Kanada
Sein Elternhaus war still und dunkel. Bis auf die Lampe an der Wendeltreppe waren bereits alle Lichter gelöscht worden. Hinter ihm waberte Finsternis. Er begutachtete das dunkle, hölzerne Furnier der Wände und die stählerne Führungsstange an der Innenseite. Danach fiel sein Blick sorgenvoll auf die schwach brennende, nackte Birne an der oberen Wandseite. Dort war ebenfalls ein Lichtschalter angebracht worden, so daß man die Lampe von beiden Enden der Treppe bedienen konnte. Er setzte den Fuß auf die erste Stufe, dann den anderen auf die zweite. Er konnte es schaffen. Es waren nur wenige Meter bis zum Treppenabsatz. Noch ein Schritt; und noch zwei...gut so! Jetzt war es zu spät um umzukehren. Nach zwei weiteren Stufen erfaßte sein Blick den dunklen Türrahmen am oberen Ende. Unsicher blieb er stehen und seine Zuversicht verschwand (Du wirst beobachtet). Hinter dem Rahmen waren vage Umrisse von Möbelstücken und achtlos hingeworfener Kleidung zu erkennen. Er sah zurück, doch am Fuße der Treppe war nichts. Ein erneuter zögerlicher Schritt brachte ihn dem oberen Treppenabsatz noch ein wenig näher. Fast in Reichweite für einen Sprint.
Das Licht erlosch!
Schwärze umgab ihn und eine würgende Angst stieg in ihm auf. (Ruhig! Bleib ruhig vielleicht, verschwindet es dann.) Er überlegte krampfhaft, wo sich der Lichtschalter befinden könnte. Es war jetzt absolut dunkel und die Umrisse der Dinge waren nicht mehr zu sehen. Tastend schob er sich die Wand entlang, eine Treppenstufe nach der anderen nehmend. Vorsichtig ging er vorwärts, wie ein Mann der spürt, daß sich ein Abgrund ganz in seiner Nähe befindet, tastend und suchend. Der kalte Schweiß brach ihm aus, als er den Lichtschalter nicht dort fand, wo er ihn wähnte. Noch ein paar Stufen in dieser absoluten Schwärze. (Es beobachtet dich! Beweg dich nicht!) Plötzlich flammte etwas in der Finsternis auf. Nein...aufflammen war nicht das richtige Wort. Etwas erschien! Es war wie ein Reflex auf seiner Netzhaut. Die Gestalt war einfach da. Spindeldürr und grellweiß hob sie sich von der ihn umgebenden Dunkelheit ab, ohne diese auch nur im geringsten mit ihrem Licht zu erhellen. Die Haare standen dem Wesen vom Kopf ab wie weiße Drahtschnüre und besaßen dieselbe Dicke wie seine mageren, weißen Gliedmaßen. Verlangend bewegte sich die Gestalt durch die Schwärze gleitend auf ihn zu. (Bleib still sitzen, um Gottes willen!)
Er tauchte sehr schnell auf. Ruckartig öffnete er die Augen und ließ seinen Blick im Zimmer umherschweifen. (Das Fenster! Es steht am Fenster!)
Das Fenster war mit einem durchscheinenden Film von arktischer Kälte bedeckt. Das Eis ließ die Nacht teilweise in das kleine Haus eindringen, verdeckte jedoch gütig den nachtschwarzen Wald hinter der Scheibe. Er schüttelte die Reste des Traumes ab und sah sich um. Es hatte sich nichts im Zimmer verändert. Das Buch lag immer noch aufgeschlagen auf dem Tisch neben den Resten seines kärglichen Essens, welches aus einem Teller mexikanischer Bohnensuppe bestanden hatte.
Liebevoll streichelte er den Einband des Buches, dann ging er ruhigen Schrittes und Herzens auf das Fenster zu, um der kanadischen Nacht einen ersten Gruß zu erbieten.
Er sah hinaus und betrachtete den Wald, welcher nur spärlich von einem Lichtstrahl aus seinem Zimmer erhellt wurde. Keine drei Meter weit reichte die Sicht, bevor sich das Licht in den Tannen verlor, obwohl der verschneite Boden den Lichtschein in schillernden Farben reflektierte. Verdutzt richtete er seinen Blick auf die Fensterscheibe, als er auf ihr eine Bewegung wahrnahm. Der runde Eisfleck wurde zusehends kleiner, ja löste sich fast auf. Mit einem dumpfen Laut des Entsetzens sprang er zurück, als ihm schlagartig bewußt wurde, was wirklich das Fenster verzierte. Es war kondensierter Atem!
