Kandakaí-Zyklus 1: Der Ruf
Ein langanhaltender Ton wie von einem riesigen Horn dröhnte über die seltsame Ebene. Zahlreiche Gestalten flohen in Panik, andere sahen sich verdutzt um, weitere rührten sich lediglich in ihrem jahrhundertealten Ruhezustand. Dem Dröhnen folgte ein gleißendes Licht, welches sich bis in jeden Winkel verbreitete und die Wesen schockierte. Es war niemals hell auf dieser Ebene!
Arol erwachte aus seiner Starre, manifestierte in einem seltsam anmutenden Wesen mit orangefarbener Haut und legte die Stirn über dem einen Auge in Falten. Der Ton erinnerte ihn an etwas, das Licht - so überlegte er - sollte ihm eigentlich etwas sagen. Doch der Ton verhallte langsam und auch das Licht erstarb wieder.
Schon wollte er sich wieder zur Ruhe begeben, als es ihn durchfuhr. Er kannte diesen Ruf! Nun, nicht diesen speziellen, aber immerhin erinnerte er sich daran, um was für eine Art von Ruf es sich handelte. Und gerade deshalb konnte er es kaum fassen.
Wenig später stand er in Gestalt eines alten gebeugten Mannes - dessen Augen einen rötlichen Glanz erkennen ließen - vor einem seltsam anmutenden Thron. Auf einem Podest inmitten einer mächtigen Säulenhalle ruhte ein auf fünf Beinen stehendes Gebilde, auf dem ein diamantener, hoher Thronsessel stand. Jedes noch so kleine Leuchten wurde von diesem Thron eingefangen und verschwand dort, bis von einem auf den anderen Augenblick der Diamant eine tiefschwarze Farbe annahm und sich hier und dort ein kleines Funkeln - ganz wie von Sternen - erkennen ließ. Und auf diesem Thron saß eine wunderschöne und in wallende schwarze und tiefblaue Gewänder gehüllte Frau, auf deren nachtschwarzem Haar eine eisblaue kleine Krone ruhte. Auf der Stirnseite war ein dunkler, daumennagelgroßer Stein eingelassen, der selbst Arol Unbehagen bereitete. Dieser Stein schien jedem Objekt in seiner direkten Umgebung Energie zu entziehen: Licht, Wärme, Willen... und auch Leben!
"Nun, Arol. Was ist so wichtig?" Die Frau hatte sich gerade aufgerichtet und ihr helles und zeitloses Gesicht ihrem Gegenüber zugewandt. Zwei dunkelschwarze Augen mit kleinen tiefroten Pupillen musterten den seltsam gebückten Mann ihr gegenüber.
"Ein Rif Siríl, Erhabene", antwortete Arol scheinbar gelassen. Das rote Glühen in seinen Augen flackerte jedoch umso deutlicher auf.
Ein Raunen glitt bei dieser Bemerkung durch die mentale Ebene, da dieser Gedankenaustausch nicht geheim geführt wurde. Und selbst die Person auf dem Thron schien einen Augenblick zu verharren, um diese Nachricht verarbeiten zu können. Interessiert lehnte sie sich vor und schien durch Arol hindurch zu starren.
"Und wie kann das sein, Arol? Sind nicht alle Amulette vernichtet worden? Haben wir die verbliebenen Amulette nicht wieder zurück erhalten?"
"Nun", Arol machte keinen Hehl daraus, dass er mit einem solchen Ruf nicht gerechnet hatte, "es ist ein Ruf. Und wir haben eigentlich alle Amulette eingesammelt... Viel schlimmer ist, dass er von irgendwo aus der materiellen Welt stammt. Es muss ein sehr altes Amulett sein."
"Welches ist es? Und wo ist es jetzt? Wie kam es dort hin und müssen wir dem Ruf folgen?" verlangte die Erhabene zu wissen. Sie lehnte sich wieder zurück und ihr Blick ruhte jetzt auf einer anderen Gestalt, die in Form eines orangefarbenen Nebels anwesend war und keine besondere Form angenommen hatte.
"Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welches es genau ist, aber es ist sicher, dass wir dem Ruf gar nicht folgen können. Alle Passagen zur wahren Welt sind geschlossen und nur für einen kurzen Augenblick ebnet der Ruf und das Amulett eine Passage. Wir kämen von dort nicht zurück, die Tore sind versiegelt!"
"Finde einen Weg, dem Ruf zu folgen, Arol... Und dann finde mir den, der dafür verantwortlich ist. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Möglichkeit, wieder..." Die Erhabene seufzte und legte den Kopf in den Nacken. "Du wirst dich selbst darum kümmern, Arol. Sende unsere Verbündeten aus, damit sie nachsehen und uns den Weg bereiten! Gehe jetzt."
