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Kampf
Alles, was getan werden konnte, war erledigt. Alle waren informiert, alle Vorbereitungen getroffen, alles durchgesprochen; schon lange, schon bevor wir begonnen hatten und dann immer und immer wieder. Jetzt konnten wir nur noch warten, flezten im großen Raum im Erdgeschoss. Andere warteten zu Hause auf den Anruf, einige wenige draußen auf dem Platz vor dem Haus. Wir sprachen noch einmal alles durch, ob wir nicht vergessen hätten und damit wir nichts vergessen bei dem, was uns bevor stand. Wir sprachen von unseren Erwartungen, denen, die wir zuvor gehegt hatten. Sie waren eingetreten. Wir brauchten auch jetzt nicht damit zu rechnen, dass irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen würde, zumindest nicht, was die Linie anging. Wir brauchten nur abzuwarten. Langsam zersplitterte die Runde. Die Stimmung wurde leiser und mannigfaltiger. Die Worte richteten sich nur noch an einige wenige. Die Angesprochenen rückten näher zusammen, bildeten Gruppen.
Ich lag auf meiner Decke auf dem Boden, noch immer der Mitte des Raumes zugewandt, die Arena gewesen war, in der sich Materialien stapelten, die genauso ihre Rollen in diesem Geschen hatten, wie alle hier im Raum. Die ersten Kerzen erloschen. Das Licht wurde gedämpfter. Langsam begannen sich die Beziehungen von Materialien und Gedanken aufzulösen. Die Dinge schienen in sich zurückzukehren, reine Form zu werden.
Ich ließ mich auf den Rücken rollen, richtete meinen Blick zur Decke. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Jutta. Sie lag neben mir, noch der Raummitte zugewandt. Den Kopf drehend sah ich in ihr Gesicht, sah in ihre Augen, die schon eine Weile auf mir zu ruhen schienen. Wir kannten uns kaum. Hatten uns vor ein paar Tagen das erste mal gesehen, hatten zusammen gearbeitet, wussten ansonsten nichts voneinander. Trotzdem vermittelten ihre Augen Geborgenheit, schien ihr Blick mich nicht zu fixieren; mir Raum zu lassen. Laute des Wohlbefindens lösten sich aus mir. Meine rechte Hand tastete nach ihrer, schloss sich, wie ihre um meine. Ich genoss den festen Druck ihrer Hand. So dösten wir, so redeten wir. Wir erzählten uns von schönen, aber abgeschlossenen Erlebnissen, von Freundschaften, Lieben, verworfenen Träumen und verstrichenen Möglichkeiten. Ein ruhender Moment in der Zeit schien eingetreten. Wir kamen auf Sport zu sprechen, Judo, den wir beide nicht mehr ausübten aus unterschiedlichen Gründen, beide aber als einzigen mochten, aus den gleichen Gründen. Wir mochten beide die direkten, kraftvollen aber nicht gewaltsamen Bewegungen, besonders den Bodenkamp, die sich steigernde Körperspannung, bis zur Aufgabe des einen, das momentane Lösen, die neuerliche Anspannung.
Später dann stand Jutta auf, ohne meine Hand loszulassen, zog mich hoch, half mir, meinen entspannten, schweren Körper aufzurichten. Ohne ein weiteres Wort gingen wir ins Treppenhaus, schlörten mit der je freien Hand unsere Decken hinter uns her, erstiegen die weitenteils geländerlosen Treppen bis hoch in die oberste Etage, betraten ein Zimmer, in dem niemand seine Sachen gelagert hatte, einen Raum, der noch nicht reserviert war für eventuelle Rückzüge. Ich verkeilte die schlüssellose Tür mit einem herumliegenden Stuhl. Jutta breitete unterdessen die Decken aus. Wir entkleideten uns und knieten gegenüber nieder, neigten kurz unsere Oberkörper zum Gruß und begannen, unsere Kräfte zu messen. Unsere Körper fühlten sich gleich stark an. Wir rangen miteinander, fanden, umschlangen, pressten und überwältigten uns in loser Folge, bis unsere Körper das Signal zur Lösung gaben, lagen dann eine Weile nebeneinander und erkundeten tastend den Körper des anderen, dösten, bis die Kraft zurückkehrte und unsere Körper wieder einen gemeinsamen Raum aus Wärme und Feuchtigkeit bildeten.
Von dem Einschlagen der Haustür hörten wir nichts, bemerkten nichts von den Blitzlichtern der Fotografen im Flur, vernahmen nicht, wie dem, der das Küchenfenster mit einer Holzplatte verbarrikadieren wollte, von einem schon in der Kücke stehenden Uniformierten mitgeteilt wurde, dass dies nun nicht mehr nötig sei. Wir hörten nicht, wie kurz zuvor jemand, der gerade eine Tüte weiterreichte, sagte: „ Wenn jetzt die Bullen kämen““, wurden erst wieder zurückgeholt in das Geschehen, als die Tür zu unserer Kammer krachend aufflog und unvermittelt zwei grüne Plastikmännchen im Zimmer standen, unbewegt zunächst, bis das eines befahl, „Würden Sie sich bitte anziehen!“, beide den Raum verließen und die Tür zuzogen - soweit dies noch möglich war.
Wir folgten gehorsam, folgten auch der Aufforderung, die Treppe herunter zu gehen, die beiden dicht hinter uns. Kaum registrierten wir, wie ein Stockwerk tiefer zwei grüne Jungs Igor, den sie an Händen und Füßen trugen fragten: „Herr Doktor, möchten Sie nicht doch lieber selber gehen?“ Wir fühlten nichts, als wir in der Eingangshalle an einer Menschenansammlung vorbei kamen. Wir machten, was man uns sagte, registrierten kurz die Menge Menschen, die auf unser Wohlergehen achtete, bestiegen eine Wanne, betraten ein Gebäude, gingen eine Treppe hinunter. Erst als wir in einem Raum eine Pritsche sahen, kehrte Leben in uns zurück. Wir rissen uns unsere Kleider vom Leib.