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Karibik
Sarah blickt in die leuchtend orange, rote Farbenpracht des Sonnenuntergangs, horcht den Meereswellen zu, die sich weit unten in der Bucht brechen und saugt tief den Duft von Salzwasser und exotischen Pflanzen ein. Auf dieser Klippe saß sie noch vor ein paar Stunden mit Briony, verfolgte ihre Worte, versuchte in ihren dunklen Augen zu lesen und bewunderte ihre langen schwarzen Rastalocken. Sarah war fasziniert von ihrer Fröhlichkeit und ihrer Melancholie. Briony erzählte ihr ernste und heitere Geschichten über diese Insel, beschrieb die Karibik gleichzeitig als Paradies und als Hölle, geprägt von hartem Überlebenskampf und unbändiger Lebenslust. Aus dem Autoradio drang der hier ständig zu hörende Soca, „boy just push it back, push it harder back on me“ klang es fordernd und unzweideutig an Sarahs Ohren. Benommen von Rum´n´Coke, der Sonne, der Kraft der Farben des Himmels, der Pflanzen und des Meeres, den schnellen Rhythmen, der weichen Luft gingen Sarah ungewohnte Gedanken durch den Kopf. Sie ließ ihre Augen an Brionys schlanken Körper entlang wandern, ertappte sich plötzlich dabei, auf die Brüste einer anderen Frau zu starren und blickte erschrocken auf. Briony lächelte sie an, hörte nun ihrerseits gespannt Sarahs plötzlichen Redeschwall über Europa und dessen Menschen zu.
Sarah ist an den Ort der verwirrenden Gefühle des Nachmittags zurückgekommen, hat der heute im Dorf statt findenden Party, der lauten greifbaren Erotik, den tanzenden Körpern, die im Rhythmus der Musik Sexszenen simulieren, den Rücken gekehrt. Aufgeregte, blondierte weiße Frauen, temperamentvolle schwarze Tänzerinnen, vom Sonnenbrand und Geld gezeichnete US-Amerikaner, sinnlich-schöne Einheimische, sportliche, vom Surfen braungebrannte Urlauber, unglaublich sexy wirkende Insulanerinnen, entspannte Britinen, coole Rastafaris.
Ein paar hundert Meter von all dem entfernt, alleine auf der Klippe, tauchen vor ihr die Bilder der letzten Wochen auf: unrealistisch schöne einsame Buchten, kristallklare Wasserfälle inmitten des üppigen Regenwaldes, Korallen und fluoreszierende Fische. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie türkisblau das Meer sein kann, welches sich am Horizont mit dem unendlichen Azurblau des Himmels trifft. Der Geschmack von frischer Kokosmilch auf der Zunge, das Waschen ihrer rotblonden langen Haare im Quellwasser, der von Korallsplittern rosa eingefärbte Sand in der „Lovers Bay“, eine Gruppe junger Leute, die zu Gitarrenklängen den Tag am Palmenstrand verbringt, eine Fahrt mit einem Fischerboot weit hinaus aufs Meer – Bacardi Feeling gibt es wirklich.
Umschmeichelt von der leichten Brise des Windes und verwirrt von den Drinks, wird ihr bewusst, dass sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünscht, als dass sich Briony ebenfalls von der Party, der pulsierenden Menschenmenge löst und ihr den schmalen Weg herauf zur Klippe folgt. Sie will nochmals ihr English Creole und ihr Lachen hören, wieder ihre Hand auf ihrem Rücken spüren. Sie streicht über den Stein, gibt sich der visuellen Pracht am Horizont hin – violett, orange, gelb; wissend, dass es keine Steigerung dieses intensiven Farbenspiels gibt, fühlt sie sich auf traurige Weise glücklich.
„Hi.“ Sarah fährt auf wie vom Blitz getroffen. „Hello ...“ flüstert sie in die Dunkelheit. „Why you left the party?“ Sarah weiß nicht, was sie antworten soll. Briony nimmt sie an der Hand: “Come back with me. No sadness. I wanna dance with you.” Sarah spürt Brionys Hand in ihrer, folgt ihr ein paar Schritte, bleibt plötzlich stehen. Sie fühlt sich missverstanden. Sie ist nicht traurig. Überrascht blickt Briony sie an. „You don´t wanna dance with me?“ Sarah findet keine Worte, starrt sprachlos in Brionys Gesicht. Aus der Ferne klingen die inzwischen vertrauten Weisen der Karnevalsongs, „too much biting insexts", weit unten in der Bucht brechen sich die Wellen in unabänderlich wiederkehrenden Rhythmus. Dennoch ist es still in diesem Moment – vollkommene Stille herrscht zwischen den beiden Frauen. Keine von ihnen bewegt sich. Sarah weiß, dass sie Brionys Frage nicht mit Worten beantworten kann.
Sie findet sich am Arm ihrer Freundin empor tastend wieder. Das sanfte Streicheln ihrer eigenen Finger passt in keine der bekannten Denkkategorien, sie kann nicht einordnen und erfassen, dass sie eine andere Frau begehrt. Geschichten, von Sex zwischen Frauen kommen ihr ins Bewusstsein. Frauen, die sich zärtlich berühren, behutsam über die Schenkel ihrer Geliebten streicheln, zart mit den Lippen ihre Partnerin liebkosen, sanft ihre Körper verwöhnen. Sie spürt nun Brionys Hand ebenfalls auf ihrem Hals, atmet schneller, ist verzaubert von Brionys behutsamen Kuss. Sarah ist benommen, überwältigt von ihren eigenen Phantasien.
Eine unerwartete, aber eindeutige Bewegung Brionys entlarvt diese Phantasien als Trugbilder. Sarah lässt sich, übermannt von Brionys plötzlicher Entschlossenheit, auf den Boden sinken. Bestimmt und zielgerichtet streicht diese über Sarahs Körper, bedeckt ihn mit Küssen. Sarah ist verwirrt vom Sturm der Empfindungen. Aus der Ferne der Soca „girl caress my body, you got me going crazy, you turn me on, turn me on“, unausweichlich dieses Wollen. Das Rauschen der Wellen, die funkelnden Sterne des karibischen Nachthimmels, der Geruch fremder exotischer Pflanzen, Gier, Sinnesrausch. Vergangenheit und Zukunft prallen aufeinander.
Sarah und Briony sitzen aneinandergeschmiegt am Rand der Klippe, blicken in den Sonnenaufgang. Briony läßt den Kopf auf Sarahs Schulter ruhen. Beim Gedanken, in ein paar Stunden abreisen zu müssen, überkommt diese eine tiefe Traurigkeit. Es stimmt, was man sagt. Der wahre Geschmack der Tropen ist bitter.