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Kampf und Liebe - Wie alles begann

jbk

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17.06.2003
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Kampf und Liebe - Wie alles begann

Kampf und Liebe- Wie alles begann

I.
Der Tag der Ernte war angebrochen.
Die Sonne stieg vom hellroten Horizont in einen strahlend blauen Himmel und schickte ihre Strahlen auf halbem Wege auch unter das tief liegende Strohdach der Familie Kamp.
Bald würden die Felder von Scharen aus Erntearbeitern, Kleinbauern, Helfern und Tagelöhnern überströmt werden, die das Korn ihrer aller Auftraggeber Freiherrn von Arenberg mit Sensen abmähen, zu Bündeln zusammenfassen und von den Feldern weg in die Kornkammern bringen würden. Nach den letzten Jahren voller Dürre war das Land ausgehungert, die Hoffnung auf eine reiche Ernte groß und die Motivation, so schnell als möglich die Ernte ins Sichere zu bringen, gewaltig. Kaum vorstellbar wäre die Katastrophe, sollte auch in diesem Jahr der erhoffte Erfolg ausbleiben. Wie viele Neugeborene hatten in der letzten Zeit das Licht der Welt nur für Augenblicke erblickt, bevor sie wegen der Strapazen aus Hunger und kalten Nächten oder gleich durch die Hand ihrer Eltern verstarben?
Michel Kamp saß vor der Hütte mit der Sense und dem Schleifstein in den Händen und wetzte ihn an der Klinge entlang. Seit er heute früh am Morgen aufgestanden war, durchströmte ihn ein Gefühl, wie es auftritt, wenn etwas Neues anfängt, man guten Mutes in die Zukunft blickt, dabei aber immer ein dunkler Zweifel im Hintergrund präsent ist, der darauf wartet, bestätigt zu werden. Wie viele andere hatte er jahrelang Hunger leiden und Qualen auf sich nehmen müssen, hatte Vieh und Mensch elendig verrecken sehen. Er war buchstäblich durch die Hölle gegangen, und, wie die meisten hier auf dem Lande, glaubte er an eine Strafe Gottes. Waren nicht genug Gebete gesprochen worden? Hatte man zu wenigen den Teufel ausgetrieben? Welche Hexe wurde nicht geläutert, nicht nach dem Beweis ihrer Schuld ertränkt, gepfählt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt? Waren gerade in diesem Land die Sünder den Gläubigen überlegen?
Niemand wusste genau, was man falsch gemacht hatte, warum der strafende Finger Gottes gerade hier über das Land herzog. Fragte man die Gelehrten aus den Kirchen, so erhielt man eben diese Fragen als mögliche Antwort für den Grund der Pein.
Michel rieb mit dem rechten Daumen über die Klinge. Jetzt war sie scharf genug, um damit gut einen halben Tag Korn zu mähen. Immer noch mit diesem Gefühl im Bauch, ging er ins Haus zu Maren, seiner Frau.
„Was hast du Gutes für uns hergerichtet?“ fragte er und schaute zur Feuerstelle, auf der ein eiserner Topf stand, aus dem heraus es dampfte. Natürlich wusste er die Antwort schon: Es war Griesbrei, wie es ihn jeden Morgen gab, bevor die Arbeit begann. Bald würden auch die Preise für Gries wieder fallen, wenn die Märkte nach der Ernte von Getreide überströmt werden sollten. Dann endlich konnten sie die Vorratskammern wieder füllen, die momentan noch so aussahen, wie es die Felder in den vergangenen Jahren taten: karg und leer.
„Lass uns mit dem Frühstück noch warten, bis Felix kommt. Ich schaute vorhin auf seine Schlafstelle, doch sie war leer. Er wird in den Wäldern unterwegs sein. Wenn er wieder kommt, fangen wir an.“
Während Maren diese Worte sprach, schaute Michel auf ihren Bauch. Er war in den letzten Monaten gewachsen, bald würde es soweit sein und seine Frau würde ihm ein Neugeborenes schenken. Nachdem sie im letzten Jahr im Winter wegen Schwäche eine Fehlgeburt erlitten hatte, war sie sofort wieder schwanger geworden. Sie hofften beide, dass Gott sich dieses Mal erbarmen möge und ihnen ein gesundes Kind, einen Sohn am liebsten schenken werde. Sie sprachen jeden Tag davon.
„Du bist schon wieder ein bisschen rundlicher geworden“, sagte Michel nicht ohne Stolz. Er bemerkte ein Funkeln in ihren grünen Augen, die wie die einer Katze aussahen. Oh, wie liebte er diese Augen! Wie oft schon war er in ihnen versunken, hatte darüber hinaus all die Schmerzen des Hungers, all das Leid der Welt vergessen können? Welch ein Glück hatte er gehabt, eine solche, von Gott gesegnete Frau, wie er fand, geheiratet zu haben!
„Lass uns vor dem Essen noch einmal ins Bett gehen“ hauchte sie ihrem Gatten entgegen.
Er nahm sie auf den Arm und trug sie auf ihr Strohlager.

