- Beitritt
- 02.01.2011
- Beiträge
- 967
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Karl starrt
Ich drehte mich zur Rückbank um. Wir saßen in ihrem Auto. Sie nannte es liebevoll "die Gurke", und es hatte tatsächlich mehr Ähnlichkeit mit einer angeschimmelten Gurke, als mit einem grünen VW Käfer. Aus den Lautsprechern dröhnten The Who, und wir stießen mit unseren Dosen an. Sie lächelte, und aus ihrem blassen Gesicht blitzte die kleine Zahnlücke auf.
Das Schuljahr war gerade vorüber, und sie war eines jener Mädchen, die ich von meinem Platz in der letzten Reihe oft stundenlang angestarrt hatte, und mir dabei vorstellte, wie meine Hände durch ihre dunklen Haare und über ihre Schenkel streichen würden.
Jürgen, ein hagerer Kerl und mein Kumpel seit Kindergartentagen, fuhr ihr Auto, weil sie unbedingt auf der Fahrt Bier trinken wollte, und ich machte mit. Unsere Dosen klackten aneinander, Jürgen drückte aufs Gas, und wir nahmen beide einen großen Schluck.
Es fühlte sich gut an. Da im Auto verband uns die gleiche Freude am Trinken und mir kam es vor, als ob wir uns schon ewig gekannt hätten.
Ich hatte bis ein paar Wochen vor Schuljahresende kaum ein Wort mit ihr gewechselt, hatte es auch nie darauf angelegt. Jedenfalls verwickelte ich sie gegen Ende immer öfter in billige Smalltalks, um das Fundament zu legen, auf dem wir vielleicht irgendwann einmal sitzen und rummachen würden. Ich schwirrte zunehmend wie eine aufgebrachte Fliege um sie herum, in der Hoffnung, es käme der Tag, an dem ich einfach auf ihr landen würde, um den süßen Schweiß von ihrer Haut zu lecken. Ich wartete auf den letzten Schultag, an dem die Oberstufe den Sommer mit jede Menge Alkohol begrüßen würde.
Betrunkene Mädchen. Meine Chance. Wir lagen zu Hunderten am See, die Sonnenstrahlen kitzelten uns, und wir badeten in der Magie des letzten Schultags. Irgendwann kam sie zu mir und meinen Hippiefreunden herüber getorkelt, fragte ob ich etwas Gras hätte, und brachte die ganze Umgebung mit ihren riesigen braunen Augen und ihren kleinen Brüsten zum Brennen. Sie setzte sich, wir lutschten an unseren Flaschen, bliesen weiße Wölkchen in den blauen Himmel, und fanden langsam in ein Gespräch. Sie konnte die Streber aus der ersten Reihe nicht leiden, mochte Bob Dylan, und während sie so erzählte, wippte sie mit ihren dünnen Beinen im Gras umher. Oh Gott, dachte ich mir, diese Beine. Irgendwann, als wir nur noch zu Zweit auf der Wiese lagen und wegen irgendetwas lachten, gab ich ihr einen Kuss, sie lächelte mich an, und ich verschwand in ihren dunklen Augen.
Jürgen kannte zwar Monika nicht, wusste aber dafür, wo Günther wohnte. Er schmiss in diesem Kaff Wummerstedt eine Party, seine Eltern waren verreist. Jürgen parkte die Gurke, ich kippte mir den letzten Tropfen Bier auf die Zunge, und warf die Dose auf den Parkplatz. Ich spürte bereits, wie der Alkohol mein Gehirn lähmte. Kein Wunder, ich fühlte mich seit einigen Tagen unwohl, und hatte seit den Cornflakes heute Morgen nichts mehr essen können.
Wir liefen ein paar Meter zu Günthers Haus, ich neben Monika, und Jürgen voraus. Ich hätte gerne ein paar Worte mit ihr gewechselt, aber aus der Ideenzentrale in meinem Kopf kam nichts. Leere. Mein Gehirn war in Watte gepackt, unfähig zu denken. Eine peinliche Stille schlich sich zwischen uns, und jagte langsam tiefe Risse in den Beton unseres Fundaments.
"Wie waren die Ferien bis jetzt?", fragte ich.
"Ganz gut. Deine?"
"Auch gut. Fährst du mal weg?"
"Denke nicht. Du?"
"Auch nicht."
