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- Anmerkungen zum Text
Triggerwarnung: Suizid
Ein erster Entwurf, wobei ich hoffe, es fallen nicht allzu viele Fehler an.
Kamtschatka: nordostasiatische Halbinsel, gehört zu Russland
Korjaken: die indigene Bevölkerung in Kamtschatka
Monolid: Auge, ohne Lidfalte, sprich die Art Augen, die man Ostasiaten zuschreibt
Petropawlowsk-Kamtschatski: die größte Stadt auf der Halbinsel Kamtschatka
Awatscha-Bucht: befindet sich bei Petropawlowsk
"Die Drei Brüder": Felsformation am Eingang der Awatscha-Bucht
Kamtschatka
Vor einigen Jahren war meine Katze Käthe gestorben. Von einem auf den anderen Tag hatte sie aufgehört zu essen und zu trinken und sich unter das Bett meiner Mutter zurückgezogen. In der Nacht schlief ich auf dem Boden neben ihr, um ihr Gesellschaft zu leisten. Käthe hat sich früher jede Nacht am Fußende meines Bettes zusammengerollt und im Traum hörte ich sie schnurren. Sie sollte nicht alleine sterben. Das wollte ich sie wissen lassen.
Am Morgen kam sie unter dem Bett hervorgekrochen und legte sich seltsam verdreht in die Mitte des Schlafzimmers. Ich dachte, sie müsse Schmerzen haben, meine Mutter dachte das auch. Ihr Ende war gekommen.
Wieder legte ich mich neben sie, um sie zu streicheln, während ich um sie weinte, meine Tränen liefen langsam an meinen Wangen runter. Mit einem Finger umrandete ich vorsichtig den herzförmigen Fleck auf ihrem Fell, der langsam verschwamm. Ich flüsterte ihr ins Ohr, dass ich sie immer lieb haben werde. Sie hat immer verstanden, wenn ich zu ihr sprach und sie antwortete manchmal sogar. Dies mal antwortete sie nicht, aber ich war mir sicher, dass sie das verstanden hat. Das Gehör ist der Sinn, der sich als letztes ausschaltet.
Ich saß in einem heruntergekommenen sowjetischen Plattenbau, in welchem eine Polizeistation war. Das Verhörzimmer war auch heruntergekommen, alt und kalt. Das lag an dem weiß-kühlen Licht, eine lieblose Neonröhre, welche von oben auf die Übersetzerin und mich erbärmlich schien. Die Wände waren bemalt mit weißer und klinisch hellblauer Farbe. An einigen Stellen an der Wand bröckelte der Putz schon ab, vielleicht hat jemand mal dagegen geschlagen oder einfach ein Zeichen der Zeit. Der Polizist hatte vor wenigen Augenblicken das Zimmer verlassen, um der Übersetzerin, mir und ihm selbst Kaffee zu holen. Meine Hände waren auf dem ollen kalten Metalltisch abgelegt, aber inzwischen war es warm an der Stelle, wo meine Hände lagen. Gegenüber von mir war der Stuhl, auf dem noch eben der Polizist saß, rechts von mir war das verspiegelte Fenster, hinter dem, wie ich vermutete, niemand stand. Zu meiner Linken saß die hübsche Übersetzerin. Sie war wirklich sehr schön, sie hatte lange honigfarbene Haare. Sie trug eine schöne Bluse, mit einem Ausschnitt, der genug von ihren Brüsten zeigte, um mehr erahnen zu können, und einen engen Rock, der vor ihren Knien endete. Durch sie wirkte der Raum ein wenig warm. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, lächelte sie mich kurz und unbeholfen an, ich lächelte zurück. Sie wandte daraufhin wieder ihren Blick ab, schaute auf ihren Notizblock, der auf ihrem Schoß lag. Wir schwiegen.
Der Polizist öffnete die alte quietschende Tür und kam mit drei Tassen herein. Zwei in einer Hand und die andere in der anderen Hand. Die Tür fiel hinter ihm wieder zu. Er hatte ein breites und flaches Gesicht, mit rasierten schwarzen Haaren und Monolid. Ich glaube, er war Korjake. Er stellte die erste Tasse vor der Übersetzerin auf den Tisch, die zweite vor mir und dann setzte er sich etwas fallend träge auf seinen Stuhl und hielt seine Tasse im Schoß. Er schaute mich und die Übersetzerin an, dann in seine Tasse und wiederholte dies.
Wir fingen an mit der Befragung. Er meinte, ich solle einfach drauf los erzählen. Als er das auf russisch sagte, klang das abwartend und ruhig. Kein Aufnahmegerät, nur ein Notizblock, auf dem der Polizist ab und zu etwas drauf schrieb, schon fast wie ein Psychotherapeut. Mir fiel auf, dass die Übersetzerin den gleichen Notizblock hatte.