II.
Felix Kamp war sehr früh am Morgen, vor Tau und Tag, aufgestanden. Er hatte vor, mit Pfeil und Bogen auf die Jagd nach etwas Essbarem zu gehen.
Aus der Vorratskammer schnitt er sich eine kleine Scheibe vom Laib Brot ab. Lebensmittel waren spärlich und die Kammer, wie er sah, so leer wie das Gefühl in seinem Bauch. Die Kammer hungerte.
Die Waffe hatte er sich selbst geschnitzt. Dazu hatte er sich das biegsame Holz eines Nussbaumes genommen, es auf die richtige Länge gekürzt, zwei Kerben hinein geschnitten und die Sehne eines Tieres dazwischen gespannt. Die Pfeile waren aus stabilem Eichenholz und die Federn von einer Ente, die er vor drei Wochen erlegt hatte. Seitdem gab es kein Fleisch mehr, immer nur den Griesbrei. Er hasste Griesbrei, doch es war das Einzige, was es gab, um gegen den Hunger anzukämpfen. Die paar Beeren, die er während seiner Streifzüge durch die Wälder fand, waren zwar lecker, doch nicht sättigend und die Fische, die vereinzelt in den Bächen schwammen, schwer zu fangen, denn die Strömung war schnell und das Wasser immer in Bewegung, so dass die Fische nur mit geübtem Auge zu erblicken waren. Dann war da noch ein weiteres Problem: Immer, wenn man nicht senkrecht über dem Wasser stand, sondern in einem anderen Winkel versuchte, mit einem Pfeil die Tiere zu erwischen, ging der Schuss daneben, wenn man genau auf sie zielte. Man musste, so hatte er mit der Zeit herausgefunden, vor den Punkt zielen, den man als Fisch im Wasser sah. Um also zum einen den Fisch zu finden, zum anderen ihn dann auch noch zu erlegen, bedurfte es Übung und Zeit. Er würde heute wohl am Fluss vorbeikommen, doch zuerst wollte er seinen Freund, Josef Schmied, aus dem Dorf abholen, um mit ihm zusammen auf die Jagd zu gehen.
Sie mussten bloß aufpassen, nicht von den Soldaten des Freiherrn erwischt zu werden, denn seit kurzem stand das Jagen der Tiere in den Wäldern des Freiherrn unter harter Strafe. Zehn Peitschenhiebe würde es auf den Rücken setzten, wenn sie erwischt werden würden. Für jeden von ihnen.

„Hey Josef, da bist du ja endlich! Wir hatten uns doch vorgenommen, vor der Morgendämmerung loszugehen, damit wir im Zwielicht auf Hasenjagd gehen können. Schau zum Horizont, die Dämmerung ist da und bald wird die Sonne aufgehen. Wir werden uns beeilen müssen, um guten Jagderfolg zu haben!“
„Entschuldige, ich weiß, ich bin spät. Doch ich hatte noch Holz für das Feuer zu besorgen. Du weißt ja, mein Vater schmiedet schon früh am Morgen. Dafür hat er uns ein Stück Käse mitgegeben, siehe hier. Das wird uns schmecken, während wir jagen; bestimmt!“
„Wunderbar! Hast du deine Schleuder?“
„Warte, ich werde sie holen, dann können wir losgehen.“
„Beeile dich!“