Schnell trat er zwei weitere Schritte zurück. Der runde Fleck war jetzt ganz verschwunden, jedoch sein Herzschlag immer noch deutlich beschleunigt. Er verwarf den Gedanken, noch einmal an das Fenster zu treten und durch die jetzt freie Scheibe hinaus zu blicken. Alleine hatte er sein wollen, als er diese Reise gebucht hatte. Er war schon zuvor allein gewesen, wenn auch mehr allein unter vielen. Jetzt jedoch bereute er seinen Entschluß, dieses Haus inmitten der kanadischen Wildnis, fünf Stunden Wegzeit von der nächsten Stadt entfernt, gemietet zu haben. Noch mehr bereute er die Tatsache, daß er seinem kindischen Drang, das Gewehr mit in die Wohnung zu nehmen, welches jetzt im Schuppen stand, nicht nachgegeben hatte. Er überlegte kurz, dann entschied er sich hinauszugehen, um sich schnellstmöglich die Waffe aus dem Schuppen zu holen. Selbst wenn es nur ein Tier war, das die Scheibe benetzt hatte (was wahrscheinlich war, denn andere menschliche Präsenz war hier draußen selten, vermutete er), wollte er gewappnet sein. Beschleunigten Schrittes ging er durch den langen, gebogenen Flur zur Haustür, die sich nur widerstrebend und unter lautem Knarren öffnen ließ. Eine Wand aus Eis schlug ihm entgegen. Draußen war jedoch nichts weiter zu sehen. Der nächtliche Wald war ruhig wie die Tage zuvor. Wenig beruhigt und auf Spuren im Schnee achtend, begab er sich in Richtung Schuppen. Als er an der Außenseite des Wohnzimmerfensters angekommen war, schienen seine Gliedmaßen ihm schon halb erfroren. Ungläubig starrte er hinunter in den Schnee, der absolut unberührt war. Schlagartig schwand seine Motivation, sich in der Kälte auf den Weg zum Schuppen neben dem Haus zu machen. Er würde sich lieber einschließen und vorsichtshalber die Fensterläden dichtmachen. Das mußte für heute nacht reichen. Die Tür öffnete sich abermals mit einem rebellisch klingenden Knarzen und er trat ein. Erst als er sie hinter sich geschlossen hatte, bemerkte er die Fußspuren, welche sich naß und dunkel auf dem Holzboden abzeichneten. Sein Herzschlag beschleunigte zum zweiten Mal an diesem Abend, und er spürte wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Die Spuren waren eindeutig menschlich, sie stammten jedoch von nackten Füßen.
Vor Angst gelähmt starrte er auf die Dielenbretter. Dann faßte er einen Entschluß. Wer auch immer durch diese arktische Kälte kilometerweit barfuß gelaufen sein mochte, konnte kein ernsthafter Gegner in einer direkten Auseinandersetzung für ihn sein, es sei denn, der Fremde trüge eine Waffe, und selbst dann könnte er noch immer in den Wald flüchten. Vielleicht benötigte der Unbekannte sogar seine Hilfe. So leise wie möglich bewegte er sich durch die Diele bis zu der Biegung im Flur, hielt kurz inne und spähte dann um die Ecke. Was er vom Wohnzimmer einsehen konnte schien verlassen. Ein plötzliches Geräusch hinter ihm ließ ihn alarmiert herumfahren. Die Türe des kleinen Hauses war aufgesprungen und gab den Blick auf den verschneiten, düsteren Wald frei. Er wich instinktiv zwei Schritte zurück und nahm eine geduckte Abwehrhaltung ein. Dann drehte er sich wieder in Richtung Wohnzimmer und sah im gelblichen Schein der Lampe den Besucher, welchen die kanadische Nacht in sein Haus getragen hatte. Eine Mähne aus langen, schwarzen, fettigen Haaren, in denen Erdklumpen steckten, rahmte sein Gesicht ein. Gelbliche, von Adern durchzogene, blicklose Augen umgeben von bleicher, teigiger Haut starrten ihn an. Sein ungebetener Gast war völlig nackt und zudem noch verstümmelt. Die Vorderarme des Mannes waren wie bei einer Contergangeburt zu kurzen Stummeln verkommen und standen nutzlos vom Körper ab. Eine plötzliche Bewegung hinter der Gestalt weckte seine Aufmerksamkeit. Der Stuhl war lautstark ein paar Zentimeter zur Seite gerückt. Sein Blick glitt unwillkürlich an der Lehne und dem Stuhlbein hinab zum Boden. Gegen das Stuhlbein preßte sich ein langer, molchartiger Schwanz. Entsetzt sprang sein Blick zurück auf das Gesicht der Kreatur. Es hatte sich auf grauenhafte Weise verändert. Der Mund des Wesens stand nun weit offen und gab den Blick auf scharfe, unregelmäßig geformte Schneidezähne frei.