Ich sah sie an. Ich kannte sie gar nicht. Unsere Zeit am See schien es nie gegeben zu haben. Wahrscheinlich war ich wie ein Hund, der einem Auto hinterher jagt: Wenn er es einmal kriegen würde, wüsste er wahrscheinlich auch nicht wirklich, was er damit anfangen sollte.
Wir kamen am besagten Haus an, ein kleiner Dackel bejaulte am Gartentor unsere Ankunft, Günther winkte uns mit seinem korpulenten Körper herein, und wir gesellten uns an eine lange Bierbank zu 15 oder 20 anderen. Monika saß auf einem Hocker am Ende des Tisches, daneben auf der einen Seite ich, auf der anderen Jürgen. Eine gähnende Stille hing über uns, und wollte einfach nicht verschwinden. Monika und ich hatten uns seit dem letzten Schultag nicht wieder gesehen, hatten ein-, zweimal telefoniert, uns für die Fete hier verabredet, mehr nicht. Jetzt konnte ich sie riechen, sie roch nach Orangen. Wir schlürften an unseren Flaschen, und hörten den Gesprächen der anderen zu.
Es vergingen einige Minuten, und Jürgen begann immer mehr vor Tatendrang zu strotzen. In der Grundschule, noch vor der großen Ritalinwelle, war er eines der ersten Kinder, bei denen MCD – das spätere ADHS - festgestellt wurde. Er saugte hastig an seinem Bier, rollte Joints, begann Witze über den Tisch zu plärren, und brachte alle zum Lachen, so wie er es immer tat, wenn er guter Laune war. So wie ich es am See tat, aber heute war ich einfach nicht in Form.
"Okay Leute", eröffnete Günther, "das hier ist das Trinkspiel: Jeder zieht reihum eine Karte, und je nach Symbol trinkt ihr, oder der Schnaps wird auf den Nächsten addiert!"
Wir zogen nacheinander eine Karte, tranken, addierten, eine arme Gestalt musste ein paar Schnäpse hintereinander kippen, lief grün an, und schüttete Bier nach.
Ich war nie ein großer Redner, aber wenn ich auf Partys einen guten Pegel hatte, wusste ich eigentlich immer, was zu sagen war, um den Leuten ein Grinsen ins Gesicht zu kleben.
Heute verwandelte mich der Alkohol in einen stummen Beobachter, in ein betrunkenes Gespenst, das seinen Klamauk mit den Flaschen trieb, aber keiner lachte. Ich versank, während Monika langsam auftaute.
Jürgen imitierte Castro, und sie grölte, konterte mit irgend einem Willy Brandt Spionagewitz, sprang nach dem zehnten Schnaps vom Hocker auf, und sang ihre eigene Interpretation von Kung Fu Fighting. Alle pfiffen und applaudierten. Der Garten bebte.
"Also Monika, ich finde du schaust aus wie diese Obermaier!", sagte Jürgen schließlich, als sie sich wieder gesetzt hatte.
"Eher wie Twiggy", warf ich lustlos ein.
"Twiggy? Die schaut aus wie 'n Junge. Da bin ich lieber Obermaier!", sagte sie.
"Na hoffentlich spielst du mal nicht in so schlechten Filmen mit", murmelte ich, war mir ein paar Lacher sicher, aber es kamen keine.
"Also ich mag die Obermaier!" Monika blickte jetzt gekränkt über den Tisch. Ich hatte auf das falsche Pferd gesetzt.
"In 'Rote Sonne' war sie ganz gut", versuchte ich es zu retten. Sie schaute kurz zu mir, dann blickte sie wieder weg.
"Na ja, auf jeden Fall", führte Jürgen irritiert fort, "diese Obermaier war nicht älter als du, da wurde sie entdeckt, bekam gleich einen Modelvertrag, und ist nach München abgehauen!"
"Oh ja, nach München, da würde ich auch gerne hinziehen!", freute sich Monika, und strahlte Jürgen an. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich zog die falsche Karte und musste vier oder fünf Schnäpse trinken. Jürgen verschwand nach drinnen, um neues Bier zu holen.
"Magst du lieber Jägermeister oder Asbach?", fragte ich Monika, während mein Mund noch brannte.
"Mhm. Keine Ahnung."
Stille. Wir trieben langsam auseinander.
Jürgen kam zurück, und klackte ein paar Flaschen auf den Tisch.
"Also, wo kommst du her, Monika?", fragte er gut gelaunt, und setzte sich wieder.