Die Beiden rannten los, durch das Dorf, das langsam erwachte, die Straße entlang zur Dorfgrenze und dann weiter, über die Felder zum Wald. Sie gingen ihren Schleichpfad entlang, der sie durch dichtes Gestrüpp führte und an mancher Stelle schon wieder zugewuchert war seit dem letzten Mal, wo sie ihn benutzt hatten. Jemand, der nicht ortskundig war, hätte sich schon bald in dem Labyrinth aus Sträuchern, Büschen, hohen Gräsern und dicht beieinander stehenden Bäumen verirrt, doch Michel und Josef waren, solange sie sich erinnern konnten, durch die Wälder gestreift, hatten hier ihre Kindheit verbracht. Sie kannten den Wald in und auswendig, bei Tag jedenfalls. Einmal waren sie so tief in ihr Spiel versunken gewesen, dass sie die herannahende Nacht nicht bemerkt hatten und erst, als sich die Schatten im Wald weiteten, den Rückweg antraten. Niemals würden sie vergessen, dass der Wald des Nachts zum Leben zu erwachen scheint. Die Wege scheinen verrückt, nicht mehr da zu liegen, wo sie am Tag noch lagen. Rund um sie herum knackte es wie ein von tausend Füßen begangener Waldboden, auf dem das Unterholz berstet. Stimmen scheinen zu raunen, Geräusche im Dunkel der Nacht lauter zu werden und näher zu kommen. Schließlich hatten sie unter einem entwurzeltem Baum Schutz gesucht und die Nacht, in panischer Angst, dort verweilt, unfähig, sich zu bewegen.
Doch der heutige Morgen war zu schön, um sich an diese schreckliche Begebenheit zu erinnern. Am Boden lag ein lichter Nebel, an den Bäumen huschten Eichhörnchen entlang. In den Wipfeln der Bäume spielte der Wind mit Geäst und Blattwerk und die Vögel zwitscherten aus den Kronen ihre fröhlichen Melodien.
Michel und Josef waren an einer kleinen Lichtung angekommen, an der sie sich für gewöhnlich auf die Lauer legten. Diesen Weg mussten die meisten Tiere nehmen, um zum Fluss zu gelangen, wo sie jeden Morgen tranken. Jeden Morgen gingen sie den Weg hin, tranken und gingen ihn wieder zurück, was konkret bedeutete, dass ein Jäger gleich zweimal die Chance hatte, Beute zu schießen. Da sie heute allerdings spät dran waren, würden sie nur eine Chance dazu haben.
Sie setzten sich und aßen den Käse, der schon leicht ranzig war.
„Lange hab ich nicht mehr einen so guten Käse gegessen!“ sagte Felix, während er genüsslich kaute.
„Mein Vater hat ihn als Gegenleistung für das Beschlagen der Hufe der Pferde des Freiherrn bekommen. Schöne Pferde, hoch gewachsen und muskulös, kräftig, Pferde eben, die nie haben Hunger leiden müssen. Gebracht hat den Käse eine Magd. Felix, ich sage dir: sie sieht aus wie ein Engel. Goldenes Haar, ein Gesicht ohne Narben oder blaue Flecke, ein sauberes Kleid, unter der sich die Nippel ihrer Brüste abzeichnen. Sie stellte sich uns als Sally vor.
Eine Stimme hat sie wie Honig. Ja, so stelle ich mir den Geschmack von Honig vor, so wie ihre Stimme klingt. Sie schaute mich an und lächelte, als sie mir den Käse für meinen Vater gab uns sagte: ´Habt Dank für die gute Arbeit an den Pferden. Der Freiherr lässt seine Zufriedenheit ausrichten.` Und dann lächelte sie nochmals und ging. Ich schaute ihr hinterher, sah ihre Hüften im Gang wiegen, sah dem Engel nach, wie er davon glitt. Sie ist neu bei dem Freiherrn angestellt worden. Mache sagen, sie komme aus einer größeren Stadt, aus Niederfurt, andere behaupten, sie sei von Gott selbst gesannt. Ich glaube, sie ist ein Engel. So schön wie sie kann nur ein Geschöpf Gottes sein.“
Während Josef von ihr sprach, sah Felix, wie sich seine Gesichtszüge entspannten und der Blick in die Ferne schweifte. Er hörte Josef gerne zu, wenn er anfing zu erzählen. Seine Sprache war bildreich, man konnte sich gut vorstellen, was er gerade erzählte.
„Du scheinst ja regelrecht von ihr zu schwärmen. Ich habe dich beobachtet, dein Blick lag in der Ferne, so wie es typisch für jemanden ist, der vor seinem inneren Auge ein Schauspiel verfolgt. Ich selber habe sie mir gut vorstellen können, doch ich brenne darauf, sie einmal in Wirklichkeit zu sehen. Du wirst sie mir zeigen müssen, diesen Engel, wie du sagst. Wenn sie das nächste Mal kommt, um deinen Vater zu entlohnen, sagst du mir zuvor bescheid, dann werde ich auch in den Genuss kommen, eine von Gott gesannte Gestalt mit meinem irdischen Auge erblicken zu dürfen.“
Sie lagen noch an Rand der Lichtung und sprachen über die neue Magd des Freiherrn, als einige Hasen auf die Lichtung hoppelten. Felix sah sie als Erstes: „Schau, Josef! Da vorne. Drei, nein, fünf Hasen. Lege einen Stein in deine Schleuder. Ich werde meinen Bogen spannen. Lass uns warten, bis sie näher herangekommen sind. Noch nicht, sie sind noch zu weit entfernt. Jetzt kommen sie näher. Auf drei: eins, zwei…“
Die Hasen ergriffen plötzlich panisch die Flucht. Ein Bussard kreiste über ihren Köpfen.
„So ein Mist!“ fluchte Josef. „Verdammter Bussard! Verdirbt uns dieser Vogel der Hölle doch tatsächlich die Jagd! Jetzt werden die Tiere gewarnt sein und die Lichtung meiden.“
„Lass uns noch ein wenig warten. Vielleicht ist ein Tier unter ihnen, welches die Gefahr nicht erkannt hat und uns vor die Waffe läuft.“
Sie warteten noch eine halbe Stunde, doch kein Tier lies sich mehr auf der Lichtung blicken.
„Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.“ sagte Felix. „Mein Vater hielt mich an, heute mit ihm auf den Feldern zu arbeiten. Du weißt ja, die Erntezeit steht vor der Tür und Arbeitskraft wird gebraucht auf den Feldern. Meiner Meinung nach sei es besser, im Wald das Jagdglück zu beschwören, als den Tag über in der Glut der Sonne auf dem Feld zu ackern. Doch mein Vater war dieser Ansicht nicht. Er meinte, ich vertreibe mir sowieso nur die Zeit im Wald und würde so nichts fürs Leben lernen. Dabei ist er immer froh, wenn ich mit etwas Fleisch nach Hause komme. Doch leider ist es oft wie heute. Das Glück liegt nicht immer bei den Tüchtigen.“
Josef und Felix gingen auf dem Rückweg am Fluss entlang. Er führte für diese Jahreszeit reichlich Wasser, was in den letzten Jahren nicht der Fall gewesen war. Fische erblickten sie vereinzelt, doch die Zeit war zu knapp, als dass sie hier ihr Glück nochmals versucht hätten. Sie hielten noch an ein paar Brombeersträuchern an und pflückten die reifen Beeren.
Es näherten sich Soldaten des Freiherrn.
„Felix, schnell, wirf deinen Bogen ins Gebüsch! Soldaten!“
Gerade noch schafften sie es, ihre Waffen zu verbergen.
„Was treibt ihr hier so früh am Morgen in den Wäldern des Freiherrn? Ward ihr auf der Jagd?“ Der Redeführer musterte die Gesichter der Jungen.
„Nein, nein, Herr. Wir gingen… äh… heut morgen zum Fluss, um zu baden. Seht, der Fluss ist nur zu gut dafür geeignet.“
Eine Notlüge, ganz klar. Das konnte auch der Soldat sehen.
Die vier Männer schauten sich in der Gegend um, um etwaige Spuren eines Vergehens gegen das gerade erst eingeführte Verbot der Jagd zu finden. Der Freiherr höchst persönlich hatte vor einem Monat angeordnet, sein Wild vor Dieben zu schützen und Verstöße hart zu bestrafen.
Doch da er weder Waffen noch Beute fand, ließ er die Beiden gehen.
„Dass ich euch nicht noch einmal hier erwische!“ rief er den davonlaufenden Jungen nach.
Im Dorf angekommen, verabschiedeten sie sich voneinander.
„Also Felix, mach’ s gut. Wir sehen uns spätestens in drei Tagen wieder, wenn mein Vater Geburtstag feiert.“
„Ja, spätestens dann.“
Felix drehte sich um und fing an zu rennen. Die Sonne war schon weit über den Horizont hinaus gestiegen. Er sollte doch heute auf dem Feld helfen.