Arol, der Erste Mittler der Erhabenen, schoss mit Anwe über eine düstere, graue Ebene dahin. Sie waren zwei kleine Lichtblitze, verschmolzen dann und wann, wenn sie Gedanken tauschten, folgten einem nur ihnen sichtbaren Weg und tauchten schließlich inmitten der Ebene unter.
Wenig später hatten sie ihr Ziel erreicht und blickten durch ein "Fenster" in einen düsteren Raum der materiellen Welt. Nur ein kleines magisches Licht erhellte den schmucklosen Raum, in dessen Mitte ein hölzerner Stuhl stand. Dann wartete er geduldig mit Anwe, bis eine Person den Raum betrat, gähnte und sich auf dem Stuhl niederließ. Einen Moment später wurde es heller und Arol erkannte eine ältere Person, die er auf dieser Ebene schon einmal gesehen hatte, und gab die Wünsche und Anweisungen der Erhabenen weiter.
Als er den Ruf eines Rif Siríl erwähnte, blickte die Gestalt auf und musterte Arols Erscheinung sehr genau, sagte aber nichts.
Fünfzehn Zyklen dauerte es, bis endlich im Gemeinsamen Rat eine Entscheidung getroffen worden war. Unter der Führung einer gemischten militärischen Gruppe sollten Wissenschaftler, Magier und Gelehrte, aber auch zahlreiche neutrale Beobachter und Händler auf eine bislang undenkbare Expedition gehen.
Nach kaum mehr zählbaren Zeitaltern fassten die Bewohner ausgedehnter Höhlensysteme und inzwischen neun unterirdischer Städte den - wenn auch nicht ganz freiwilligen - Entschluss, noch einmal an die Oberfläche zurück zu kehren! Zwar hatte es in alter Zeit viele Versuche gegeben, einen Weg zu finden, aber es waren keinerlei Unterlagen mehr aus dieser Zeit vorhanden. Expeditionen kehrten nicht zurück und die Spekulationen sorgten schließlich dafür, dass man sich mehr und mehr von der Tatsache distanzierte, dass es auch noch immer eine Oberfläche de Welt geben musste. Wie diese aussah, war reine Mutmaßung und der Fantasie der Bewohner freigestellt. Nur wenige sehr alte unter den Gelehrten konnten sich an Bilder und Schriftstücke aus jener Zeit erinnern, wo man noch Kontakt zu den Bewohnern der Oberfläche gepflegt hatte. Aber das war lange schon vergessen... Zumal nichts Gutes dabei heraus gekommen war!
Arol war entzückt! Irgendwie hatte der Ruf des uralten Artefakts es geschafft, die spirituelle Ebene so durcheinander zu bringen, dass er nach Äonen nun endlich wieder ein Portal zur materiellen Welt öffnen konnte. So in die plumpe Gestalt eines Sterblichen gezwängt, stolperte er zunächst umher, spürte endlich wieder, was es bedeutet, ringsum von Materie umgeben zu sein und schließlich schauderte er bei dem Gedanken, dass er nun trotz seiner Macht und Position ebenso sterblich war, wie die Geschöpfe um ihn herum. Doch die hegten keinerlei Aggression gegen den Mittler, sondern musterten ihn ehrfürchtig, neugierig und mitunter gar amüsiert, da er sich doch etwas tapsig anstellte. Nach einem wütenden Fauchen verschwanden jedoch alle amüsierten Blicke schnell wieder.
Was die Bewohner der Tiefe nicht sehen konnten, sah Arol um so deutlicher. Der Ruf hatte daselbst auf der materiellen Ebene eine Spur hinterlassen: Einen Weg an die Oberfläche!
Nach weiteren dreißig Zyklen war die Expedition endlich ausgerüstet. Unter der Führung der Mittler Arol und Anwe folgten dreihundertfünfundsiebzig Kriegerinnen und Krieger, fünfundzwanzig Priesterinnen und zehn fähige Magier mit einem Befehlshaber an de Spitze, ein Tross von Gelehrten und deren Gehilfen mit allem möglichen - und scheinbar unmöglichem - Gerät, Proviant und einem kaum schätzbaren Fundus an Literatur. Etwa neunzig zivile Personen, die jedoch in ihren unterschiedlichen Berufen Kapazitäten waren, und schließlich und endlich auch gewöhnliche Arbeiter. Insgesamt machten sich siebenhundertzweiunddreißig Kandakaí auf den Weg, die sich fragten, was sie zu erwarten hatten.