Mit einem Mal erfüllte ein helles Kichern den Raum. Er floh! Hinter ihm schwoll das Geräusch zu kreischendem Gelächter an, als er hinaus in die klirrende Kälte stolperte. Dann ging es in ein dunkles, heulendes Klagen über.
Bereits nach wenigen Sekunden schnitt ihm die Kälte in das ungeschützte Gesicht, er befahl seinen Beinen stehenzubleiben. Als er sich umsah, bemerkte er, daß er sich ein ganzes Stück von dem Haus weg auf den Waldrand zu bewegt hatte. Schwer atmend zwang er sich dazu, seine wirren Gedanken zu ordnen. Der Wald und das Haus waren nun wie zuvor in eine unwirkliche Stille gehüllt und außer dem unregelmäßigen Heulen des Windes war nichts mehr zu hören. Schon begann sich das eben Erlebte trotz seiner Bedrohlichkeit vor seinem inneren Auge zu verschleiern und eine ungewollte Ruhe schlich sich in sein Bewußtsein. Er hatte das Gefühl, Opfer eines bösen Traumes geworden zu sein. Die Kälte drang bereits durch seine Jacke in sein Fleisch, als er seine weitere Vorgehensweise erwog. Er würde zum Schuppen gehen und sich dort das Gewehr holen. Was immer ihn auch in dieser Hütte erwartet hatte, Tier oder Mensch, es wäre auf gar keinen Fall gegen eine zwölf Millimeter Kugel aus der Elchbüchse gewappnet.
Bis zum Schuppen waren es nur wenige Minuten. Er fasste sich also ein Herz. Die Tür im Auge behaltend setzte er einen Fuß vor den anderen. Zuerst gezwungen, dann forscher. In einen schnellen Lauf zu verfallen wagte er jedoch nicht. Er gedachte jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, um nicht weiter auf sich aufmerksam zu machen. Nach wenigen Metern sichtete er den vom Schnee reflektierten Lichtschein des Wohnzimmerfensters. Der Wald rückte hier sehr viel näher an das kleine Haus heran, was ihm im Moment äußert gelegen kam. In Deckung der großen Tannen schlich er sich in einigem Abstand an dem Fenster vorbei, ohne es jedoch aus den Augen zu lassen.
Das Wohnzimmer war menschenleer.
Hatte er die Tür hinter sich geschlossen?
Würde er es bemerken, wenn das Etwas, welches ihm im Haus gegenüber getreten war, dieses verlassen hätte und ihm durch den Schnee folgte?
Für einen Moment verharrte er auf der Stelle und sah sich dann vorsichtig um. Weißer Rauch quoll aus seinem Mund und stieg in den sternklaren Nachthimmel auf. Um ihn herum knackte und raschelte es. Die Laute des lebendigen Fichtenwaldes und des scharfen Windes machten jede Bemühung, auf eventuelle andere Geräusche zu achten, zunichte (Beeil Dich, Lauf!). Da war es wieder. Irgendeine unscheinbare Ahnung. Ein Instinkt, welcher ihn auch aus seinem Traum erweckt hatte, schien zu ihm zu sprechen und die Welt glitt in eine unwirkliche Halbexistenz hinab. Mit einem Male schien das Licht des Wohnzimmerfensters blasser und weiter entfernt zu sein. Erschrocken setzte er sich wieder in Richtung Schuppen in Bewegung.
Minuten später war der Mond die einzige Lichtquelle, die ihm geblieben war, und er bereute fast den Entschluß, den Marsch durch die finstere Kälte der Wälder gewagt zu haben. Irgendwie schienen seine Ohren ungewöhnlich sensibilisiert. Die Geräusche des Waldes wirkten nun sehr viel lauter. Doch sie hatten nichts Lebendiges mehr an sich. Eher schien das Knacken und Knirschen von totem Holz zu stammen, das sich im Wind bewegte. Auch war kein Laut eines Tieres zu vernehmen.
Er wurde aus den Gedanken gerissen, als er vor sich die Umrisse des großen Schuppens bemerkte, welche sich schwarz und drohend vor den Sternen abzeichneten. Das Gebäude schien eher eine Scheune zu sein als ein Geräteschuppen. Kurz schweiften seine Gedanken zu dessen Verwendungszweck in dieser rauhen Wildnis ab. Es erschien ihm irgendwie merkwürdig, daß die Dimensionen dieses klobigen Dings (größer als das Haus, in dem er selbst wohnte) ihm nicht bereits vorher aufgefallen waren.