Ich fing an darüber zu erzählen, dass ich in Petropawlowsk sei für eine Recherche, es ging um die Umweltkatastrophe 2020 in der Awatscha-Bucht, dass ich aus Deutschland komme, wie alt ich sei, wo ich genau wohne, für wen ich arbeite. Die Übersetzerin war sehr flink, unterbrach mich schon fast. Der Korjake hatte bloß genickt. Sie schaute ihn an, nahm das Nicken auf, und gab es an mich weiter. Ich schwieg kurz, denn ich versuchte alles in meinem Kopf aufzusammeln. Die Erinnerung an seinen Anblick tat weh. Ich nippte von meinem Kaffee, welcher scheußlich schmeckte. Unfassbar sauer und bitter. Ich begann.
Ich sah ihn hier öfters. Einmal saßen wir gleichzeitig in einer Teestube, ich trank Kaffee und er hatte Tee getrunken. Er bewegte sich ziemlich zügig und zielgerichtet, wenn er über die Straßen lief, man merkte, dass er aus einer Großstadt kam. Er stach auch sehr hervor durch seine Klamotten, sehr europäisch-modisch. Aber auch was anderes machte ihn auffällig; er sah traurig aus und abgeschlossen. Eigentlich wollte ich ihn ansprechen, aber ich habe mich nicht getraut. Ich dachte, wenn ich ihn angesprochen hätte, wäre es so gewesen, als hätte ich was geöffnet, was eigentlich zu bleiben sollte. Ich schaute ihn mir gerne an, immer wenn ich ihn sah. Ich sah ihn jeden Tag, an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten, als seien wir verbunden. Ganz komisch. Ich pausierte kurz, aber ich merkte, wie ergriffen ich war von ihm. Wenn ich über ihn redete, fühlte es sich so an, als hätte ich ihn schon ewig gekannt.
Die Übersetzerin tat ihre Übersetzung, ich fuhr fort. Das erste Mal, als er mir aufgefallen ist, war in Moskau. Dort saßen wir im gleichen Wartebereich, denn wir mussten 11 Stunden auf unseren Anschlussflug nach Petropawlowsk warten. Er ist mir erst dort aufgefallen, ich hätte aber nicht gedacht, dass ein so junger Mann nach Kamtschatka fliegen würde. Er war vielleicht 20 Jahre alt, ein Alter, wo man eher nach Istanbul, Paris oder so fliegt, wo viel Leben ist. Das machte ihn aber interessanter, dass er alleine hierher flog, es war so deplatziert und unpassend. Ich hab mich ab und zu umgesehen nach ihm, als wir da saßen, gemeinsam aber entfernt voneinander. Er saß nur da und hörte Musik, schaute mit leerem Blick vor sich. Ab und zu holte er ein Buch hervor aus seinem Beutel, las kurz, packte es wieder weg, als könne er sich nicht konzentrieren. Es war auch ein kompliziertes Buch, jemand erzählte mir schon mal davon, ich glaube es war irgendwas Philosophisches oder sowas in die Richtung. Mal verschwand er auch, kam dann aber wieder. Er versuchte auch einmal zu schlafen. Als ich dann realisierte, dass er das gleiche Ziel hat wie ich, war meine Aufmerksamkeit vollkommen auf ihn gerichtet und irgendwie wollte ich auf ihn aufpassen.
Die Übersetzerin unterbrach mich mit einer leichten Geste und sagte zart mit Akzent zu mir, dass sie jetzt gerne übersetzen würde. Ich nickte ihr gekünstelt lächelnd zu. Mich verwunderte, dass der Polizist alles nur aufnahm und nicht fragte, aber er notierte Dinge auf seinem Block.
Der Korjake sagte, ich solle bitte nun dazu kommen, wie ich den jungen Mann gefunden hatte.
Ich stand früh auf, so um circa fünf Uhr, um Joggen zu gehen und um den Sonnenaufgang am Eingang der Awatscha-Bucht zu sehen. Ich stellte mir dieses Bild sehr szenisch vor, wie die Sonne aufgeht und dort die „Drei Brüder“ im Wasser stehen, die Felsformation. Unsere Unterkunft ist in der Nähe des Eingangs der Bucht, von mir und meinem Übersetzer. Er half mir bei der Recherche. Jedenfalls machte ich mich auf den Weg, trug entsprechende Kleidung, denn es war sehr kalt. Nach dem ersten halben Kilometer wurde mir etwas wärmer. Ein wenig später war ich am Eingang angekommen, blieb stehen und realisierte, dass ich zu schnell war. Ich musste lange noch auf die Sonne warten. Ich streifte also am Ufer der Bucht entlang, lief mal auf dem Weg oder auf dem schmalen Streifen Kieselstrand. Desto weiter ich lief, fiel mir in der Ferne auf, dass dort etwas am Strand lag. Ich unterbrach mich selbst, so dass die Übersetzerin das tun kann, was eine Übersetzerin tut. Sie beeilte sich. Während sie redete, dachte ich daran, wie ich ihn dort am Strand entdeckte, ganz regungslos. Ich fing wieder an zu sprechen.