Die Moral der Expeditionsteilnehmer war alles andere als gut. Auf ihrem Weg waren sie mehrfach von seltsamen Kreaturen angegriffen worden, merkwürdigen Gewächsen begegnet und hatten sich inmitten einer Höhle wiedergefunden, die mit einem seltsamen Licht erfüllt war, dessen Quelle auch von Magiern und Priesterinnen nicht ausfindig gemacht werden konnte. Anwe und Arol hatten alle Hände voll zu tun, die Kandakí bei Laune zu halten.
Dies gestaltete sich zunehmend schwieriger, denn je näher sie der Oberfläche kamen, um so öfter mussten die Mittler auf ihre Existenzebene zurück kehren. Der Fluss magischer Ströme war hier gänzlich anders und auch die Magier hatten mit den Umstellungen zu kämpfen, um das magische Licht zu erhalten.
Eines schönen Tages erreichten sie eine Höhle, in der es bitterkalt war. Die Krieger beschwerten sich, da sie kaum Ausrüstung für diese Temperaturen dabei hatten. In der Tiefe gab es keinerlei Kälte, und so mussten sich die Magier nun auch noch damit aufhalten, eine entsprechende Aura von Wärme zu verbreiten. Anwe hatte unterdes arge Schwierigkeiten, sich überhaupt noch zu materialisieren, während Arol bemerkte, dass ihm mit rasender Geschwindigkeit Energie entzogen wurde. Trotzdem trat er weiter vor und sah nach Hunderten von Jahren endlich wieder die Oberfläche der Welt, wie er sie aus längst vergessenen Tagen kannte.
Es war Nacht und doch reflektierte die schneebedeckte Landschaft in den Augen der an Dunkelheit gewöhnten Wesenheit ein geradezu gleißendes Licht. Die hohen Berge schienen sich endlos dahin zu ziehen, Schatten verschmolzen in der Ferne mit dahin jagenden Wolken, die noch mehr Schnee bedeuten mochten, und ein eisiger Wind fuhr durch das Tal, auf welches Arol nun aus einer leicht erhöhten Position hinabsah.
Syrrid, Denjen und der Magier Dazzra waren ebenfalls bis in die Nähe des Ausgangs gekommen und beschirmten die Augen.
"Es ist hell hier", meinte Denjen leise und musterte die beeindruckende Kulisse. Arol lachte.
"Willkommen an der Oberfläche der Welt!" rief Arol laut hinaus und seine Stimme grollte durch das Tal wie ein Donnerschlag. "Was ihr hier seht, ist nur ein kleiner Teil einer unendlichen weiten Landschaft. Natürlich ist es hell, aber es wird noch sehr viel heller werden."
‚Willkommen in der alten Welt!' dachte er still bei sich. Syrrid und Dazzra musterten den Mittler genau. Und obwohl Syrrid nur sehr wenig mit Magie und den priesterlichen Pflichten zu tun hatte, spürte er dennoch eine unbestimmbare Vertrautheit, wenn er den Ersten Mittler ansah oder spürte seine Gegenwart wie die eines Freundes oder guten Bekannten.
Durch ein Fenster einer anderen Dimension und Zeit beobachteten mehrere Gestalten die Szene und kicherten still in sich hinein.
"Wie recht er doch hat", meinte eine der Gestalten und amüsierte sich offenbar königlich. Seine Begleiter lachten ebenfalls und gebärdeten sich wie toll.
Doch dann sahen sie sich schockiert an. Arol blickte mit zusammen gekniffenen Augen in Richtung des Fensters!
"Das... das kann nicht sein", meinte eine der seltsamen Gestalten. "Er ist nur ein Mittler. Er kann dieses Fenster nicht sehen."
Und doch traten sie vorsichtig ein wenig von dem Fenster zurück und schlossen es langsam und sehr vorsichtig, als Arol sich - wenn auch zögernd - auf sie zu bewegte.
Arol war herum gewirbelt, als er einen magischen Strom bemerkte, den er hier nicht vermutet hätte. Aber dann hatte er an der Stelle, wo er eigentlich etwas vermutete, doch nichts bemerkt. Doch der Mittler war uralt und keineswegs dumm: In seiner jetzigen materiellen Form war er sich seiner Unzulänglichkeit sehr stark bewusst. Selbst wenn dort ein Fenster oder gar ein Portal gewesen wäre, hätte er es nicht unbedingt bemerken müssen.
Und doch war es seltsam, denn eigentlich konnte niemand von der Anwesenheit der Kandakaí hier wissen, wenn er nicht über das Rif Siríl verfügte. Und der Ruf war eindeutig von der Oberfläche gekommen und Arol konnte auch nach der inzwischen verstrichenen Zeit die Spur des Rufes überdeutlich sehen. Wenn aber der Ruf von der Oberfläche gekommen war, wie konnte dann jemand aus der Überwelt davon wissen? Die Erhabene hatte er ständig informiert und Anwe hielt den Kontakt zu den anderen Kandakaí. Wer mochte hier spioniert haben, und aus welchem Grund?