Einen Moment zögerte er, bevor er nach dem alten Riegel griff, der den Schuppen verschloss. Es handelte sich hierbei um eine primitive Sicherung, die keineswegs als Schutz vor Menschen gedacht war, sondern lediglich die Fauna dieser Region davon abhalten sollte, sich in dem Gebäude einzunisten. Er hatte den Schuppen noch nicht näher erforscht. Als er das letzte Mal hier gewesen war, schien er leer und übersichtlich (wenn auch ungewöhnlich groß) gewesen zu sein. Kurz hielt er inne. Es war die Kälte der kanadischen Nacht, die ihn schließlich dazu trieb, die Tür des Schuppens zu öffnen und einzutreten.
Das Innere des großen Holzbaus war gänzlich unbeleuchtet. Sofort sprangen seine Gedanken zurück zu dem erlebten Traum, welcher ihn eben heimgesucht hatte. Unsicher schaute er zurück in die mondhelle Nacht, jedoch die Sicht auf das Haus wurde nunmehr gänzlich von den eng stehenden Tannen versperrt. Lediglich ein schwacher Lichtschein schillerte auf dem weißen Schnee zu seinen Füßen und ließ dessen Kristalle mehrfarbig glimmen.
Als er sich wieder der Schwärze des Schuppens zuwandte, überkam ihn erneut (wie schon vor mehreren Tagen) eine innere Ehrfurcht ob der Größe und Leere dieses Gebäudes.
Das Gewehr! Seine Sinne versuchten die Dunkelheit vor ihm zu sondieren. Es schien, als wären die nächtlichen Laute, welche der Wald verursachte, gänzlich von der drückenden Stille, die hier herrschte, verschlungen worden. Die Waffe mußte sich wenige Meter vor ihm an die Wand gelehnt befinden. Er bückte sich und begann, tastend vorwärts zu gehen. Schon hatte er die Wand des Schuppens erreicht. Ein ungutes Gefühl überkam ihn und er wandte den Kopf zu dem einzig sichtbaren Punkt in der großen Halle, der Tür. Was, wenn in der Zeit, in der er diese aus den Augen gelassen hatte, jemand den Schuppen betreten hätte? Er würde es hören. Er durfte die Tür nicht mehr aus den Augen lassen. Die Logik sagte ihm, sie würden in dieser absoluten Schwärze sowieso zu nichts anderem zu gebrauchen sein.
Nach wenigen vorsichtigen Schritten spürte er einen Gegenstand. Es war eindeutig das Gewehr. Der kleine rote Karton mit der Munition lag ebenfalls noch an der selben Stelle, an der er ihn abgelegt hatte. Er nahm beides auf. (Es ist ein Tempel) Erschrocken wurde er sich des Gefühles bewußt, welches die ganze Zeit unterschwellig präsent war. Er hatte den Eindruck, sich in einer Art Kirche zu befinden. Der Kirche eines fremden Gottes.
Panik kam in ihm auf. Das bisher Erlebte war unwirklich genug, seinen angeborenen Aberglauben zu erwecken. Mit bedächtigen Schritten ging er auf die Tür zu und widerstand dabei dem Bedürfnis, sich umzudrehen und in die Leere zu starren. Mochte es wahr sein, was er fühlte, oder nicht. Er war nicht länger bereit, seine unbewußte Eingebung zu ignorieren.
Er erreichte die Tür und schob sie zitternd hinter sich zu. Jetzt bemerkte er, daß ihm am ganzen Körper unter der dicken Kleidung kalter Schweiß ausgebrochen war. Mochte er morgen über den Holzschuppen lachen. Jetzt war es ein Tempel.
Die Ahnung des Übersinnlichen schwand mit jedem Meter, den er sich durch den hellen Schnee vom Schuppen weg bewegte. Schon konnte er die Lichter des Hauses (seines Hauses) sehen. Er blieb stehen. Wie sollte er jetzt vorgehen? Nach kurzem Zögern entschied er sich, den Weg, den er bereits gekommen war, auch zurück zu verfolgen. Sollte er den Eindringling durch das Wohnzimmerfenster sehen, so hätte er einen klaren Vorteil mit dem Gewehr in der Hand. Im Wald hingegen konnte es sein, daß er diesen übersah. Sollte der Fremde also tatsächlich die Absicht haben, ihm ein Leid anzutun, so täte er gut daran, ihn möglichst in
dem Haus zu stellen. Mit moderatem Gang bewegte er sich auf das Fenster des Wohnzimmers zu. Als er aus nächster Nähe durch dieses in das Haus blicken konnte, hob er das Gewehr. War es geladen? Entsetzt tastete er nach dem Öffnungsmechanismus der Waffe. Was wäre, wenn die Waffe überhaupt nicht abzufeuern war? Ihren Dienst versagen würde, wenn ihm der Unbekannte gegenüber stand? Nach kurzem Überlegen drehte er sich herum und feuerte die Waffe ab. Die Stille wurde von einem scharfen, reißenden Knall durchbrochen. Für einen Moment schmerzte sein Hüftknochen, gegen den er die Waffe gedrückt hatte, dann überkam ihn ein Triumphgefühl. Er hatte die Stille des Waldes durchbrochen. Seine Freude wuchs noch, als ihm gewahr wurde, daß die Waffe zehn Meter vor ihm einen kleinen Tannensetzling am Stamm abgetrennt und weggeschleudert hatte. Holzsplitter lagen überall im leuchtenden Schnee verstreut.
