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Karl ist komisch/komisch
Karl ist schüchtern und läuft mit einer beigen Jutetasche durch die Gegend, die mal ein Sitzkissen war, da war vorher Schaumstoff drin, und dieses Sitzkissen hat er von einer Gartenfeier einfach ungefragt mitgenommen, die ein ehemaliger Freund ausgerichtet hatte, der jetzt vier Katzen hat, die er von Karl bekommen hat, weil der, als er merke dass das nicht funktioniert, die Katzen nicht mehr wollte, denn das war alles Quatsch mit der Wärme und Geborgenheit, das war Quatsch mit den Katzen. Wenn er noch wüsste, wer ihm das geraten hat, mit den Katzen und der dazugehörigen Wärme und Geborgenheit, dann würde er den, aber richtig, aber das war vor der Zeit, in der er wieder klar sehen konnte, was davor war, das kann er kaum noch collagieren. Er weiß noch, wie er bei seiner Oma desöfteren bereits abgelaufene Milch bekommen hat, weil seine Oma meinte, dass die noch nicht abgelaufen sei, weil alte Leute oft verwirrt sind. Sie wies immer auf das Mindesthaltbarkeitsdatum hin, tippte mit dem Zeigefinger darauf und sagte: „Mindestens haltbar!“, als wäre die auch Wochen nach Ablauf noch genießbar. Dann hat Karl immer Kakao in die Milch gelöffelt, dann ging das mit der schlechten Milch irgendwie, aber Kakao war das nicht.
Karl hat keinen Führerschein, weil er keinen braucht, alles ist bequem zu Fuß zu erreichen, weil er nicht weiß, wie das geht, weil er keine Ahnung hat von Autos, weil er schlecht im Fragebogenausfüllen ist, weil er sich niemals im Leben ein Auto leisten könnte, weil er mal angefahren wurde und weil er denkt, Autos seien Killermaschinen. Das ist verständlich, dass Karl keinen Führerschein hat.
Karl lief einmal mit offenen Armen einen Gehweg hinunter, dachte, er würde so in seine Liebe laufen, wenn so nicht, dann niemals. Die Narbe hat er heute noch, die wird bleiben, das ist seine, weil er damals nichts mit einem schlagenden Herzen getroffen hatte. Das erschien sogar in der Zeitung, auf dem Bild war der Hydrant zu sehen, Karl war schon weg. Er war geflüchtet, untalentiert wie er ist, rempelte Menschen an, rutschte aus, blickte zurück und schimpfte auf den Hydranten und lief über die Straße. Daher der Unfall. Er hatte es verdammt eilig. Danach konnte er nicht mehr weglaufen.
Karl spricht mit seinen Pflanzen, redet mit dem Fernseher, aber dass das mit dem Fernseher Unsinn ist, das weiß er. Er hat einen Schnurbart, der seinen Mund zur Hälfte rahmt, mit dem könnte man jemanden erschlagen und vorher noch erschrecken. Karl rasiert sich schlecht, weil die Lampe im Bad kaputt ist, er weiß nicht, wie man das wieder hinbekommt. Manchmal stellt er sich davor, schaut hoch zur kaputten Lampe, die Arme eng an den Körper gepresst wie ein Soldat, reibt sich das Kinn und denkt eine Menge Unsinn, wie er das Licht wieder anbekommen könnte. Er möchte wieder alles klar sehen können.
Karl ist Sammler, das erzählt er auch gerne mal, wenn niemand fragt. Er sammelt Kronkorken, 11.000 Stück hat er bereits, alles die gleichen. Die hortet er in einer großen Truhe, die er in einem ansonsten leeren Zimmer versteckt. Die Leute sehen ihn im Park, die Augen auf den Boden gerichtet. Und wenn er dann fündig wird, das Gefundene in die beige Jutetasche steckt, dann halten ihn die Leute für komisch, weil sie denken, dass das doch nichts sei, was er da aufhebt, aber Karl hat 11.000 Stück von den Dingern, und er findet, dass das schon etwas ist.