Wenn sie auch dicht an dicht standen, so bot die Höhle doch Platz für alle Kandakaí, die sich nun abwechselnd am Eingang der Höhle drängten, um einen erstaunten Blick auf das Szenario zu werfen. Einige jüngere traten dann auch hinaus und machten erste Bekanntschaft mit hüfthohem und eisigkaltem Schnee. Zunächst entsetzt flüchteten sie sich wieder in die Höhle, fanden aber schon bald Gefallen an dem seltsamen weißen Zeug.
Arol vermittelte ihnen sein Wissen von der Oberfläche und sie lauschten staunend seinen Worten. Als es dann langsam immer heller wurde, zogen sie sich weiter in den Hintergrund der Höhle zurück, wurden aber auch dort schon bald von den ersten Strahlen der aufgehenden Wintersonne berührt. Zwischen Entsetzen und Faszination schwankend - Arol hatte sich auf seine Ebene zurück gezogen - wagten sich dann doch einige an den Eingang und konnten in dem gleißenden und von der schneebedeckten Landschaft reflektierten Licht kaum etwas sehen. Mühsam nur schienen ihre Augen sich an dieses Licht anzupassen, während sie einfach nur dort standen und sich wunderten. Gegen Mittag stellten sie verwundert fest, dass das Licht zwar unangenehm, aber keinesfalls unerträglich war. Außerdem wärmte es sie und so zogen es einige wenige vor, die Wintersonne zu einem Sonnenbad auszunutzen.
Dass Schnee an Hängen rutschig sein kann, vermittelte eine aus fünf Kandakaí bestehende Erkundungstruppe unter Denjens Führung den interessiert lauschenden Elfen, die in der Höhle zurück geblieben waren. Wenig später rutschten einige der jüngeren Krieger johlend auf ihren Schilden den Hang hinunter, überschlugen sich unter Beifallsbekundungen und lautem Geschrei, bis sie schließlich prustend am Ende des Hanges in einer Wehe ausrollten.
Da die Dorent sich offensichtlich nicht berufen fühlten, diesem Spektakel ein Ende zu bereiten, sprachen einige der Priesterinnen ein Machtwort, worauf sich die jüngeren Kriegerinnen und Krieger murrend in die Höhle zurückzogen.
Die Erkundungsgruppen waren immer länger unterwegs, berichteten von tiefen Taleinschnitten, in denen der Schnee weniger hoch lag, brachten erlegtes Wild und schließlich auch ein angerostetes Schwert sowie einige Knochen und einen ebenso rostigen und mit etlichen Beulen übersäten Helm mit.
Die anfängliche Faszination wich einer täglichen Routine: Es wurde Holz gesammelt und getrocknet, um Feuer ohne aufwändige Magie zu erhalten, die Erkundung der Umgebung war sehr oberflächlich geworden und einzelne Gelehrte durchstreiften die Umgebung mit nur zwei oder drei Kriegern im Gefolge.
Arol und Anwe ließen sich selten blicken und forschten doch nach demjenigen, der das alte magische Artefakt einer längst vergangenen Zeit benutzt und damit den Ruf ausgelöst hatte. Dabei stießen sie auf einige paradoxe Tatsachen, die sie jedoch noch nicht ganz klären konnten. Die Kandakaí informierten sie jedoch nicht darüber, denn es war nichts Greifbares. Arol verspürte jedes Mal ein ungutes Kribbeln, wenn er wieder materialisierte und sich dem Ausgang der Höhle näherte. Trotzdem konnte er keine Besonderheiten ausmachen. Anwe schrieb dies der Faszination der Welt zu, wenn sie sich auch niemals sonderlich lange dort aufhalten konnten. Und schließlich und endlich gab Arol Ruhe. Jedenfalls gegenüber Anwe...
Die Tage und Nächte zogen ins Land und die Kandakaí trugen sich mit der Überlegung, die Höhle nunmehr zu verlassen, um sich in tiefere Regionen zu begeben. Dort wollte man der Kälte und Feuchtigkeit ausweichen, die doch schon zu einigen Problemen mit Erkältungen und Erfrierungen geführt hatte. Die Magier und Priesterinnen hatten sich beschwert, dass sie auf Dauer nicht ausschließlich die Wunden versorgen konnten - und wollten -, die sich Unvorsichtige und Übermütige zuzogen. Nichts desto weniger herrschte ausgelassene Heiterkeit und Unbekümmertheit.