Etwas antwortete ihm aus der Stille. Es war der helle Ruf eines Nachtvogels. Erst wurde es lauter, dann plötzlich ging es in ein von Intervallen durchzogenes, abgehacktes Geräusch über, welches durch den nächtlichen Wald vibrierte und wie ein Meckern klang.
Ein zweiter Vogel stieß jenen Ruf aus, dann ein Dritter. Erschreckt wanderte sein Blick wie jagend über die Bäume vor sich, von denen die Geräusche kamen. Dort waren keine Vögel. Der Wald war leer und doch erfüllt von jenem unsäglich lautem, kreischendem Geräusch. Er sprang zurück. Tränen schossen ihm in die Augen. Er presste sich gegen das Blockhaus und schrie. Die Vögel verstummten und er tastete rutschiges Glas an seinem Rücken.
Ein lautes Schluchzen stieg aus seinem Brustkorb empor und er wagte es nicht mehr, sich zu bewegen. Dann ließ er sich langsam zu Boden gleiten, weg von dem Fenster. Das war die einzige Möglichkeit, die ihm sein zerrüttetes Nervensystem noch ließ. Er spürte die toten Blicke des Wesens in seinem Nacken. In stiller Verzweiflung blieb er ruhig sitzen und weinte.
Minuten vergingen und nichts geschah. Als er sich umdrehte war das Fenster über ihm hell erleuchtet und er konnte die Wohnzimmerdecke durch die Scheibe erkennen.
Plötzlich war es Still. Nein! Er wußte nicht, ob die Stille plötzlich eingetreten war, oder die Geräusche der seltsamen Vögel vorher nur in seinem Kopf existiert hatten. Es war, als wäre er aus einem Traum erwacht. Dennoch war er sich der drohenden Gefahr durch den Fremden weiterhin bewußt. Vorsichtig schob er sich von dem Fenster des kleinen Hauses weg,
stets das erleuchtete Wohnzimmer im Auge behaltend. Als er sich ein paar Meter entfernt hatte, wagte er es sogar, sich aufzurichten. Angsterfüllt schaute er sich um. Außer den schwarzen Tannen und dem zerstörten Stumpf des Baumsetzlings, auf den er eben geschossen hatte, war nichts zu sehen. Feiner Holzstaub schwebte immer noch an der Stelle, an der er die kleine Tanne abgetrennt hatte, in der Luft. Er sammelte sich und überlegte. Er entschied sich dafür, in das Haus zu gehen. Immerhin hatte er das Gewehr dabei und was blieb ihm schon für eine andere Wahl? Bestenfalls würde er hier draußen in der arktischen Kälte erfrieren. Während er dies dachte hatte er bereits das Gewehr durchgeladen und sich in Richtung Eingangstür in Bewegung gesetzt. Die Tür stand einen Spalt breit offen.
Sein Puls beschleunigte sich abermals, als er seinen Blick in die hinter ihm liegende Dunkelheit schweifen ließ. Der Mond war mittlerweile hinter einer Wolke verschwunden (einer Wolke aus toten Vögeln) und der Wald schien das Licht, welches von dem kleinen Haus ausging, nun geradezu zu verschlingen. Dann öffnete er mit einer schnellen Bewegung die Tür. Niemand war im Flur. Aber der Fremde mußte sich bewegt haben. Nun war neben der Reihe ungleichmäßiger, schmutziger Fußspuren, welche um die Ecke des Flures in Richtung Wohnzimmer führten, eine weitere Reihe selber Art zu erkennen. Sie zeichnete sich nicht mehr ganz so kräftig ab, da sich der Schmutz bereits ein wenig von den Füßen des Fremden abgetragen haben mußte, trotzdem war sie gut genug zu sehen. Die Spuren führten zu der Tür an der gegenüberliegenden Flurseite. Sie stand weit offen. Es war die schwere Tür, welche in den ungeheizten Keller des Hauses führte. Für einen Moment schien er ein schlurfendes Geräusch aus der schwarzen Öffnung vor ihm zu vernehmen. Der Laut war zu leise, als das er sich sicher sein konnte, wirklich etwas gehört zu haben. Der Fremde hatte den Keller betreten, ohne den Lichtschalter zu betätigen, welcher sich vor der Kellertür befand.