III.
Als er zuhause ankam, sah er seine Eltern vor der Hütte sitzen und gerade den Griesbrei essen. In ihren Gesichtern spiegelte sich Zufriedenheit.
„Wo hast du Lausbengel dich wieder herumgetrieben?“ fragte sein Vater mit kräftiger, tiefer, doch milder Stimme.
„Mit Josef war ich im Wald. Wir jagten Hasen, jedoch ohne Erfolg. Ein Bussard kreiste über uns und verhinderte unser Glück.“ Er setzte sich zu seinen Eltern und aß eine Schüssel des Griesbreis.
„Wir werden heute hart arbeiten müssen, mein Junge.“ sagte Michel. „Iß, damit du bei Kräften bleibst.“
Felix nahm sich noch einen Nachschlag. „In drei Tagen wird Antonio Geburtstag feiern. Was werden wir ihm mitbringen?“
„Vor einem Monat setzte ich eine Maische auf. Bis Freitag wird sie vergoren sein. Er wird also Bier von uns bekommen.“
„Werden wir etwas auf die Felder mitnehmen?“ fragte Felix seinen Vater.
„Ja, ein wenig. Geh und fülle die Flasche. Hole noch die Sense, dann gehen wir los.“
Er tat, wie ihm geheißen.

Als sie ankamen, waren schon einige auf dem Feld und ließen die Sense durch das Korn streifen. Die allgemeine Freude über die Ernte spiegelte sich in den Gesichtern der Menschen wieder. Es war der Ausdruck, den man hat, wenn man nach einer langen Durstrecke endlich zu einer Quelle findet, die jemandem erfrischendes Wasser spendet. Es war eine Mischung aus Vorfreude, Glück und Hoffnung, dass die Gebete endlich erhört wurden.
Viele Männer aus der Umgebung fanden sich im Laufe des Vormittages ein. Die meisten von ihnen kamen zu Fuß, eine Sense oder etwas Proviant tragend. Ihre Oberkörper waren frei, denn es sollte ein heißer Tag werden, das hatte man schon am frühen Morgen feststellen können. Die meisten waren gänzlich ohne erkennbares Fett um die Hüften, durchtrainiert von der Härte des Lebens. Ihre Haut war gegerbt von Wind und Wetter, Sonne und Schmutz und fühlte sich rau wie Leder an. Es war das typische Erscheinungsbild eines Arbeiters, der die letzten Jahre auf dem Land verbracht hatte. Nur Unfreie sahen noch gemäkelter, noch gezeichneter vom Leben aus, doch sie sah man desto weniger, je länger die Hungerjahre andauerten. Hunger und Krankheit rafften sie dahin.
„Sieh, dort hinten arbeitet Gib Franko mit seinem Sohn Robert.“ rief Felix seinem Vater zu, der rund fünfzig Meter von ihm entfernt gerade ein Bündel Korn zusammenfasste. Mit Robert hatte er in letzter Zeit mehrere üble Prügeleien gehabt, die selten unter blauen Augen und vielen Prellungen endeten. Auch Michel war so manches Mal mit Gib zusammengeraten, als die Nächte in der Spelunke länger wurden. Zwischen den Familien Kamp und Franko herrschte eine verbitterte Feindschaft. Vor Jahren hatte Gib sich Geld geliehen, das er nicht mehr an Michel zurückgezahlt hatte. Seitdem kam es des Öfteren zu solchen Auseinandersetzungen.
„Lassen wir sie in Ruhe. Wir werden unsere Kräfte heute noch brauchen und dürfen sie nicht in einer Schlägerei vergeuden. Geh, Junge und hole uns das Bier.“
Sie tranken jeder einen großen Schluck, was den ausgetrockneten Kehlen in der Mittagssonne gut tat. Sie würden den Nachmittag über noch weiter arbeiten müssen, bevor sie die erste Ernte ins Dorf bringen würden. Dort hatten sie den Großteil dem Freiherrn abzugeben, der der Verpächter der Ländereien im weiten Umkreis war. Neben dem Zehnten, den sie dann noch an die Kirche abgeben mussten, würden sie gerade soviel Korn übrig behalten, wie es normalerweise für zehn Tage Brot reichen würde. Doch da niemand das Korn zu Mehl mahlen durfte außer den Müllern, würde es für knapp neun Tage reichen. Würden sie also die nächsten zehn Tage durcharbeiten, so hätten sie für gut drei Monate Mehl, was konkret eine zur Hälfte gefüllte Vorratskammer bedeutete. Würde Felix dann während der letzten Tage des Sommers noch Erfolg bei der Jagd haben, so könnten sie das Fleisch pökeln und so für lange Zeit konservieren. Also würde sich in den nächsten vier Wochen entscheiden, in welcher Menge sie Nahrung für die nächsten Monate zur Verfügung haben würden.