Ein etwas größerer Trupp unter Syrrids Führung hatte in einem entlegeneren Tal eine halb verfallene kleine Ansiedlung entdeckt. Es wurde beschlossen, sich zunächst einmal nach dort durchzuschlagen, damit von einer Basis aus die wiederentdeckte Welt erkundet werden konnte.
Nachdem der Zug organisiert und die Lasten mehr oder weniger gerecht verteilt worden waren, setzten sich die Kandakaí an einem sonnigen Morgen in Bewegung. Zwar gab es immer noch Probleme mit dem hellen Licht der Sonne, aber es machte auch wenig Sinn, im Sternenlicht und bitterer Kälte einen solchen Marsch anzutreten.
Als die letzten zwanzig Kandakaí die Höhle verlassen wollten, bemerkte Arol ein sanftes Schimmern am Rand der Höhle und hielt sie zurück. Sorgfältig betrachtete er dieses Leuchten ringsum des Einganges und studierte es genau. Anwe sah Arol zu, konnte jedoch - ebenso wie die restlichen Kandakaí - nichts von Bedeutung sehen. Und genau das irritierte Arol umso mehr.
"Hol die Anderen zurück!" befahl er schließlich einer Kriegerin barsch. "Und beeile dich." "Was ist los?" wollte Anwe mental wissen, um die Kandakaí nicht in Verwirrung zu stürzen.
"Ehrlich gesagt", erwiderte der Mittler, "weis ich es nicht genau. Irgendwie habe ich den Verdacht, dass ich wissen müsste, was hier los ist, aber andererseits will es mir scheinbar nicht einfallen... Es ist, als betrachte ich eine Szene durch eines der Fenster und fühle, dass ich genau weiß, was sich im nächsten Augenblick abspielen sollte. Und dann geschieht etwas völlig anderes!"
"Was ist denn nun schon wieder?" unterbrach der zurückgekehrte Denjen die Mittler. "Die Priesterinnen weigern sich umzukehren. Und Syrrid scheint auch nicht sonderlich begeistert zu sein..."
"Es interessiert mich nicht, was die Priesterinnen oder dieser Syrrid meinen!" fuhr Arol ihn barsch an, wobei seine Gestalt zu verschwimmen schien. Der Mittler keuchte auf, denn der Abfluss seiner Energie hatte inzwischen schon bedenkliche Ausmaße angenommen. "Ich habe nicht darum gebeten, dass ihr zurück kommt. Ich habe es befohlen! Und wenn sich dieser Haufen nicht sofort wieder hierher zurück bewegt, werde ich ziemlich unangenehm."
Denjen hatte sich nicht von der Stelle gerührt, denn die Kandakaí waren es gewohnt, mit Astralwesen zu tun zu haben. Auch ein aufgebrachter Arol war in seiner materiellen Form für einen erfahrenen Krieger eines der Hohen Häuser wenig beeindruckend.
"Ich werde es ihnen sagen", entgegnete der Kandakaí lakonisch und trat aus der Höhle. Der aufgebrachte Arol folgte ihm und während er in den Schnee hinaus trat wurde das seltsame Leuchten am Ausgang der Höhle auch für alle anderen deutlich sichtbar.
Kleine blaue Blitze zuckten zu dem Astralwesen und helle Funken sprühten am Rande des Leuchtens auf. Noch bevor Arol ganz aus der Höhle heraus war, drehte sich Denjen herum und sah zu seinem Entsetzen, dass dort keine Höhle mehr war. Der Eingang war verschwunden und Arol trat aus dem nackten Felsen heraus.
Denjen trat mit offenem Mund an den Fels und berührte ihn vorsichtig. Aber da war nichts als kalter Fels! Arol konzentrierte sich, konnte aber nichts Besonderes erkennen. Auch er berührte lediglich den Fels und konnte hier nicht zurück. Leise fluchte der Mittler vor sich hin. Von hier aus konnte er nicht zurück, da sich kein Tor zu seiner Ebene hier befand. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass auch die Spur des Rufes verschwunden war.
"Wie... wie kann das sein?" Denjen sah den Mittler völlig entgeistert an. Sein Blick verriet, dass er mit der Situation völlig überfordert war. "Wie sollen wir denn wieder zurück kommen? Was ist mit den Anderen in der Höhle? Warum ist der Eingang nicht schon früher verschlossen gewesen? Wie..."
"Heh!" unterbrach Arol den Kandakaí barsch. "Ich..."
Anwe musterte die bestürzten und verwirrten Gesichter von Arol und Denjen, die vor der Höhle in der Luft tasteten. Zuerst wollte sie auch hinaus gehen, aber dann besann sie sich eines besseren, da sie keinen Meter von den beiden entfernt deren Stimmen nicht mehr hören konnte. Auch drang keine kalte Luft mehr in die Höhle und langsam begann das Licht zu verlöschen.