An Nikolaus stellt er seine Schuhe vor die Tür, außer einmal war da nie was drin am Morgen. Einmal hatte ihm die Nachbarin mit den Biegefüßen und dem Porzellangesicht etwas in die Schuhe getan, er weiß, dass sie Ballettuntericht gibt, das weiß er, weil sie im Sommer manchmal das Haus in ihrem Balletttrikot verlässt, dann sieht sie aus, als würde sie leicht kaputtgehen und als hätte sie blaue Haut. Das Mädchen mit den Biegefüßen hat ihm dieses Jahr etwas in die Schuhe getan, weil Nikolaus war, und Karl ihr leid tat, sie hörte, dass er niemals Besuch kam, sie sah, dass er wenig lachte, sie wusste, dass er mit seinen Pflanzen redet, das hört sie von oben, ihre Balkone liegen untereinander, und sie hat ihm nie gesagt, dass sie es war, mit den Pralinen und dem Schlüsselanhänger, Karl war ihr irgendwie symphatisch, verwirrt und nicht ganz geheuer, und sie dachte an die Folgen, die kommen würden, wenn sie ihm erzählte, dass sie es war, mit den Aufmerksamkeiten im Schuh, und das wollte sie nicht, sie wusste ja nicht genau. Sie hatte Angst, dass Karl ihr dann ständig etwas runterbringen würde, ungefragt die Fahrradreifen aufpumpt, oder beim Tapezieren helfen wollen würde. Sie fand, dass Karl symphatischer aussehen würde, wenn er nicht immer so schauen würde, als hätte er etwas gefunden, das er nicht behalten darf und nicht zurückgeben möchte. Und er sollte nicht so gehen, als hätte er das Gefundene dabei, ängstlich sieht er aus, als wären sie hinter ihm her. Karl hört manchmal die klassische Musik, die das Mädchen mit dem Porzellangesicht anstellt, wenn sie übt. Dann stellt er sich vor, wie sie die Arme über dem Kopf zu einem perfekten Kreis zusammenführt, dann ein Bein abspreizt, am Ende: die Biegefüße und eine Drehung. Er stellt dann immer den Fernseher leise, summt schief die Melodie mit, schließt die Augen, wippt hin und her und denkt daran, dass das Mädchen, das leicht kaputtgehen kann, schön ist.
Karl kann sich nur schlecht an die Zeit erinnern, die war, bevor er wieder klar sehen konnte. „Das sind Scherben.“, plappert er manchmal im Schlaf.
Karl hat einen fixen lustigen Moment in der Woche, auf den kann er sich verlassen, der kommt immer wieder. Samstagnacht stellt er im TV die Endlosschleife mit dem Goldfisch an, und stellt sich vor, wie bei den ganzen alten verwirrten Leuten jetzt eine Menge Goldfischfutter auf dem Fernseher liegen muss, weil alte Leute doch oft verwirrt sind, und alte verwirrte Leute ständig kaputte Fernseher haben. Dann lacht er, schläft dabei langsam ein und sabbert sich auf den grünen Jägerpullover, er weiß gar nicht, wo er den her hat. Karl ist komisch.
„Karl ist komisch.“, sagen die Leute im Haus, das hört er manchmal, so wie er die klassische Musik von der Frau hört, die blaue Haut hat im Sommer. Er hört dann, wie sie im Treppenhaus über ihn reden, die Eltern von dem Jungen in der Wohnung neben seiner, der Mann, dessen Frau man so selten sieht, und die alte Dame daneben, die ist vor einer Weile gestorben, und Karl war bei der Beisetzung und hat geweint, als jemand den Lebenslauf vorgelesen hatte, übertrieben gut und heroisch, wie das so läuft, und so laut geschneuzt hat er sich, dass sich die Leute neben ihm von ihm wegdrehten und vor ihm zu ihm umdrehten und ihn wie im Kino ermahnten. Da fragten sie ihn, wer er wäre, und Karl sagte, er hätte die tote Dame gekannt. Warum er weinte? Wegen des Lebenslaufes.