schaff ich erstmal die Einkäufe in die Küche."
Während Karls Mutter zielstrebig auf die, noch immer verschlossene, Küche zuhielt, liess dieser sich langsam und seufzend auf den kleinen, hölzernen Hocker nieder.

Ende

 

Hallo ZorkNemesis und erstmal willkommen bei kg.de!

Interessante Geschichte. Gefällt mir ganz gut. Hat Atmosphäre und wirkt ziemlich überzeugend. Schön, wie du das Zimmer am Anfang beschrieben hast.
Auch vom sprachlichen Stil her nicht schlecht.

Beim Ende ("er ließ sich auf den Hocker nieder") bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich es richtig gedeutet habe: Setzt er sich nur drauf oder hat er sich doch noch umgebracht? Ich vermute mal, letzteres.
Gut fand ich auch, dass du durch den Fernsehbericht über den Unfall dem Leser die Gründe für seine folgenschwere Entscheidung nähergebracht hast.

Zwei Rechtschreibfehler:
Zitat: "weis" - weiß
Zitat: "ich wollte Fragen" - "fragen" klein

Viele Grüße,
Michael :)

 

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