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Kaputte Kneipen

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21.03.2003
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Kaputte Kneipen

Draußen fand Lücking sie nicht auf dem Weg zu ihrem Auto. Sie war verschwunden. Sie kannte ihn nicht, er konnte sich frei bewegen. Dann sah er sie. Sie befand sich zu Fuß auf den Weg Richtung Innenstadt. Sie schlug in eine bekannte Kneipenstraße ein. Er kannte die Gegend unweit des Rotlichtmilieus. Junge Leute waren dort kaum zu finden, schon gar keine alleinstehenden jungen Frauen. Er machte auch mal einen Zug durch diese Straße und er fand nur Kneipen, die er für sich als kaputt titulierte, wo nichts zu holen war, wo nur Alkoholiker auf Deckel soffen, die sie zum nächsten Ersten dann gerade so bezahlen konnten. Gelegentliche Schlägereien waren dort die Highlights.

Und tatsächlich, sie ging in eine hinein. Der Reiz, ihr nachzugehen ist groß. Doch wenn er es täte, würde sie ihn sehen, und immer mit dieser Kneipe in Verbindung bringen, sein Gesicht zumindest präsent haben. Konnte er das riskieren? Er musste es riskieren. Sich im Zweifelsfall fürs Leben zu entscheiden, war sein Motto. Genau das tat er nun und ging ihr nach.

Als Lücking die Wirtschaft betrat, fühlte er sich beklommen auf eine Weise, die er von sich längst abgelegt glaubte. Ein unterbewusst gesteuerter Vorgang, der sich nicht abstellen lässt und den er Taumeln nennt: Alles Neue wird blitzartig mit bisherigen Erfahrungen abgeglichen und entsprechend eingeordnet, ohne dass es auf dem Bildschirm erscheint, sprich einem bewusst wird. Man selbst spürt nur dieses Gefühl des Taumelns. So taumelte er also in die Kneipe und war froh, auf den ersten Blick einen freien Hocker in einer günstigen Ecke gesichtet zu haben.
Und selbst danach, als sein Sicherheitssystem keine Verbindungen zu negativen Erlebnissen ausmachen konnte, betrachtete er die Anwesenden als Gruppe, sah sie als Einheit, obwohl sie es nicht mehr oder weniger waren, als er bereits selbst Teil dieser Einheit geworden war. Er durchlebte all dieses und dachte, „in der Tiefe bleibt man doch immer wer man war, man kann sich erweitern, aber wer man einmal war, wird man immer sein“.


Er zwang sich, nicht im Regressverhalten zu verharren, setzte sich an die Theke und bestellte, als der Wirt ihn wortlos durch Blickkontakt dazu aufforderte, einsilbig „Pils“. Diese kurze nonverbale Begebenheit reichte aus, um in Sekundenschnelle ein Profil vom Wirt erstellt zu haben. „Berufskrankheit?“ fragte er sich, verlor aber schnell das Interesse an dieser Selbstbeobachtung und ließ seine Gedanken zur Person des Wirtes kreisen: Mitte vierzig, körperlich noch nicht ganz kaputt, vermutlich seit Jahren berufsbedingt Alkoholiker, und daher mit allem Tun darauf bedacht, souverän zu erscheinen. Gerne hätte er jetzt gesehen, wie sich dieser Mann bei einer Schlägerei verhalten würde. Wahrscheinlich einen Baseballschläger ziehen. Vor einigen Jahren noch hätte dieses innere Interesse an das Verhalten einer Person ausgereicht, eine Schlägerei selbst anzuzetteln. Heute ist ihm nicht mehr Wissen oder Neugier, sondern der Körper das Heiligste. Seine letzte Schlägerei hatte er mit 29 und üble Verletzungen davon getragen. Seitdem meidet er körperliche Auseinandersetzungen zu fast jedem Preis. Seine Sorge war, dass nun das Publikum hier ihm genau das ansehen könnte. Mochten die Leute hier auch zur Aggression neigen, sie waren nicht mehr auf ihrem Besten und die Tatsache, dass er jünger und gesunder war, würde ihn schützen. Oder wäre das gerade aggressionsauslösend. Er ging dem nicht weiter nach und erinnerte sich, weshalb er überhaupt gekommen war.

