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Karate unterm Weihnachtsbaum
Huiiiii – er rauschte den Kamin hinunter und wirbelte bei der Landung eine schwarze Wolke auf.
Santa Claus unterdrückte ein Husten. Verdammt, konnten die nicht wenigstens einmal im Jahr den Kaminkehrer kommen lassen.
Hoffentlich hatte keiner was gehört.
Vorsichtig erhob er sich, bereit, beim geringsten Geräusch wieder im Kamin zu verschwinden. Doch nichts geschah. Die Stube lag still und verlassen im silbrigen Mondlicht, das durch die Fenster rieselte.
In seinem schwachen Schein glitzerte der Weihnachtsbaum in der Ecke geheimnisvoll. Santa Claus nickte anerkennend. Alle Achtung. Das war ja einmal ein Baum! Schön gerade gewachsen, mit Sternen, Kugeln, Girlanden und Lametta festlich geschmückt und mit vielen, vielen Kerzen, die nur darauf warteten, den Baum in ihrem Glanz erstrahlen zu lassen. Einen Moment lang stand der bärtige Geselle einfach nur da und staunte. Dann besann er sich auf seine Aufgabe.
Ächzend und leise vor sich hin fluchend zog er den Sack aus dem Kamin und schleifte ihn quer durchs Zimmer auf den Baum zu. Diese Bälger wurden auch immer unverschämter. Mal sehen, was der hier von ihm haben wollte. Er schaltete seine Taschenlampe ein und konsultierte noch einmal das Buch der Wünsche. Hier stand es. Timothy Jails, acht Jahre alt, wünschte sich ein Computerspiel (The Ninja Fighters), zwei DVDs (KarateKid I und II), das Buch „Der Weg eines Kämpfers“ von Bruce Lee, eine Jahreskarte für den Karate-Club von Sealsfield. Santa Claus öffnete den Sack und begann zu kramen.
„Bist du Santa Claus?“
Das dünne Stimmchen ließ ihn erstarren, als wäre er ein Schokoladenweihnachtsmann.
Die größte aller möglichen Katastrophen – sie war eingetreten.
Das, was niemals geschehen durfte – es war geschehen.
Man hatte ihn gesehen.
Langsam drehte er sich um. Da stand der kleine Bengel, barfuß und im Schlafanzug, seinen Teddy gegen die Brust gedrückt, und sah ihn mit großen, unschuldigen Augen an.
Niemand, aber auch wirklich und ohne Ausnahme niemand, durfte Santa Claus bei seiner Arbeit beobachten. So stand es geschrieben. Und nun dies. Seine Berufsehre war soeben auf dem Müll gelandet.
„Ich bin nicht Santa Claus“, log Santa Claus.
„Und wer bist du dann?“
„Ein ... ein ... Ein...brecher!“
„Aaaaaiiiiiiiiiiii.“
Unter dem Kampfschrei des Jungen zerbarst die Stille. Bevor der Weihnachtsmann wusste, wie ihm geschah, fand er sich einige Flic Flacs Timothys später inmitten eines Tornados wieder – eines Tornados aus Handkantenschlägen und Fusstritten, die seiner Würde entschieden abträglich waren. Dieser verfluchte Satansbraten! Die Weihnachtsgeschenke! Er hätte gewarnt sein müssen. Ein Tritt gegen die Brust ließ ihn taumeln. Ein Schlag traf ihn schmerzhaft auf das linke Ohr. Die nächsten Schläge konnte er mehr schlecht als recht abwehren. Flucht! Den Sack wie eine Keule schwingend um sich den kleinen rasenden Teufel vom Leib zu halten, der ihn umsprang, trat er den Rückzug zum Kamin an. Zack, Klirr – eine Vase. Ein Rauschen und Knacken – der schöne Weihnachtsbaum, vom Sack gefällt – er sah es mit Bedauern. Fluchend rettete Santa sich in den Kamin. Ich werde zu alt für solche Sachen, dachte er. Das letzte, was er sah, bevor er nach oben sauste, war dieser Alptraum eines Jungen, der triumphierend die Fäuste schüttelte.
Im nächsten Jahr würde Timothy seine Weihnachtsgeschenke mit der Post bekommen, nahm er sich vor. Von ihm nicht mehr. Das hatte er nun davon.