Maren sah ihren Männern nach, als sie sich nach dem Frühstück aufmachten, um auf den Feldern die Ernte einzufahren. Eine Träne des Glücks lag in ihrem Augenwinkel. Endlich sollte die Strafe Gottes abebben, endlich sollten wieder Nahrungsmittel durch das ausgehungerte Land fluten.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Sie war im achten Monat schwanger und merkte schon seit einiger Zeit, dass ihr Kind ein sehr aktives werden würde. Die Tritte gegen die Bauchinnenwand nahmen an Intensität und Frequenz zu, ebenso wie ihr Gefühl der Vorfreude auf das Kind, ein Gefühl der Angst vor den Geburtsschmerzen als auch ein Gefühl der Frucht vor einer weiteren Fehlgeburt. Damals starb ihr Kind, es war ein Sohn, eine Woche nach der Entbindung an Fieber, was wohl durch die Kälte und die schlechte Muttermilch ausgebrochen war. Damals war auch sie sehr geschwächt gewesen, hätte die Geburt um haaresbreite nicht überlebt. Heute war die Erinnerung an damals lebendig. Des Nachts verfolgte sie oft ein Traum, in den ein ausgehungertes Baby, das nur noch aus Haut und Knochen bestand, an ihrer Brust saugte und trotzdem immer dünner wurde, bis es kraftlos auf den Boden fiel und dort starb.
Dass sie das Baby auch dieses Mal nicht über die ersten Wochen seines Lebens bringen könnten, weil nicht genug zu essen vorhanden war oder Frost vorherrschte, glaubte sie mittlerweile nicht mehr, denn die Zeichen der Natur deuteten nichts Schlimmes an, wie die Meisten glaubten.
Sie stand nach einiger Zeit des Nachsinnens von der Sitzbank auf und ging mit dem Topf zum Fluss, um ihn zu säubern. Ebenfalls nahm sie einige Jutehemden mit, die sie waschen wollte. Nach der Wäsche würde sie zum Dorfbrunnen gehen und dort mit den anderen Ehefrauen über die Vorkommnisse der Woche reden. Am Abend würde sie dann ihre beiden Männer treffen, wie sie ihren Anteil an der Ernte bekommen würden.
Sie machte sich auf den Weg zum Fluss, beladen mit den Gegenständen und frei von der Last drückender Gedanken.