"Schnell", rief sie den in der Höhle gebliebenen Kandakaí zu, "geht schnell dort hinaus. Ich weiß nicht, was es ist, aber die anderen können scheinbar nicht zurück. Wenn ihr leben wollt, geht dort hinaus."
Die Kandakaí folgten irritiert der seltsamen Anweisung, während der Ausgang immer kleiner zu werden schien. Es war, als kämpften sie sich durch eine zähe Flüssigkeit voran. Das Atmen fiel schwer, die Bewegungen wurden langsamer. Die Angst beschlich sie, dass sich der Fels gleich um sie schließen würde, als einer nach dem anderen durch kräftige Hände nach vorne gerissen wurde. Die Kandakaí landeten unvermittelt im Schnee.
Anwe überlegte nur einen Augenblick, dann dematerialisierte sie und machte sich durch das Portal auf ihre Ebene davon. Hinter ihr schloss sich mit ungeahnter Gewalt das Portal, der Pfad des Rufes erlosch mit einer Geschwindigkeit, die selbst für die Mittlerin erschreckend war.
Die Erhabene war alles andere als begeistert über den Bericht Anwes und es scheiterten zudem auch alle Versuche, mit Arol in Verbindung zu treten. Ein weiteres Fenster schloss sich und die verborgenen Betrachter amüsierten sich über das angerichtete Chaos.
Selyana dyr Thelem'Khar, eine der begabtesten Magierinnen, versuchte sich eine Weile an dem Fels, warf dann einen nachdenklichen Blick auf Arol und wandte sich schließlich an den zurückgekehrten Syrrid, der für die Expedition verantwortlich war.
"Hier hat es niemals eine Höhle gegeben, Sy", kam es sachlich und emotionslos von der Magierin.
"Und wie sind wir hierher gekommen?" Denjen ließ keinen besonders intelligenten Gesichtsausdruck erkennen.
"Was soll das heißen?" verlangte Arol zu wissen.
"Tja..." Selyana zog die Schultern in die Höhe und sah noch einmal zu dem Fels hin. "Du wirst einsehen, dass wir uns mit Gestein auskennen wie kaum eine andere Rasse. Und deshalb kann ich sagen, dass es hier niemals eine Höhle gegeben hat."
"Und doch sind wir durch diese Höhle hierher gekommen!" Syrrid schüttelte den Kopf. Er war ohnehin schon hoffnungslos mit der Leitung der merkwürdigen Truppe überfordert, ohne sich auch noch um magische Probleme kümmern zu müssen. "Offensichtlich hat uns hier jemand einen üblen Streich gespielt, mit dem wir zunächst einmal fertig werden müssen. Wir haben den Auftrag, uns an der Oberfläche der Welt zu etablieren und nötigenfalls demjenigen zu helfen, der das Rif Siríl benutzt hat. Wenn es hier also keine Höhle gegeben hat..."
"Gegeben hat?!" fuhr Arol auf und fixierte den Fels. "Terr'jêd! Das ist es! Ich habe mich geirrt und bin von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen."
"Und die wären?" verlangte die Magierin mit verschränkten Armen zu wissen. Bevor der Mittler jedoch zur Antwort ansetzen konnte, erzitterte der Grund mit einer Heftigkeit, die an den steileren Hängen der Berge Lawinen auslöste. Fasziniert und erstaunt musterten die Kandakaí das Schauspiel der Natur und beobachteten die tosenden Schneemassen, die in die Täler hinab donnerten. Unterdessen schien nahe des Höhlenausganges der Schnee langsam zu schmelzen und eine dünne Rauchfahne mit grelloranger Färbung kräuselte vom Boden empor. Wenig später erschien eine kaum erkennbare Gestalt, die sich sofort an Arol wandte.
"Komme sofort mit mir", befahl die Erhabene ihrem Mittler. "Diese Pforte kann nicht lange geöffnet bleiben!" Und ohne weitere Worte verschwand das Abbild der Gottheit mitsamt dem inzwischen sehr geschwächten Mittler. Zurück blieben verwirrte und verärgerte Kandakaí, die sich dennoch mit der Situation abfinden und das Beste daraus machen mussten.
Immer wieder blickte Selyana auf den Fels zurück, aus dem sie vor gar nicht allzu langer Zeit die Oberfläche der Welt betreten hatten. Wenn ihnen hier wirklich jemand einen Streich gespielt hatte, musste dieser Jemand über eine beachtliche Macht verfügen.