"Reitersbach! Kennst du, oder?"
"Klar. Kennst du den Heinz und so, mit denen spiele ich da oft Musik!"
"Ist nicht wahr?! Klar!", strahlte sie, "sag doch mal Bescheid, wenn ihr wieder mal irgendwo spielt!"
"Mach' ich", grinste Jürgen eitel. Ich hasste ihn.
Er stand auf, sagte, er wolle drinnen etwas kochen, und stolzierte davon. Es wurde still draußen, wieder schwiegen wir. Jürgen war eindeutig der Stimmungsmacher. Mein Magen knurrte, und Monika gähnte.
"Ich geh' auch mal rein, wird ganz schön frisch hier draußen", sagte sie schließlich, und ging. Es muss dringend etwas passieren, dachte ich mir.
Mit den Übrigen saß ich draußen und trank noch einiges. Der warme Schleier fiel langsam vor meine Augen. Er war wie ein alter Freund, der mir auf den Rücken klopfte, und zuflüsterte, dass heute alles möglich wäre. Das tat mir gut, ich brauchte das. Ich wollte schließlich noch Orangen ernten.
Ich ging ins Haus, kam in die Küche, und fand Jürgen verwirrt über ein paar rauchende Töpfe und Pfannen hantieren. Die Küche war riesig, und von überall her schallte Musik. Monika saß auf der Küchenkommode neben Jürgen. Sie beobachtete ihn amüsiert bei seinen vergeblichen Versuchen, die blubbernde Pampe wieder unter Kontrolle zu bekommen, und heulte fast vor Lachen. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, biss auf den Zigarettenfilter, brachte den Tabak zum Brennen, und beäugte das Geschehen. Sie kicherte und hielt sich den Mund zu, er alberte herum, und popelte mit einem Löffel in den Töpfen. Sie sahen mich nicht.
Ich ging wieder nach draußen und wir spielten noch ein paar Runden das Karten-Schnaps-Spiel, dann waren wir zu blau dafür, hörten nur noch Platten, und pafften Marlboros. Ich fühlte mich immer fitter, aktiver, erzählte Anekdoten, in denen ich in peinliche Situationen getrieben wurde, und alle schmunzelten. Ich nahm wieder Fahrtwind auf, wartete darauf, dass Monika raus kommen würde, und dass es jetzt endlich losginge. Sie kam nicht.
Einige Zeit verging, es war nun schon dunkel, und kaum einer brachte mehr einen geraden Satz über die Lippen. Ich taumelte mit ein paar leeren Flasche ins Haus, holte neue aus der Abstellkammer, ging also mit einem guten Grund an der Küche vorbei, und sah Monika und Jürgen mit ein paar anderen herumlungern, lachen, und einen Joint rauchen.
"Hey, kommt doch raus, wir sind alle draußen!", lallte ich, und stand in der Tür.
Sie lachten weiter. Anscheinend hatten sie mich nicht gehört.
"Draußen ist die Party!"
Jetzt hatten sie mich gehört. Sie blickten mich alle erschrocken an. Im Hintergrund sang Mick Jagger.
"Klar Karl, ähm... wir kommen gleich!", stotterte Jürgen schließlich, während die anderen mich immer noch wie geblendete Rehe anstarrten.
Ich ging nach draußen und setzte mich. Der Mond blickte auf mich herab, und lachte. Monika und Jürgen wankten heraus, und ließen sich auf ihre Plätze neben mir fallen. Die Anlage lief nun so laut, dass ein normales Gespräch gar nicht mehr möglich war. Die meisten saßen in der Musik herum, nuckelten an ihren Flaschen, und lallten ab und zu etwas lautstark in das Ohr ihrer Nachbarn.
Monika lallte etwas in Jürgens Ohr. Ich zog den blauen Dunst meiner Zigarette gierig in meine Lungenflügel, und schämte mich, so naiv hier her gekommen zu sein. Jürgen saß regungslos da, und starrte mich mit einem mitleidigen Blick an. Ich konnte es in seinem Gesicht lesen: Er hatte nicht gewusst, was er tat. Und er wusste nicht, was er nun tun sollte, ihm war bis jetzt nicht bewusst gewesen, in welches Schlamassel er geradewegs dabei war, uns hinein zu manövrieren. Er starrte mich eine ganze Zeit lang wankend an, stand schließlich sprunghaft auf, und ging allein ins Haus. Mehr konnte er nicht machen.