Ich nährte mich langsam an. Als ich verstand, dass ein Mensch dort lag, blieb ich wie angewurzelt stehen. Es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an, ehe ich mich weiter voran traute.
Der Kiesel unter meinen Schuhen machen jeden Schritt unsicherer. Es ist stockduster und furchtbar kalt. Eigentlich hätte ich frieren sollen, aber ich tat es nicht. Die Tränen stehen mir in den Augen, als seien sie das letzte, was aus mir raus kommt. Irgendwann halte ich und setze mich auf den Kiesel. Die drei riesigen dunklen Felsen kann man gerade so in der Ferne sehen, sie verschwimmen mit dem etwas helleren Hintergrund. Es ist doch nicht mehr so dunkel, ich kann ein wenig sehen. Die Musik, die auf meinen Ohren läuft, hörte ich nicht mehr.
Die Kieselsteine tun mir weh. Ich ziehe meine Jacke aus, um mich drauf zu setzen. Ich nehme vorher die Schachtel aus meiner Jackentasche heraus. Ich öffne die Schachtel und nehme eine Palette raus, drücke jede Tablette aus ihrer Kammer und schütte alle in meine Hand. Ich hoffe, dass das reicht. Ich greife nach der Wasserflasche, die aus meinem Beutel ragt.
Mein Mund ist voll. Die Flasche setzt an und die Tabletten schwimmen nun in Wasser. Ich schlucke mehrmals.
Ich beiße mir weinend in den Arm, krümme mich vor Scham.
Ich leg mich auf meine Jacke, genauso wie ich mich ihm gerne zeigte. In mir war nur noch wenig Kraft übrig. Ich werde von Innen heraus zerfressen. Ich hatte einen Akt von mir für ihn gemalt, in genau dieser Pose. Ich hörte die Musik wieder auf meinen Ohren, ein schönes Lied. Ich will es ihm zeigen. Ich will ihm alles von mir zeigen. Jede Stelle meines Körpers, jede Phantasie und jeden Traum. Er tastete immer gerne meinen Rücken ab, jeden Knochenpunkt, meine Beckenkämme. Ich hoffe, er vergisst mich nicht.
Dort lag er auf seiner Jacke, schon fast etwas sinnlich. Er lag dort mit halbausgezogener Hose auf dem Bauch, man konnte seinen Po sehen und sein Rücken lag frei, bis zum unteren Ende seiner Schulterblätter. Sein Kopf war schamvoll unter seinem Arm vergraben. Man sah ein wenig von seinem braunen Haar, was leicht nass war. Der andere Arm führte Weg vom Körper ins Leere. Er hatte Kopfhörer im Ohr. Ich versuchte ihn wach zu rütteln. Ich schaute mich nach einem Handy um, es lag halb versteckt unter der Jacke. Ich tippte drauf und er hatte „Yours To Keep“ von Guided By Voices gehört. Die Übersetzerin begann, ich wartete.
Ich fuhr fort. Neben ihm lagen Schlaftabletten, eine ganze Palette war ausgedrückt, insgesamt 10 Tabletten. Ich versuchte es nochmals ihn wach zu rütteln. Ich richtete ihn auf und schob ihm meine ganze Hand in den Rachen. Er übergab sich, ich schlug ihn und schrie ihn an. In seinem Erbrochenem waren 8 Tabletten, einige schon etwas aufgelöst durch die Magensäure. Während ich dies erzählte, liefen mir die Tränen.
Ich verstummte, schaute nach unten, auf meine Daumen, die sich umeinander drehten. Der gefaltete Zettel, den ich neben ihn fand, verheimlichte ich und auch, dass ich ihn einsteckte. Es war bloß ein kleines Blatt. Auf einmal fühlte ich mich unheimlich niedergeschlagen. Ich starrte in das Leere, was von meinen kreisenden Daumen umrahmt wurde, war völlig in Gedanken. Die Übersetzerin legte ihre Hand auf meinen Arm und bat mich fortzufahren. Ich erschrak etwas durch ihre Berührung.