"Oder es steckt mehr dahinter", murmelte die Magierin vor sich hin, während sie hinter Syrrid und Denjen der voraus marschierenden Expedition folgte.
"Wie?" Denjen drehte sich um und sah die Verwirrung im Blick der Magierin. Die sah den jungen Kandakaí entgeistert an. Von einem Augenblick auf den anderen klärte sich jedoch ihr Blick.
"Syrrid!" rief sie laut und der so Angerufene blieb stehen. "Arol erwähnte, dass es sich um den Ruf eines Rif Siríl handelt, dem wir folgen und der den Weg durch die Astralebene errichtete. Zudem muss er gleichzeitig auch in dieser Dimension einen Weg schaffen!"
"Schon möglich", erwiderte Syrrid. Trotzdem konnte er den fliegenden Gedanken der Magierin nicht folgen, die offensichtlich eine gewisse Logik in der Situation zu erkennen glaubte.
"Aber wir haben keine Zeit, uns jetzt damit auseinander zu setzen. Bald kommt mit der Dunkelheit die Kälte und wir sollten eine geschützte Stelle erreichen. Sobald wir sichergestellt haben, dass alle in Sicherheit sind, können wir uns wieder mit der Höhle befassen..."
"Das ist unnötig", entgegnete die Magierin. "Die Höhle hat es bisher dort nicht gegeben. Und es wird sie an dieser Stelle auch für lange Zeit nicht geben."
"Wie bitte?"
"Die Höhle ist nicht Bestandteil dieser Zeit, sondern sie entstammt der Zukunft! Deshalb konnte Arol das Problem nicht rechtzeitig erkennen, denn er lebt in einer völlig zeitlosen Ebene."
"Der Höhlenausgang war ein... ein...", Denjen fehlten die Worte und auch Syrrid sah die Magierin bestürzt und verwirrt an.
"Du meinst..."
"Wie die Mittler durch Tore aus einer anderen Form des Daseins nach hier wechseln", erklärte Selyana nachdenklich, "so gab es in früherer Zeit auch die Möglichkeit, Portale innerhalb der Ebenen zu schaffen, die Passagen in andere Zeitabschnitte ermöglichten!"
"Aber die Mittler hätten das doch bemerkt?!" Syrrid lief ein Schauder über den Rücken.
"Verstehst du denn nicht?" konterte die Magierin und machte eine bedeutungsvolle Geste in Richtung der nicht mehr existenten Höhle. "Arol hätte bestenfalls ahnen können, was geschieht. Er ist nicht in der Lage, "Zeit" zu verstehen und dies entsprechend einzuordnen, da er zeitlos ist."
"Du meinst, er hat es nicht einmal jetzt verstanden?" Der Kandakaí war entsetzt. "Selyana, wenn du Recht haben solltest, haben wir ein gewaltiges Problem. In welcher Zeit befinden wir uns übrigens?"
"Wie kann ich das wissen?" amüsierte sich die Magierin. "Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege."
Die drei Kandakaí einigten sich schließlich darauf, Salyvor, den Erzmagier zu befragen, der die Expedition bislang mehr oder weniger schweigend begleitet hatte. Nicht einmal mit den Mittlern hatte er sich verständigt.
Salyvor fuhr langsam durch seinen vom Alter mit weißem Haar durchzogenen Bart, der ihm bis zum Brustbein reichte, während er über Selyanas These nachdachte. Geduldig warteten Syrrid, Denjen und weitere Führer und Führerinnen auf eine Antwort, während Salyvor völlig abwesend schien. Schließlich erhob sich der alte Magier, seufzte bedeutungsvoll und schritt bedächtig davon, während die Wartenden fragende Blicke austauschten. Schnell folgten sie dem Magier zu seinem Lager, wo er sich langsam aus seinem Umhang schälte und auf sein Nachtlager legte. Dann grunzte er zufrieden, hüllte sich in eine Decke, verbreitete eine Aura der Ruhe um sich und schlief unter dem Gemurre der Umstehenden schließlich ein.
So bleib eine wichtige Frage zunächst ungeklärt, während sich verschiedene Priesterinnen erfolglos bemühten, mit der Erhabenen oder deren Mittlern Kontakt aufzunehmen.
Am folgenden Morgen erwachte Salyvor aus einem unruhigen Schlaf und sah sich beinahe vom gesamten Lager umringt. Völlig unbeeindruckt von seiner Umgebung erhob er sich und nahm ein karges Mahl zu sich.
"Salyvor, bitte!" forderte die ungeduldige Selyana ihren viel älteren Kollegen auf.