Der Tag auf dem Feld war anstrengend gewesen, und nun waren alle froh, dass er sich seinem Ende zuneigte und der Lohn für die Müh und Arbeit, das lang ersehnte Getreide, unter den Arbeitern aufgeteilt werden sollte. Sie versammelten sich im Dorfkern vor den Lagerhäusern des Freiherrn von Arenberg. Es waren aus gebranntem Lehm gebaute Häuser mit großen, hölzernen Eichentoren, vor denen sich nun eine Schlange von Arbeitern bildete, die die Ernte brachten und ihren Lohn abholen wollten. Michel stand mit Felix am Anfang der Schlange und bald schon gaben sie das Getreide ab an einen Zählmeister, der penibel Buch führte, damit auch alles seine Ordnung haben würde, so eben, wie es der Herr von Arenberg verlangte. Im Volk hatte er den Ruf eines engstirnigen Mannes, der seine Rechte durchsetzte und seinen Pflichten nachkam, wenn es sein musste. Er war der Besitzer aller Ländereien im weiteren Umkreis, drei großer Schlösser und zahlreicher Lagerhäuser, doch auch er hatte in den letzten Jahren nicht mehr den Lebensstil pflegen können, den er gewohnt war. Wie man im Volk wusste, war er großen Festen mit Unmengen von Wildfleisch, Pasteten, Wein und Starkbier und Gelagen, die über Tage dauerten, ebenso wenig abgeneigt wie der fleischlichen Lust, der er ausgiebig zu frönen gewohnt war, wie so manche Dame wusste, die neben ihren häuslichen Pflichten auf andere Zweige des Gelderwerbs angewiesen war. Doch fanden diese Feierlichkeiten nur noch einmal im Monat und nicht, wie in den Jahren davor, zweimal statt.
Michel und Felix kamen beim Zählmeister an und gaben die Ernte ab.
„Das sind rund 90 Pfund Getreide.“ sagte er, nachdem er es auf eine Waage gelegt hatte.
„Das bedeutet, dass ihr 9 Pfund Korn bekommen werdet. Das übrige Getreide wird eurem Freiherrn und der Kirche zugute kommen, damit sie auch weiterhin in der Art und Weise über euch gebieten können, wie es ihrem Geburtsrecht nach bestimmt ist. So holet euch euren Anteil dort hinten ab und gehet dahin, um Morgen wieder eurem Gebieter mit Hand und Fuß beiseite zu stehen.“
„Heil sei mit den Mächtigen!“ beteten die Kamps die Phrase herunter, die es den niederen Arbeitern bestimmt war, aufzusagen, wenn sie in Kontakt mit den höher Gestellten aus Adel und Kirche kamen.
Der Weg zum Brunnen hin war belebt in den späten Stunden des Nachmittages, wo die Ernte eingebracht und sich die Familien trafen. Staub lag in der Luft wegen der vielen Menschen, die das Getreide zu den Kammern schlurften. Am Brunnen selbst hingegen, der einige hundert Meter von den Kammern entfernt lag, klarte die Luft wieder auf. Felix sah als Erstes seine Mutter, die sich mit einer Frau unterhielt, die er gut kannte. Es war die Mutter von Josef, Maria Schmied.
„Hallo Frau Schmied“ grüßte Felix Ann freundlich, als sie am Brunnen ankamen.
„Na Felix, wie geht es dir? Siehst etwas müde aus nach dem heutigen Tag. War die Arbeit schwer?“
„Es war aushaltbar!“ erwiderte er, ohne dabei den Ausdruck der Anstrengung aus dem Gesicht zu verlieren.
„In drei Tagen wird es dir besser gehen, dann wird gefeiert und bei gutem Essen und Bier Seele, Geist und Körper die Kraft wiedergegeben, die sie während der Zeit des Arbeitens verbraucht haben. Das wird ein Fest, wie es lange nicht mehr gefeiert wurde in Kleinkirchen, jetzt, wo Gott sich erbarmt hat und uns Nahrung gibt, ihr werdet sehen! Und Maren, sei so gut und komme vorher vorbei, mir bei den Vorbereitungen zu helfen.“
„Das werde ich liebend gerne tun.“
Sie verabschiedeten sich und gingen ihre Wege. Felix lagen auf dem Heimweg die Worte „Fest“ und „Nahrung“ in den Ohren und er malte sich aus, wie es werden würde, wenn das ganze Dorf feierte. Schon lange hatte es kein großes Fest mehr gegeben. Jeder würde gut gelaunt sein und sich freuen und all die Sorgen für einen Abend zuhause lassen. Es würde gespeist werden, wie es lange nicht mehr getan worden war und gesoffen, was die Fässer hergeben würden. Das ganze Dorf würde tanzen, jubeln, feiern!


IV.

Die Männer hatten den Tag über wieder auf den Feldern die Ernte eingebracht. Die Temperaturen waren seit vorgestern kontinuierlich gestiegen, so dass mittlerweile eine drückende Schwüle vorherrschte, die nur ab und an von einem kühlenden Luftzug gemildert wurde. Bei der Hitze war die Arbeit auf dem Feld, wo kein Baum, nicht einmal einige Wolken, Schatten spenden konnten, Schweiß treibend und Kräfte zehrend!
Doch es nutzte kein Zetern; die Ernte hatte Vorrang vor jeglichem Schmerz.
Es gab Streit zwischen Robert und Felix, der ihn dabei erwischt hatte, wie er einen Teil des Ertrages stehlen wollte. Felix hatte es bemerkt, war zu ihm gerannt und gab ihm einen ordentlichen Kinnhacken, der Robert zum Taumeln brachte. Bevor der Streit eskalieren konnte, waren einige Ältere dazwischen gegangen und trennten die beiden Streithähne.
„Das wird ein Nachspiel haben!“ brüllte Robert mit erhobener Faust und Felix rief: „Komm nur her, du wirst sehen, wie ich meine Fäuste auf deinem Schädel spielen lasse!“
Robert war daraufhin zu seinem Vater zurückgegangen und erzählte ihm von der Auseinandersetzung. „Mein Sohn, heute Abend werden wir Gelegenheit haben, ihnen zurückzuzahlen, was sie verdienen!“
Mit einem wissenden Lachen setzten sie ihre Arbeit fort.