Die Kneipe war um die Theke herum gut gefüllt. Knapp 20 Leute schätzte er. Und mitten drin sie; als eine von drei Frauen. Sie hatte sich Zigaretten geholt, kehrte zurück zum Tresen und bat den Wirt um Streichhölzer. Der Wirt machte Anstalten zu werfen, sie zeigte sich bereit, die Streichhölzer kamen freundlich geworfen, dennoch konnte sie nicht fangen und sie fielen zu Boden. Sie bückte sich und zeitgleich drehte sich ihr dicker Nachbar auf seinem Hocker so, dass sich ihr Kopf zwischen seinen Beinen auf Kniehöhe befand. Warum sind gerade dicke Leute so dreist? Oder fällt Dreistheit umso mehr auf, wenn es sich um Dicke handelt? Würde man sein Verhalten möglicherweise nicht für dreist halten, wenn er gut aussähe? Eine Frage, die ihn schon öfter beschäftigte. Er fand aber auch diesmal nicht die Muße länger darüber nachzudenken, denn was geschah, empfand er als ungeheuerlich. Er konnte es zwar nicht genau sehen, da er diagonal gegenüber saß und der Halbkreistresen ihm die Sicht versperrte, doch er vermutete Folgendes: Der Dicke tat als wolle er mit einem Feuerzeug leuchten, damit sie besser sehen könne, was aber aufgrund der Beleuchtung gar nicht nötig war. Sie fand die Streichhölzer nicht auf Anhieb und da sie länger zum Suchen brauchte, also länger in der Hocke bleiben musste stützte sie sich mit einer Hand auf seinem Schenkel auf, worauf der Fette spielerisch genussvoll seine Gesichtszüge gleiten ließ. Als sie wieder auftauchte und sie die Blicke der Umhersitzenden bemerkte, die nicht genau erkennen konnten, was geschehen war, sagte sie unpassend: „War super da unten.“ Es lachte keiner und er meinte erkannt zu haben, dass es ihr unangenehm war, sie lediglich etwas tun wollte, um das Gefühl der Kontrolle wieder zu gewinnen. Sie wandte ihren Blick zu dem Dicken und fragte, „na Süßer, wie sieht´s aus, gibste einen aus?“

War ihr klar welche Mechanismen sie jetzt auslöste? Es konnte ihr nur um Wirkung gehen, denn diesen Typen konnte sie nicht ernsthaft attraktiv finden. Überhaupt war ihr ganzes Auftreten nicht normal und gleicht eher einer Absicht. Nur welche Absicht verfolgte sie? Er konnte sich nur einen Reim darauf machen: Sie wollte spielen, ihr Selbstbewusstsein steigern. Warum sonst sollte man sich unter Leuten begeben, wo man die mit Abstand jüngste und attraktivste ist.

Der Dicke schaute sie an, reagierte aber vorerst nicht. Dann fragte er, was er denn dafür bekomme, wenn er sie einlade; machte dann zeitgleich mit der Bestellung den Vorschlag zum Bruderschaft-Trinken, wie er das nannte. Zwei Sambuca. „Wirklich nichts Besonderes“, dachte er, und ärgerte sich, dass sie so sehr davon begeistert war, dass da eine Flamme auf dem Aniszeugs brannte. Wie dumm war sie, dass sie das Hochprozentige nicht abschreckte? Der Ärger darüber, dass nicht Lücking es war, der sie zu Sambucca einlud, ließ ihn sie für dumm erklären. Doch dann überkam ihm Mitleid und er verzieh ihr. Jeder hat ein hungriges Herz, er wusste es zu gut, er würde sie erlösen.


Plötzlich kam ein neuer Gast herein, nahm neben Lücking Platz und begrüßte den Wirt mit Vornamen. Dieser ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: „ Gut dass du kommst, muss dir noch was zeigen“. Der Wirt griff unter den Tresen und holte das Städtische Tageblatt hervor, blätterte darin rum, bis er fand was er suchte, legte dem neuen Gast die Zeitung lesebereit vor und zeigte auf einen Randartikel im Lokalteil: „Weißte wer das ist“, darauf der Neue: “Frau, 34 Jahr, ne keine Ahnung.“ „Das ist Melanie“ und da der Neue erstaunt schaute: „ ja genau die“. „Ach das kann doch nicht sein.“ „Wenn ich’s dir doch sage“ belehrte der Wirt, „ was hat die uns hier manches mal damit dicht gelabert und alle sagten nur, komm, hör auf zu sülzen, wenne das vorhast dann tu es einfach, aber erhasch hier kein Mitleid, wer drüber spricht macht es doch nie. Ich selbst redete auch so, und mir ist schon mulmig jetzt, wir haben alle keine Schuld, jeder ist selbstverantwortlich für sein Tun, aber wenn man das gewusst hätte, hätte man sich eben doch anders benommen.“ Darauf der Neue: „ Bist du dir sicher, das ist ja ein Hammer, dieses zierliche Ding ist da echt runtergesprungen. Ich meine welche Verzweiflung muss da vorhanden gewesen sein, um diesen Mut zu haben. Oh Mann Selbstmord ist doch keine Lösung.“ Der Wirt nickte und ging ein Pils zapfen für den Neuen.