Ich war vollkommen aufgelöst als ich seinen Körper dort sah, ich wusste nicht, wie mir geschieht. Ich wusste auch nicht, wie man die Polizei ruft, ich kannte die Nummer nicht, und ich kann auch kein Russisch, mein Übersetzer blieb in unserer Unterkunft als ich losging zum Joggen. Nachdem ich versuchte irgendwie zu helfen, rannte ich los. Alles fühlte sich leicht an, das Sprinten fiel mir leicht. Als ich ankam, sprang ich die Treppen hoch, sprengte durch die Tür unseres Zimmers und rüttelte ihn wach. Ich konnte nicht sprechen, ich vergaß, dass ich keine Luft bekam. Meine Lunge brannte und mein Zwerchfell krampfte. Ich versucht mich schnell zu beruhigen, stieß mit jedem Atem ein Wort aus und prustete zu meinem Übersetzer nur die Worte „Polizei“, „Notarzt“, „junger Mann“ und „Schlaftabletten“.
Während sie übersetzte, dachte ich an ihn. Wie er dort lag. Es war so sinnlich, schmerzvoll, schamvoll. Er war wunderschön. Seine Haut sah in dem fast abwesenden Licht sanft und hellblau aus. Es war so, als ob er alles spürte und hörte. Als wollte er unter dem wachenden Blick der Drei Brüder ruhen, während große Wellen gegen sie zerschellten.
Ich lag im Bett, ganz regungslos, äußerlich und innerlich. Ich blickte an die Decke, welche mit billigen Styropor-Stuck-Platten beklebt war. Mein Übersetzer war noch unten bei der Wirtin, erzählte ihr, was vorgefallen war. Ich hörte ihr leises Gespräch nach oben säuseln.
Er hatte einen schönen Po, dachte ich. Er lag dort so, als solle man sich dazulegen und mit den Fingern seine Wirbelsäule entlangfahren, an seinem Leberfleck vorbei, bis zu seinem Po und ihn streicheln. Ich hätte mich gerne neben ihn gelegt.
Ich hatte noch immer meine Joggingklamotten an. Ich richtete mich auf, erblickte seinen Beutel, der auf dem Stuhl lag, der gegenüber von meinem Bett stand. Darin war bloß nur noch ein Buch, den Rest hatte die Polizei mitgenommen. Ich stand auf und nahm das Buch aus der Tasche hervor. Es war ein Buch über Liebe. "Warum Liebe endet - Eine Soziologie negativer Beziehungen"
Als ich wieder im Bett lag, schlug ich das Buch auf. Darin befanden sich mehrere kleine dünne Servietten, die beschrieben waren. Auf ihnen wurde ein Gespräch festgehalten, zwischen ihm und jemand. Unter dem Stapel Servietten war eine Museumskarte, aus Hamburg. Anscheinend waren das Erinnerungsstücke für ihn.
Ich fuhr in meine Hosentasche und fischte alles raus, was drin war und legte es auf meinen Nachttisch zu dem Buch. Zuletzt zog ich den Zettel heraus. Ich traute mich nicht ihn zu entfalten, und das zu lesen, was er hinterließ.
Der Zettel war eng und klein beschrieben. Die Buchstaben waren ganz verschwommen, weil ich Tränen in den Augen hatte. Er schrieb an seine Familie, seine Freunde und über einen Mann, den er sehr gern hatte. Er entschuldigte sich, er bat darum, dass sie ihn nicht vergessen werden, er habe nur so wenig hinterlassen. Wenn sie ihn vergessen würden, dann sterbe er. Er schrieb auch direkt etwas an den Mann, den er sehr gern hatte. Dort stand eine Telefonnummer mit deutscher Vorwahl. Unten war noch eine kleine Anmerkung, dass er bei sich zuhause einen weiteren Brief im Schubkasten seines Schreibtisches hatte. Zuletzt hatte er sich bedankt, bei demjenigen, der ihn fand. Ich lag den Zettel weg, ich konnte nicht mehr lesen, drehte mich weg zur Seite. Irgendwann schlief ich ein, alles fühlte sich schwer an.
Mitten in der Nacht wachte ich auf, ich hatte einen komischen Traum, vergaß aber worum es ging. Ich dachte an die Telefonnummer, die auf dem Zettel stand. Ich nahm mein Handy vom Nachttisch, es war 3 Uhr, und schaute nach, wie spät es in Deutschland war. Ich wurde angerufen von verschiedenen Leuten. Ich glaube, sie vergaßen, dass es hier nachts war. Es war 16 Uhr dort. Mir fiel auf, dass auch eine russische Nummer mich angerufen hatte, vielleicht das Krankenhaus. Ich war dabei, seine Nummer in mein Handy einzutippen, als mir angezeigt wurde, dass die Nummer schon in meinen Kontakten war. Ich kannte diesen Mann.