Wie sie es versprochen hatte, ging Maren gegen Mittag zu Ann, um ihr bei den Vorbereitungen für das Fest, das am heutigen Abend stattfinden sollte, zu helfen.
Der Vorhof der Schmiede sollte den Platz bieten, der für die Gäste- es war immerhin das halbe Dorf- ausreichen sollte.
„Da bist du ja, Herzblatt!“ begrüßte die Gastgeberin ihre Freundin. „Schön, dass du Zeit gefunden hast, herzukommen. Wie du siehst, habe ich gerade angefangen, auf Baumstümpfe Bretter zu legen, die uns als Bänke dienen sollen. Danach haben wir noch das Essen vorzubereiten sowie die Bierfässer in die Schmiede zu rollen. Aber zuerst lass mich deinen Kleinen spüren.“ Sie legte die Hand auf Marens Bauch. „Es bewegt sich schon sehr stark, als wolle das Baby heute Abend mitfeiern und tanzen.“
„Wem sagst du das?“ antwortete Maren. „Es drückt unaufhörlich gegen meinen Bauch. Bald wird es soweit sein, das habe ich im Gefühl.“
„Wahrscheinlich heute Nacht, wenn wir alle fröhlich feiern!“ scherzte Ann.
„Gott weiß, wann er die Zeit bestimmt hat. Ginge es nach mir, könnte er sich ruhig etwas Beeilen. Meine dritte Geburt möchte ich als bald wie möglich hinter mir haben. Nur sollte eine Hebamme in der Nähe sein, nicht so wie das letzte Mal, als Michel mitten im Winter entbinden musste. Es war ach zu eine große Anstrengung- für uns alle!“
„Es wird dieses Mal alles gut gehen, Maren. Das habe ich im Gespür. Vertrau auf mich, gebe dich in die Obhut Gottes und du wirst ein Baby gebären, welches über die Grenzen unseres Dorfes hinaus Gutes wirken wird! Stelle dir nur vor, es wird ein bildhübsches Mädchen und kräftig, dann könnte es in die Hausdienste von Adeligen kommen, hätte dort ein Dach über dem Kopf, das Wasser fernhält und zu essen, das den Bauch füllt. Sie würde Kleider tragen, die nicht vor Schmutz stehen und stinken, könnte sich täglich waschen, um den Nasen der hohen Herren zu gefallen. Ach Maren, sie könnte ein Leben führen, von welchem wir hier nur träumen können!“
„Du hast Recht. Das wäre ein ach zu großes Wunder, welches ich im Traum nicht von Gott erwarten würde. Doch darf ich hoffen, dass sich dieser nicht zu träumende Traum in Wahrheit wandelt, zu welchem Teil auch immer. Ich bete jeden Abend, dass er mir eine Tochter schenkt und nicht, wie es mein Mann hofft, einen weiteren Sohn. Obwohl ich beide zu gleichen Teilen lieben würde, so wären meine Wünsche mit dem Geschenk einer Tochter erfüllt. Julia soll sie heißen.
Nicht immer ist es leicht, mit zwei Männern im Haus zu leben, die stark im Willen sind. Oft fordern sie viel, wenn sie nach einem langen Tag nach Hause kommen und selten bitten sie höflich darum. Es ist die Art der Männer eben, die auch in ihren Venen pulsiert. Ich schätze mich glücklich, eine solche Freundin wie dich zu haben, Ann, mit der ich mein Leben und meine Gefühle teilen darf, die mich versteht und mit mir den Weg des Lebens geht!“
„Auch ich bin froh, dich Freundin nennen zu können, Maren. Nun aber lass uns ans Werk gehen, die Sonne ist schon über den Zenit gewandert. Hast du übrigens Josef gesehen?“
„Nein, sollte er nicht helfen?“
„Wenn ich den Lausbub heute in die Finger bekomme, kann er was erleben…“