Über dieses Gespräch vergaß er, weshalb er gekommen war, vergaß er das Mädchen, das er an jenem Abend in einer Discothek zum ersten Mal gesehen hatte. Er bekam mit, wie sie dort einen jungen Mann angesprochen hatte, ihn offenbar anbaggerte, doch fühlte jener sich überrumpelt und reagierte unbeholfen. Daraufhin verließ sie die Disco und Lücking war ihr gefolgt, bis in diese Kneipe.

Als er wieder zu ihr rüberschaute, sah er, dass sie sich mit dem Dicken über irgendetwas amüsierte, sie lachten beide. Außerdem war der Wirt dabei Sambucca nachzuschenken. Doch er konnte seine Beobachtung nicht weiter fortsetzen, da er von dem Neuen angestoßen wurde, der immer noch den Kopf schüttelte, ihm den Artikel zeigte und seinen Satz wiederholte, dass Selbstmord doch keine Lösung sei. Klar sei das schwer, wenn man sich so richtig elendig fühle, aber dann müsse man sich eben ablenken und dann verfliege das auch wieder. Überhaupt vertrete er die Meinung, dass solange man sich drauf verlassen könne, dass das Körperliche erträglich bliebe, alles seelische in den Griff zu kriegen sei. Schaffe man das nicht aus eigener Kraft, dann eben mit Hilfe von Medikamenten. Nichts sei so schlimm, als dass man es wirklich fürchten müsse. Wir fühlen uns nicht elendig, weil eine Situation wirklich schlimm sei, sondern weil wir befürchten, es könne schlimm werden. Jeder Moment, hätte man nicht die Erwartung, es würde bald schrecklich werden, wäre erträglich. Es sei denn man habe zu hohe Erwartungen an das Leben und sei enttäuscht darüber, dass Leben nicht mehr hergäbe und es einen anwidert, nichts Großes tun zu können oder intensiv leben zu können. „Dann kann ich mir vorstellen, dass man des Lebens überdrüssig wird. So oder so sind es aber immer die falschen Erwartungen, die zum Selbstmord führen. Das ist jedenfalls meine Meinung“, endete er seinen Monolog.

Die ganze Situation ärgerte Lücking. Nicht nur, dass er sich nicht seiner Beobachtung widmen konnte, das Thema langweilte ihn. Hätte er BWL studiert, hätte er möglicherweise seine Freude daran gehabt, sich über Suizid auszulassen, seinen Senf dazuzugeben. So aber empfand er es schlimmer als bei einem Fussballspiel, wo jeder Zuschauer es besser weiß als der Trainer. Denn mit der Philosophie verhält es sich nicht anders. Jeder weiß Bescheid. Und das Nervige daran: Es stimmt ja auch. Bei allen wirklich großen Themen ist der Laie so schlau wie der Fachmann. So fand er das, was der Neue sagte, auch gar nicht dumm; hatte aber keine Lust darüber nachzudenken und ließ stattdessen seinen Standardspruch ab. „Ja, Leben müsste umgekehrt sein. Man müsste alt geboren werden, sozusagen im Sarg zu Leben erwachen und mit jedem Tag jünger und gesünder werden, bis man wieder jung und kräftig ist und am Ende wird man wieder zum Kind, lebt verquickt in den Tag hinein ohne sich groß Gedanken zu machen und verschwindet schließlich in Mamas wohligem Bauch. So müsste es sein.“

„Ja“, mischte der Wirt sich ein, das ist gar nicht so uninteressant“. Er habe letztens auf arte eine Doku über Antimaterie gesehen, wonach Physiker davon ausgingen, dass es zu allem Existierenden sozusagen eine Gegenwelt gebe, wo praktisch alles was hier vorhanden sei, auch vorhanden wäre, nur mit anderem Vorzeichen. Demzufolge hieße das ja, dass man eben im Sarg erwache und wieder im Mutterleib entschwinde. „Das sei jetzt keine Esoterik oder Religion, sondern Stand der Wissenschaft“ schloss der Wirt seine Ausführungen.

