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Kapazitäten

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29.03.2013
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Kapazitäten

„Demokratie!“
Allgemeines Gelächter. Hanuman blickte hilfesuchend zu den Tischen der Jury. Die Gesichter der weisen Männer und Frauen zeigten keine Regung. Also gut, dachte er, zweiter Versuch. Er räusperte sich und holte Luft.
„Freiheit!“
Aus dem Gelächter wurde ein Sturm der Heiterkeit. Die Vorsitzende der Jury winkte ihn zu sich. „Hören sie“, flüsterte sie, „so geht das nicht. Das da unten sind Kapazitäten, keine Schöngeister. Die wissen, was vor sich geht. Wenn Sie jetzt noch ‚Liebe‘ rufen, sind Sie erledigt. Dann war’s das für Sie, glauben sie mir.“ Hanuman presste die Lippen aufeinander und betrachtete die Menge. Der Ekel, der in ihm hochstieg, verhinderte, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. „Expertenpöbel“, zischte er, „wenn ich was zu sagen hätte…“
Die Vorsitzende sah ihn scharf an. „Reißen Sie sich zusammen. Einen Versuch haben sie noch. Denken sie nach. Bringen Sie’s auf den Punkt.“ Sie deutete auf das Podium und machte eine ungeduldige Handbewegung.
Hanumans Herz klopfte hart gegen seine Rippen, als er sich mit beiden Händen auf dem Pult abstützte. Scheiterte er heute, wäre sein gesellschaftlicher Abstieg unausweichlich. Er betrachtete seine manikürten Fingernägel, als sei das Lösungswort auf ihnen eingraviert. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, während er fieberhaft nachdachte. Die Sekunden verstrichen. Plötzlich war es da. Er war sich mehr als sicher. Er befeuchtete seine Lippen, beugte sich vor und berührte mit der Rechten das Mikrophon.
„Plutokratie!“
Für einen Moment herrschte Stille, dann begannen die Kapazitäten zu applaudieren. Ihre anschwellenden Beifallsrufe erzeugten in Hanuman ein derart starkes Glücksgefühl, dass er beinahe die Besinnung verloren hätte. Er verbeugte sich tief. Nachdem er die Glückwünsche der Jurymitglieder entgegengenommen hatte, nahm er den Preis entgegen. Die goldenen Stelzen waren hoch und ohne die Hilfe der Saaldiener wäre es ihm unmöglich gewesen, sie zu besteigen. Als sie an seinen Beinen befestigt waren, begann er auf der Stelle damit, seinen Wissenshorizont abzuschreiten. Tränen liefen über sein Gesicht.

 
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Hi harry,

dein Text ist nicht lang, aber ich schreibe trotzdem mal mit, was ich so für Eindrücke beim Lesen habe.

„Demokratie!“
Allgemeines Gelächter.
Also das finde ich einen wunderbaren Einstiegssatz, gefällt mir!

Hanuman blickte hilfesuchend zu den Tischen der Jury.
Hanuman, das ist ja ein interessanter Name; soll das in Deutschland spielen? So eine Zukunftsgeschichte oder so? Das sind so meine Gedanken, wenn ich den Namen lese ... ach, ist das nicht irgendein hinduistischer Gott?

Scheiterte er heute, wäre sein gesellschaftlicher Abstieg unausweichlich.
Also doch eine Art der Zukunftsvision?

„Plutokratie!“
Für einen Moment herrschte Stille, dann begannen die Kapazitäten zu applaudieren.
Ja, interessant, dass da jetzt Plutokratie ins Spiel kommt. Kommt aber nicht unerwartet, irgendwie.

Die goldenen Stelzen waren hoch und ohne die Hilfe der Saaldiener wäre es ihm unmöglich gewesen, sie zu besteigen. Als sie an seinen Beinen befestigt waren, begann er auf der Stelle damit, seinen Wissenshorizont abzuschreiten. Tränen liefen über sein Gesicht.
Das ist ja heftig.

begann er auf der Stelle damit, seinen Wissenshorizont abzuschreiten
ich bin mir nicht sicher, was du mit seinen Wissenshorizont abzuschreiten meinst, da ergibt sich für mich irgendwie kein schlüssiges Bild vor Augen

Mhm ja ... ich bin irgendwie etwas geplättet von deiner Geschichte. Also nicht im negativen Sinne, ich finde, da steckt schon viel drin, das beschriebene Szenario scheint also eine Welt zu sein, in der - so ist es für mich rübergekommen - sich eine Oligarchie der Vermögenden gebildet hat, und man sich vor einem Podium (?) dazu bekennen muss? Ich bin mir bei meiner Deutung nicht sicher, vllt hast du das auch komplett anders gemeint.

Scheiterte er heute, wäre sein gesellschaftlicher Abstieg unausweichlich.
Plötzlich war es da. Er war sich mehr als sicher.
Er muss lange nachdenken, bis er auf die richtige Lösung kommt ... deswegen denke ich nicht, dass das, was die Jury hören will, für den Prot auf der Hand liegt. Mhm.

Vielleicht ist das ein Experiment von dir, indem du dem Leser zeigen willst, dass man sich als einfach Bürger (wenn man in seiner gesellschaftlichen Stellung bedroht ist) sich zu der Herrschaftsform bekennt, die das Gros der Menschen hören will?