"Hm? Oh, ja... Natürlich ist es nicht unwahrscheinlich, Zeitportale zu schaffen, wenn wir dieses Wissen auch inzwischen verloren haben. Hat der Mittler Recht - und dies dürfte wohl recht wahrscheinlich sein -, dann entstand die Passage durch die Kräfte eines uralten Artefaktes. Wenn es wirklich eines der Rif Siríl war, so muss es wahrlich sehr alt sein. Ursprünglich wurden diese Siríl ausschließlich für Wesenheiten wie Arol geschaffen. Dadurch war es ihnen in der alten Welt möglich, die verschiedenen Stationen der Geschichte anzulaufen, in der sie benötigt wurden. Die Siríl, welche in der Lage waren, Passagen durch die Ebenen zu erschaffen und selbst Auswirkungen auf unsere Welt zu haben, sind sehr mächtige magische Artefakte, die nicht leichtfertig vergeben wurden. Die Störungen, die bei deren Einsatz in den äußeren Sphären entstehen, sind beachtlich, denn sie können den Lauf der Dinge alleine dadurch beeinflussen, dass sie nur benutzt werden."
"Ein Weg durch die Zeit!" unterbrach Selyana den älteren Magier und zog dadurch einige zornige Blicke auf sich.
"Schon, Kindchen", antwortete Salyvor von seiner Umgebung völlig unbeeindruckt, als hielte er eines seiner endlosen Seminare an der Universität Tavizzborns. "Und trotzdem ist dieser anders, als alle, die ich kennen gelernt habe. Wir sind zwar zeitlos, aber wir nehmen den Lauf der Dinge wahr! Wesenheiten wie die Mittler, sehen dies nicht bewusst, sondern sie akzeptieren den jeweiligen Umstand. Zeitliche Veränderungen können sie nur wahrnehmen, wenn sie sich bewusst darauf konzentrieren."
"Und was haben wir jetzt von all diesen Hypothesen?" wollte Denjen irritiert wissen. Eine Antwort blieb jedoch aus.
"Welchen Beweis haben wir, dass wir uns in einer früheren Zeit befinden?" fragte Syrrid nachdenklich.
"Keinen, Jungchen", entgegnete der Magier und sah seinen Gegenüber fest an. "Die Höhle ist verschwunden. Das steht fest! Da wir aber seit ewigen Zeiten bereits in der Tiefe gelebt haben, dürfte es uns schwer fallen, anhand einer Veränderung auf der Oberfläche zeitliche Dimensionen einzuordnen. Es sei denn, wir kommen in den Genuss eines geschichtlichen Ereignisses, welches in den alten Schriften verzeichnet ist."
"Wir... wir haben Schriften über die Geschichte der Oberfläche?!" Denjens Verwirrung wuchs.
"Was denkst du", konstatierte der Magier mit einem Seitenblick auf die Priesterinnen der Erhabenen, "woher wir stammen?!" Sogleich erhob sich ein heftiges Gezeter über Blasphemie und andere Nettigkeiten, welches jedoch nach kurzer Zeit durch ein Machtwort Syrrids unterbrochen wurde.
Auch wenn es für alle noch so unbefriedigend war, mussten sie sich doch mit den Gegebenheiten abfinden und sich mit den Umständen arrangieren. Nach ausgiebiger Diskussion wurden schließlich alle Teilnehmer der Expedition von den Vorfällen und den Mutmaßungen informiert. Zum ersten Mal in der langen Geschichte dieser Rasse regte sich so etwas wie Unmut und es fiel Syrrid und den anderen Leitern und Leiterinnen schwer, für eine gewisse Ordnung zu sorgen, die - zumindest für die nächste Zeit - das Überleben an der Oberfläche sichern würde.
"Und selbst wenn wir die Opfer dieses alten Artefaktes geworden sind", erklärte Syrrid in einer Ansprache, "so erfüllen wir doch die besten Voraussetzungen, um aus dieser Situation das Beste zu machen. Diese Expedition war von Anfang an dazu bestimmt, eine Bastion an der Oberfläche zu errichten. Und wenn wir durch die Zeit geschritten sind, so ist dies doch für uns unerheblich. Tatsache ist, dass niemand hier wissen kann, wer wir sind und woher wir kamen, wenn es niemand verrät. Zunächst einmal müssen wir unter Nutzung unserer Vorteile die Bewohner der Welt gewinnen oder uns untertan machen. Dazu ist erforderlich, sie genau zu studieren. Unsere Späher haben bereits von zahlreichen Ansiedlungen in den umliegenden Tälern berichtet, die von recht plumpen Wesen mit schlichtem Gemüt bewohnt werden.
Ich denke, es wird sich niemand darüber zu beklagen haben, zu wenig zu tun zu haben!"
©05.'94, T. Klaus für Follow