An dieser Stelle hätte Lücking am liebsten abgekotzt. Verzeihen Sie diesen Ausdruck, aber er trifft es nun mal am besten. Er konnte es einfach nicht vertragen. Und warum nicht ? Es liegt auf der Hand. Nicht das Thema ist schuld. Ohne Gefühlsregung hätte er sich jeden Unsinn angehört. Aber er fühlte sich eben doch als was Besseres, überlegen, und deshalb der Ekel, wenn Gescheiterte und Arbeitslose hohes und höchstes Wissen mal eben locker aus dem Ärmel wischen. „Gib dich mit Leuten ab, die einer regelmäßigen Arbeit nachgehen“ dachte er zu sich selbst, „ bei denen hat man nicht mit solchen widerlichen Überraschungen zu rechnen, die wollen sich abends unterhalten und nicht bilden.“ Aber er kannte sich gut genug und wusste es besser, denn den Normalos neidete er die Häuser und Autos und die Tausender, die sie jederzeit spontan locker machen könnten, wenn sie es nur wollten und auf was Bestimmtes Lust hatten.

„Ja das Leben sei schon verrückt“, sagte der Neue, „wenn man zu viel drüber nachdenkt, wird man kirre“ woraufhin er Lücking ein zweites Mal anstieß und fragte, ob er ein Bier und einen Kurzen mittrinke. Lücking verneinte und sagte, dass er nur noch ein Bier wolle und danach losmüsse, „ein andermal aber gerne“. Er wollte ganz einfach keine weiteren Vertraulichkeiten, eventuell fragten sie ihn noch, woher er käme, da sie ihn zum ersten Mal sähen und dergleichen. Nicht, dass Lücking um eine Lüge verlegen wäre, nur kam ihm die Lust am Ganzen abhanden. Ferner erklärte er die Sache für beendet. Er sah, wie der Dicke die ganze Zeit ihren Po betätschelte und wie die beiden lachten, die ganze Zeit über. Noch hatte sie Nummerntausch und Verabredung ausgeschlagen mit den Worten „man würde sich wieder in dieser Kneipe treffen“, doch entwicklete sich die Sache weiter und ein geübter Beobachter musste erkennen, dass der Dicke Profi war und diese Sache im Bett enden würde. Frauen lieben nun mal, wenn sie lachen. Selbst das Küssen schien er zu beherrschen.

Lücking war das mittlerweile egal, er hatte seinen Appetit verloren. Über eine, die solche Leute an sich ranlässt, muss er nun wirklich nicht rüber. Und wenn sie noch so gut aussähe, es ginge nicht. Sie war für ihn erledigt. Und kaputte Kneipen waren es auch, was wesentlich schwerer wog. Sie hatte eine Zuflucht, er hatte keine. Er war nirgends groß oder wichtig, nicht einmal ganz unten.

 

Hi Schriftbild,
ich bin's wieder, du hast mich neugierig gemacht und somit habe ich jetzt auch diese Geschichte von dir gelesen. Und.... ich muß sagen, gefällt mir. Gute Stimmungsbilder, gute Gedankengänge, die gut nachvollziehbar sind.
Das einzige was mich ein wenig stört, die Geschichte mit der Frau kommt zu kurz. Hättest du meiner Ansicht nach etwas mehr ausführen können. Z.B. Schilderung von Blickkontakt oder so. Der Schluß ist dann wieder gut.
Eine Frage hätte ich da noch, was hat BWL mit Philosophie zu tun? Das war eine Stelle, wo ich BWL nicht ganz passend fand. Kann aber auch falsch liegen damit.
Liebe Grüße
Carrie

 

Hey Carrie,

freue mich, dass du hierher gefunden hast.

Mit deiner Anregung hast du sicher recht, bin selbst sehr neugierig, was das für ein Weibsbild da ist. Leider hat sich der Typ ja von seinen Beobachtungen abbringen lassen.

Na ja, BWL - Philosophie. Wer von Berufswegen über bestimmte Themen palavert, mag es vielleicht privat nicht tun, zumal es sich um ein Gebiet handelt, wo der Profi kaum mehr weiß als der Laie.

 

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