Wie du merkst, gibt mir deine Story viele Gedankenanstöße, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig deuten kann? Vllt steh ich auch auf der Leitung, oder bin einfach zu blöd. Du gibst uns hier einen kleinen Rockzipfel, um eine große Geschichte zu erzählen, schätze ich, und da hätte ich mir irgendwie ein kleines bisschen mehr Rockzipfel gewünscht, weil sich für mich die Lösung irgendwie verborgen hält, ich weiß auch nicht. Auf jeden Fall ein interessantes Stück, auch so in seiner Kürze. Hat irgendwas. Bin gespannt was andere dazu sagen.

 

Hallo Harry,

in einem so kurzen Text kann man den Namen Hanuman nicht ohne Verweis auf Shivas Sohn, den Affengott, verwenden. Einer seiner Attribute ist die Gelehrsamkeit. Offenbar versucht sich dieser Gelehrte in einer Art Quiz, dessen Einsatz sein sozialer Status darstellt. Die Experten verhöhnen die ersten beiden Antworten, die dritte scheint zu stimmen. Die goldenen Stelzen, die er als Preis erhält und mit denen er sich gleichsam über die Köpfe der Anwesenden erhebt, dienen ihm dazu, das Gebiet seiner Gelehrsamkeit, seines Wissens wie Du schreibst, abzuschreiten.

Ich bin kein Freund von Puzzletexten, in denen man wie ein Detektiv nach dem tieferen Sinn forschen muss. Mir erschließt sich auch nicht, in welchem Zusammenhang die ersten beiden Antworten zur dritten stehen könnten. Auf welche Frage versucht Hanuman eine Antwort zu finden?

Wäre es die nach dem Sinn des Lebens, könnte die zweite Antwort sinnvoll sein, nicht aber die beiden anderen. Wäre es die Frage nach der besten Gesellschaftsform, würde die zweite Antwort rausfallen. Wäre es die nach der besten Erfindung aller Zeiten, könnte man sich allerdings um die drei Antworten streiten, doch viel gibt das auch nicht her. Geht man andersrum daran und fragt, was die Gesellschaft ins Verderben gestürzt hat und als Antwort käme "Freiheit" (im Sinne "Sehnsucht nach Freiheit"), wäre das nun auch kein Grund zum Lachen, denn man trefflich darüber streiten, ob die unfreie Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen nicht die besten Voraussetzungen hat, wirklich gerecht zu sein. Und so weiter…

Inhaltlich ist das auf so vielen Ebenen schräg: In einem Quiz, das man mit einem Schlagwort gewinnen kann, braucht es keine Experten. In einem Quiz, das lediglich eine Staatsdoktrin resümiert, braucht es keine Klugheit, um die richtige Antwort zu finden. Noch absurder ist, dass einer, der da tatsächlich gewinnen will, vorher "Demokratie" und "Freiheit" sagen würde.

Kurzum, mir ist es zu verworren und unstimmig.

Ich bin gespannt, ob Du was zu den Hintergründen, verrätst.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Zigga, hallo Achillus,
find‘ ich prima, dass euch das kurze Stück zu einem Kommentar bewegen konnte.
Auslöser (wenn man’s denn so ausdrücken kann) für den Text war ein Zeitungsartikel, den ich vor einigen Tagen las und der mir nicht aus dem Kopf ging. Da hieß es: die 85 reichsten Menschen verfügten über so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Menschheit. Auf der einen Seite stehen also einige Milliarden Menschen, auf der anderen Seite so viele, wie in zwei Reisebussen Platz haben, wie es ein Journalist ausdrückte. Es ist klar, dass sie über dementsprechend viel Einfluss und Macht verfügen, wobei sich mir der Ausdruck ‚Plutokratie‘ (kurz gesagt: Herrschaft des Geldes) wieder mal aufgedrängt hat.
Goldman Sachs rules the world. Dass wir in einer Demokratie leben, ist meiner Ansicht nach eine Illusion. Wenn man über die rätselhafte Akzeptanz des Wortes ‚Demokratie‘ schreiben will, hat man meiner Meinung nach nur zwei Möglichkeiten. Ausführlich, vernunftgesteuert und faktenorientiert, was auf tausende von Seiten hinausläuft, oder man bedient sich einer kürzeren Form und versucht, das Unterbewusstsein eines Lesers zu erreichen. Ich wollte eine Szenerie heraufbeschwören, die einen womöglich ratlos zurücklässt, aber zum Nachdenken anregt, was mir offensichtlich mehr (Zigga) oder weniger (Achillus) gelungen ist.
Der Text ist quasi im Affekt entstanden; ich bin mit einem Minimum an Vernunft rangegangen, gerade so viel, um grobe Rechtschreibfehler zu vermeiden. Was Hanuman angeht: der Name ist mir einfach eingefallen. Kein tieferer Sinn dahinter. Zufall. Ist womöglich unbefriedigend, aber so ist’s nun mal. Ich komme von der Malerei, und das Ganze könnte man als verbales Äquivalent (ho ho ho…) eines surrealistischen Bildes zum Thema Demokratie bezeichnen. Das so Mancher damit nichts anfangen kann, ist mir klar. Einiges finde ich selbst rätselhaft, aber so ist das, wenn man’s fließen lässt und in dieser Rubrik ist der Text gut aufgehoben, denke ich mal. Ich hoffe, Ihr seid soweit mit meiner Erklärung zufrieden? Auf jeden Fall bedanke ich mich für die Zeit, die ihr aufgewendet habt.
Herzliche Grüße
Harry

 

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