Angst stieg in ihm auf. Der Keller war eigentlich recht übersichtlich. Er könnte das Licht anschalten und den Fremden mit dem Gewehr von der Treppe aus stellen.
Der Lichtschalter sprang mit einem trockenen Klicken um; und die Treppe wurde von dem Licht der nackten Glühbirne erhellt. Mit dem Gewehr im Anschlag schob er sich langsam auf die Kellertreppe. Er sah sich in dem kleinen Raum um. Dort waren einige mannshohe Holzkisten mit unbekanntem Inhalt gelagert. Er hatte sich schon zuvor gefragt, was die Kisten enthielten, sie waren jedoch zugenagelt und so hatte er nicht weiter nachgeforscht.
Sonst war der Keller absolut leer. Was, wenn sich der Fremde hinter einer der Kisten versteckt hielt? Dort war auf jeden Fall genügend Platz für einen ausgewachsenen Menschen. Vorsichtig ging er ein paar Schritte die Treppe hinab. Die Glühbirne flackerte kurz.
Plötzlich hatte ihn das Gefühl des Unwirklichen wieder. Wie gelähmt vor Angst stand er in der Mitte der Treppe. Seine Muskeln spannten sich. Er wollte fliehen, konnte es jedoch nicht. Absolute Stille herrschte. Das Wesen befand sich hinter einer dieser Kisten dort unten. Es wartete auf ihn. Er mußte nur wenige Schritte weiter gehen, dann würde das Licht erlöschen. Es würde aus seinem Versteck hinter den Kisten hervorgesprungen (gekrochen!) kommen und ihn festhalten. Er würde zwar das rettende Licht von der Tür am oberen Ende der Treppe sehen, jedoch nie wieder erreichen. Der Fremde würde sein Fleisch verzehren.
Mit einem mal kroch ihm ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Der Raum roch plötzlich nach verfaulter Erde und totem Holz; naß und modrig. Zwei Arme berührten ihn fast zärtlich an den Schultern. Zwei sehr kurze Arme. Sie fühlten sich zart an, wie die Gliedmaßen eines Kindes. Es war hinter ihm. Es berührte ihn. Eine Welle von Übelkeit flutete durch seinen Körper. Ein trockenes Knacken war zu hören, als wenn jemand in einen Apfel biß. Dann flammte ein greller Schmerz in seiner Schulter auf. Seine Knochen gaben nach, als sich Zähne durch seine Haut bohrten. Blut rann seine Brust hinab und tropfte zu Boden. (Kämpfe!) Er ließ sich von dem Schmerz zur Raserei anstacheln. Plötzlich konnte er sich wieder bewegen. Mit einer ruckartigen Bewegung versuchte er, sich aus dem Griff zu befreien. Es gelang ihm nicht. Er kämpfte gegen den Schmerz an, den die Zähne des Fremden in seinem Fleisch verursachten, während er versuchte sich loszureißen. Erneut schossen ihm Tränen in die Augen. Er nahm noch einmal all seine Kraft zusammen und riß sich mit seinem ganzen Gewicht vorwärts, weg von seinem Peiniger. Dann war er frei. Er taumelte zwei Treppenstufen und versuchte mit dem Arm hinter sich zu schlagen. Eine schreckliche Sekunde rang er um sein Gleichgewicht, dann fiel er. Er lag am unteren Ende der Treppe. Sein Arm schmerzte höllisch und Übelkeit waberte in ihm auf, wenn er versuchte, sich zu bewegen. Das Gewehr! Er fuhr herum und stellte den anderen mit seinen Blicken. Die Treppe war absolut leer. Dort war Niemand.
Aber er konnte sich dies alles nicht eingebildet haben. Der Boden war Rot von seinem Blut, und als er seine schmerzende Schulter betrachtete, waren dort eindeutig, ja, Bißspuren zu erkennen. Das Gebiß war zu breit für einen Menschen, fiel ihm auf. Aber was immer es war, in dessen Umarmung er sich befunden hatte, es war nicht mehr auf der Treppe. Dann roch er es: Der Geruch von Erde und totem Holz war nicht verschwunden.