Endlich hatte ich Monika für mich. Ich sah sie an. Sie sah mich an.
"Ich habe gehört, du kannst gut malen?!", schrie sie schließlich in mein Ohr.
"Na ja, weiß auch nicht, ein bisschen!", plärrte ich zurück.
Sie kramte ein zerknittertes Blatt Papier und einen Bleistift aus ihrer Tasche heraus.
"Zeichne mich mal!", grinste sie.
Ich gab mein Bestes, aber es wollte einfach nicht mehr. Ich sah ihre süßen Sommersprossen an, sah wieder ihre Zahnlücke blitzen, und alles was ich davon zu Papier bringen konnte, glich vielmehr einer überfahrenen Katze.
Sie sah es sich an, versuchte zu lächeln, und tastete schließlich die Umgebung mit suchenden Blicken ab. Sie stand auf und ging wieder ins Haus.
Ich saß da und fühlte mich elend. Das Alkoholgemetzel forderte seine ersten Kollateralschäden. Günther lag kotzend in einer Hecke, einige starrten leblos vor sich her, und ein Mädchen lag komatös auf der Bierbank herum. Ich wusste nichts mehr mit mir anzufangen, alles drehte sich so sehr, dass es mir vorkam, als wäre ich gerade aus einem Karussell gestiegen. Ich griff nach einer Flasche Jägermeister, und wackelte in Richtung Küche, in der Hoffnung, die Party hätte dort ihren Zenit noch nicht überschritten.
Drei oder vier tanzten in der Mitte des Raumes, die anderen saßen auf den Küchenkommoden herum, rauchten, lachten. Darunter auch Jürgen und Monika. Ich torkelte in die Küche, stolperte über die kleine Kante des Türrahmens, und krallte mich an seinem Holz fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jürgen sah mich, und kam zu mir herüber.
"Los, Karl, geh' mal 'n bisschen in die Offensive, sonst wird das nix!" Er zog seine Augenbrauen weit nach oben. Ich konnte sein schlechtes Gewissen riechen.
"Heeeey!", brüllte ich, und hob die Flasche wie eine Trophäe in die Höhe. "Was ist denn los mit euch, Leute? Kann hier keiner mehr richtig saufen?!"
Die Tänzer erstarrten, ein paar andere begannen zu kichern.
"Kommt schon!" Ich riss den Deckel ab, schmiss ihn irgendwo hin, und zelebrierte einen kräftigen Schluck. Ich drückte den Jägermeister in Jürgens Hände, der nippte widerwillig, mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Ich wackelte in die Mitte des Raumes. Monika saß auf einer Kommode und starrte mich mit leeren Augen an. Ich versuchte zu tanzen, geriet aber zu sehr ins Taumeln, krallte mich wieder am Türrahmen fest, und starrte zurück. Jürgen stand mit einem bedrückten Gesicht neben mir und lutschte ein weiteres Mal an der Flasche. Die Leute erwachten langsam aus ihrer Schockstarre, und begannen wieder zu reden. Ich stolperte nach draußen, kotzte auf den Rasen, legte mich einige Zeit neben dem Komamädchen auf die Bank, und als ich wieder aufwachte, näherte sich die Party ihrem Ende.
Wir waren alle zu betrunken, um noch zurück zu fahren. Wummerstedt war einige Kilometer von meinem Zuhause entfernt, allein die Autofahrt hatte eine halbe Stunde gedauert. Die meisten würden hier übernachten. Wir wollten hier übernachten. Ich zog mir meinen Pullover über, steckte mir eine Zigarette in den Mund, und machte mich auf den Weg. Im schwarzen Himmel glitzerten ein paar Sterne, und von überall her zirpte es.
Als ich am Haus vorbei zum Gartentor lief, sah ich sie durchs Küchenfenster. Sie stand da, ihr kleiner Mund grinste, ihre dunklen Augen strahlten. Ich konnte mir nur vorstellen, was sie gerade zu Jürgen sagen würde. Da stand ich nun wieder, starrte sie an, so wie ich sie in den vielen langweiligen Schulstunden angestarrt hatte, und stellte mir vor, wie ich ihr braunes Haar über die Ohren streifen, und ihre weichen Lippen küssen würde. Ich stand da, und starrte. Mein Magen knurrte, und mir war schwindelig. Ich fühlte mich krank, nutzlos, traurig. Ich war in sie verliebt.