Es befindet sich noch hier, dachte er. Hier in diesem Raum. Zusammen mit mir. Langsam schlich sich eine Erkenntnis in sein Gedächtnis. Eine Ahnung, die aus jenem Teil des Geistes kam, welcher von Generation zu Generation von Menschen weitergegeben wurde, ohne daß man darüber sprechen mußte. Jenes Erbe, das einem sagt, daß Dinge von Gedanken angezogen werden können. Jenes Erbe, welches einem die Ignoranz gegenüber dem Übernatürlichen lehrt. Man übersieht diese Dinge, damit sie nicht auf einen aufmerksam werden. Es sprach zu ihm und er wußte: Es ist egal, wo es vorher stand. Dieses Wesen brauchte nicht an ihm vorbeizukommen, um sich hinter ihm zu befinden. Es war nicht menschlich, nicht im entferntesten Sinne. Es war auch niemals ein Mensch gewesen. Es war sehr viel älter. In grausiger Erwartung wandte er seinen Kopf zu der Kellerwand hinter ihm. Es bewegte sich ruckartig auf ihn zu. Der ganze Körper schien steif zu sein und nur die Beine des Wesens drehten sich mit einer rutschenden, ungelenken Bewegung abwechselnd nach vorne, wobei sein gebückter Oberkörper wild hin und her schwang. Es war sehr schnell. Er sprang auf, als es nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war, drehte dem fremden Wesen den Rücken zu und stürzte die Treppe hinauf. Stolpernd kam er am oberen Ende zum stehen, schlug die Türe hinter sich zu und rannte hinaus. Seine einzige Chance bestand darin, daß es ihm nicht nach draußen folgen würde. Vielleicht war es an das Haus gebunden. Ein Spuk, der diesen Ort heimsuchte. Seine Hände krampften sich immer noch um das Gewehr, als er in den finsteren Wald lief. Die ersten Zweige griffen nach ihm, als seine Gedanken begannen, sich zu klären. Er mußte die Richtung einschlagen, in der er die Stadt wähnte. Es würde lange dauern, diesen Wald zu durchqueren (mehrere Tage vielleicht), in diesem verfluchten Haus jedoch würde er sterben.
Übelkeit stieg in ihm hoch, als er weiter in den Wald lief. Der verwundete Arm brannte wie Feuer. Die Zweige rissen an seinen Armen und zerfetzten seine Kleidung. Ein dumpfes Dröhnen stieg in seinem Schädel auf. Erst leiser, dann wurde es zu einem Summen, als wenn
sein Körper unter Strom gesetzt würde. Jetzt hörte er es.
Ein leises Knacken, als wenn totes Holz gebrochen würde, stieg aus dem Wald um ihn herum auf. Er lief weiter. Was immer dort auch war, er wollte es nicht sehen. (Mama, es hat meinen Arm) Er preßte seine Hände auf die Ohren und rannte weiter. (Es hat meinen Arm) Die lauten, gellenden Schreie einer Frau füllten den nächtlichen Wald. Ein irres Kreischen hallte in seinem Kopf wieder und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er war nicht mehr länger alleine. Der Wahnsinn war ihm aus der Hütte in die Wälder gefolgt. Er schrie aus Leibeskräften, um die Geräusche um ihn herum zu übertönen. Schon wurden seine Gliedmaßen taub von der unbarmherzigen Kälte. Auch die Vögel, welche er vorher gehört hatte, hatten wieder begonnen, ihr unirdisches Lied in die Nacht hinauszuschreien. Das Summen in seinem Kopf wurde stärker. Er lief und wie es ihm schien, verzerrte sich die Welt vor ihm. Durch das tosende, lärmende Inferno um ihn herum nahm er wahr, wie die Bäume vor ihm zu wanken begannen und der Erdboden selber sich irr zu winden schien. Er sah jetzt vereinzelte Schatten am Rande seines Blickfeldes, wagte es jedoch nicht, seinen Blick in diese Richtung zu wenden. Dann gaben seine Beine nach. Er fiel in den Schnee und mit einem Male waren alle Geräusche, bis auf das laute Summen in seinem Kopf, verstummt. Er erbrach sich. Alles drehte sich um ihn. Er konnte seine Schulter nicht mehr spüren. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Gift!
Er war von dem Biß des Wesens vergiftet worden. Es war kein Mensch, weshalb sollte es dann nicht giftige Fänge besitzen? Sein geschwächter Zustand ließ keinen anderen Schluß zu, als diesen. Wo waren die anderen? Wieso war es plötzlich so still? Wissend richtete er seinen Blick nach oben. In einem gegabelten Ast saß es. Sein Schwanz hing schlaff auf den Erdboden herunter. Ein lautes, helles Kichern erklang, dann ging das Geräusch abermals in ein dunkles Heulen über. Rote Augen funkelten ihn an. Dann nahm er mit verschwommener Sicht wahr, wie es sich von dem Ast auf den Boden gleiten ließ. Sein Körper zitterte vor Angst. Es würde nicht sein Fleisch fressen. Es war gekommen, um seine Seele zu nehmen. Bald würden seine Augen ebenso tot und blicklos sein, wie die der Kreatur der tiefen Wälder Kanadas. Sein Atem würde nach totem Holz stinken und er würde ewig wandern.
In einem letzten Aufbäumen von Lebenswillen hob er das Gewehr und drückte ab. Der Schuß hallte durch die Wälder und er glaubte wahrzunehmen, wie Tausende von schwarzen Vögeln sich aufgescheucht aus den Bäumen erhoben und gen Himmel flogen. Dort ihre Kreise zogen. Er flog mit ihnen.
Er raffte seinen Willen zusammen und sah das Wesen weiter auf sich zukommen. Sein Schuß ging daneben, oder hatte keine Wirkung gezeigt. Das Gewehr war nun fort. Weggeschleudert! Was für eine primitive, ballistische Waffe! Er sank zu Boden.
(Deine Kinderschwester kommt jetzt. Ich will Tischtennis spielen. Erst trinkst Du Deinen Tee. Erst ißt Du dein Essen. Dann gehen wir spazieren und heute Abend darfst Du spielen) Durch den Schleier, der sein Ich überzog sah er eines: Das unirdische Gesicht des Fremden. Er befand sich nun auf Augenhöhe mit ihm und Blut quoll zwischen seinen Zähnen aus seinem lippenlosen Mund hervor. (Mein Blut. Dein Blut.)
(Mama ich will Fernsehen! Oh! Du siehst aber gar nicht gut aus, ein wenig fiebrig, mein Kleines. Du setzt Dich jetzt hier hin und ich mache Dir den Fernseher an. Papa, hol doch bitte einmal das Thermometer. Irgendwas stimmt nicht mit dem Kleinen.)
Als er aufwachte, mußte er zwei Dinge feststellen: Erstens war er noch am Leben und zweitens hatte seine Kugel doch getroffen. Um ihn herum lagen Eingeweide verstreut, welche (Gott sei Dank) nicht von ihm stammten. Eine Blutspur führte in die Wälder hinein, wo sie sich jedoch verlor. Es war einige Zeit vergangen, seitdem er im Licht dieses Tages neue Hoffnung geschöpft hatte. Erst hatte er sich in eine sichere Ecke des Hauses zurückgezogen, falls das Alptraumwesen noch einmal zurückkommen sollte. Diese Befürchtung stellte sich jedoch als unbegründet heraus.
Doch auch niemand anders kam. Er hätte eigentlich nach drei Wochen abgeholt werden sollen, jedoch kein Fahrzeug erschien auf dem kaum sichtbaren Weg, welcher in die nächste Stadt führte, und langsam gingen seine Nahrungsmittelvorräte zu ende. Auch andere merkwürdige Dinge waren geschehen. So hatte er nach kurzer Zeit Stimmen gehört. Sie kamen jedoch nicht von draußen aus dem Wald. Es waren eindeutig menschliche Stimmen, die er da hörte, sie sprachen jedoch keine Sprache, die er verstand, oder auch nur identifizieren konnte. Sie kamen stets aus dem Keller des Hauses. Einmal hatte er all seinen Mut zusammengenommen und gefragt, wer dort sei (er hatte dabei eine Heidenangst gehabt). Darauf waren die Stimmen verstummt und an ihre Stelle war ein beständiges Klacken getreten. Erst hatte er angenommen, jemand mache sich an den Schaltern
im Keller zu schaffen, jedoch dann (er wußte nicht woher) kam ihm das Bild von rollenden und aneinander schlagenden Knochen und Zähnen in den Sinn. Auch konnte er hören, wie die Kisten unten im Keller mit einem schabenden Geräusch bewegt wurden.
Er hatte angsterfüllt auf die Kellertür gestarrt, ohne sich zu bewegen, bis die Geräusche im Morgengrauen schließlich verstummten. Hiernach hatte er in der Nähe des Kellers stets jegliches Geräusch vermieden, egal, ob die Stimmen zu hören waren, oder nicht, und sich hauptsächlich in der zweiten Etage aufgehalten.
Nach den drei Wochen waren ihm merkwürdige Wesen und Kreaturen aufgefallen, welche er in der Nähe des Hauses gesehen hatte. Eines von den Wesen hatte sogar mit seinem Namen nach ihm gerufen, worauf er sämtliche Fenster vernagelt hatte.
Heute stand sein Entschluß nun fest! Er würde hinausgehen. Weg von diesem Ort und in Richtung der nächsten Stadt (falls diese noch existierte). Obwohl er Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren, da er am Nachthimmel kein ihm bekanntes Sternbild entdecken konnte und der Weg vor dem Haus sich nach wenigen Metern im Wald verlor (was er mit äußerster Verzweiflung festgestellt hatte), hatte er seine Vorräte und das Gewehr gepackt und war nun marschfertig. Was immer ihn auch in den Wäldern dieser so bizarr gewordenen Welt erwartete, er wollte nicht warten, bis er schwach vor Hunger war, um es herauszufinden. Nur eines würde er noch tun bevor er loszog: Er würde in dieser Nacht in die Scheune gehen und beten.
Was immer ihn auch hören mochte...