Josef war wieder einmal im Wald unterwegs, um zu jagen. Er hatte keine Lust, seiner Ma bei den Vorbereitungen fürs Fest zu helfen, obwohl sie ihn ausdrücklich dazu ermahnt hatte. Er würde ihr erzählen, ihm sei schlecht geworden und er hätte deshalb nicht mithelfen können.
Diesmal war er zum Fluss gegangen. Irgendwer hatte ihm einst erzählt, der Fluss entspringe weit im Süden, nahe eines großen Meeres, welches das gesamte Land umflösse. Ein anderer erzählte ihm, dass weit hinter dem Meer sich ein anderes fremdes Land erstrecke. Wem oder ob er den Beiden Glauben schenken konnte, wusste er nicht, denn viele der Menschen konnten weder Lesen noch Schreiben, bestenfalls Geschichten erzählen, die sie einst irgendwo aufgeschnappt hatten. Und eine Vorstellung von der Größe eines Meeres überstieg seine Möglichkeiten. Meistens vermischten sich Dichtung und Wahrheit in den Erzählungen, so dass immer neue alte Geschichten entstanden.
Er hatte sich ans Ufer gesetzt und einige Steine ins Wasser geworfen, die mit einem Platsch unter die Oberfläche tauchten. Danach hatte er auf der Lauer gelegen, bis einige Fische nahe dem Ufer entlang schwammen. Sein Freund Felix erzählte im einmal, wie man Fische mit dem Speer fangen konnte, und dieser Technik machte er sich jetzt zunutze. Nach zwei Stunden hatte er immerhin acht Fische fangen können.
Mit dem Fang machte er sich auf den Weg nach Hause. Zwischendurch sah er einen alten Mann mit langen, weißen Bart am Ufer liegen, der sich aufrappelte, als er Josef des Weges kommen sah.
„Hey Junge, was haste denn da gefangen?“ fragte er lispelnd.
„Fünf Fische mit dem Speer. Heute war ein erfolgreicher Tag. Ich werde sie meinem Vater zum Geburtstag mitbringen und meine Ma wird sie über dem Feuer rösten.“
„Lange habe ich nichts mehr gegessen. Würdest du den Fisch mit mir teilen?“
„Das geht leider nicht. Wie gesagt, ich brauche den Fisch selber, denn viele Menschen werden heute Abend kommen und sehr hungrig sein. Aber ich gebe dir meinen selbst geschnitzten Speer, so dass du dir selbst Fische fangen kannst.“
Er erzählte ihm die Technik, wie der Fischfang vonstatten ging.
„Hab dank. Du bist ein guter Junge. Setz dich doch für eine kleine Geschichte.“
„Ich weiß nicht…“
„Hab keine Angst. Du wirst sehen, obwohl ich hungrig bin, beiße ich nicht. Und außerdem kannst du heute Abend die Geschichte erzählen und du wirst so Zuhörer finden.“
Es konnte ja nicht schaden, dachte sich Josef und setzte sich zu dem alten Mann ans Ufer.
„Ich komme von weit her, den Fluss entlang, von Süden.“ fing der alte Mann an zu erzählen.
„Dort leiden die Leute Hunger seit über drei Jahren. Auch in diesem Jahr fiel die Ernte karger aus als erwartet, denn nach den Jahren der Dürre zogen Unwetter auf, die mit Hagelschlag und Wasserfluten die Ernte vernichteten. Immer verzweifelter wurden die Leute, immer entschlossener, zu tun, was zum Überleben notwendig war. Es begann das Volk zu plündern, die Speicher des Adels zu belagern. Viele starben bei dem Versuch, die Vorräte der Reichen zu entwenden. Doch sie schafften es schließlich. Man munkelt dort unten, dass bald ein Bürgerkrieg über das Land hereinbrechen werde, sollte die Lage sich nicht bessern. Zu Wölfen werden die Menschen in diesen Zeiten, Junge. Ich weiß, wovon ich rede, denn schon mehrere solcher Kriege habe ich erleben müssen. Wie Horden von Wölfen ziehen Gruppen durch die Lande, suchen Bauern auf, bei denen sie Beute vermuten. Über Leichen gehen sie, denn ihr Hunger ist schlimmer als die Angst vor dem Fegefeuer. Hast du schon einmal richtig Hunger gelitten, Junge?“
Josef überlegte: „Auch hier waren die Jahre von kargen Ernten bestimmt, doch irgendwie hatte man immer etwas zu essen, wenn auch nur sehr wenig. Der Bauch schmerzte mir oft, besonders wenn die Sonne sank und es Nacht wurde. Dann waren die Schmerzen größer als am Tag.“
„Stell dir vor, dass die Leute im Süden über Tage nichts gegessen haben. Dem entsprechend ist ihr Hunger, deshalb nennen die Leute sie Wölfe. Ich sehe, du wirst eine Zeit erleben, in der du erleben wirst, was ich hier in Worten sage. Nimm dich in acht in solchen Zeiten, wenn dir dein Leben lieb ist. Denn es kümmert die Leute einen feuchten Kehricht, ob ein hungriges Maul weniger zu stopfen ist.“
Während der alte Mann so sprach, sah Josef die Erregung in seinem Gesicht. Die Augen quollen hervor und waren von roten Äderchen übersät. Seine Lippen bebten über den dunkelbraunen Zähnen und sein Atem roch nach Knoblauch. Doch gerade wegen seiner Gestalt, seiner Art, schenkte Josef seinen Worten Glauben.
„Du bist ein zäher Junge, Junge. Das sehe ich dir an. Doch sollten sich die Vorhersagen bewahrheiten, so wirst du neben deiner Zähheit auch Geschick und Glück haben müssen, um mit deinem Leben davon zu kommen. Ich habe viele Jungen wie dich gesehen, sterbend auf dem Feld. Ihnen war das Schicksal bös gesinnt. Du hast ein gutes Herz, doch nutzen wird dir nur ein starkes im Kampf. Und du wirst kämpfen müssen, um zu überleben, mein Junge. Hast du schon einmal gekämpft?“
„Ja, mit meinem Freund in den Wäldern. Oft haben wir Schlachten nachgespielt, uns Schwerter geschnitzt und unsere Fäuste trainiert.“
„Ich hoffe, es wird dir reichen, mein Junge. Und auch deinem Freund. Gehe nun, ich hab dir erzählt, was ich dir für den Speer schulde. Es ist die Warnung, mein Junge, die du in Erinnerung behalten solltest. Wenn der Krieg ausbricht, sei geschickt. Die schlauen Menschen sind meist die, welche nur kämpfen, wenn sie müssen, verstehst du? Du wirst hart werden müssen, wenn es darauf ankommt, sonst aber flexibel sein, schnell und gewandt. Denke an mich.“
„Ich werde jetzt gehen.“ sagte Josef, legte den Speer neben seinen Platz nieder und fing an, den Weg entlang des Flusses zu rennen. Er musste sich beeilen, denn es war schon später Nachmittag. Im Wasser gespiegelt sah er einige hohe Wolken, die ersten seit gut einer Woche. Selbst hier am Wasser war die Luft schwül und feucht, so dass ihm bald der Schweiß die Stirn entlang und den Rücken hinunter lief.

Als er an der Schmiede ankam, setzte es erst einmal eine deftige Ohrfeige von seiner Mutter. Sie war sauer, weil er nicht bei den Vorbereitungen geholfen hatte. Der Fisch, den er mitgebracht hatte, milderte jedoch den Zorn.
Mittlerweile sah der Vorplatz der Schmiede festlich aus. Bänke waren aufgestellt, Tische standen bereit. Einige Fackeln würden später Licht spenden. Bierfässer warteten darauf, angestochen zu werden und aus dem Wohnhaus drang der Duft frisch gebackenen Brotes, von Wildfleisch und von Fisch. Lange hatte Josef nicht mehr so etwas Gutes gerochen und das Wasser lief im schon jetzt regelrecht im Mund zusammen.
Josef sollte zusammen mit Felix anfangs für den Ausschank verantwortlich sein, später dann, wenn die Getränke in Strömen geflossen und die Gemüter erhitzter waren, würden ihre Väter diese Aufgabe übernehmen.
Mit Beginn der Dämmerung kamen die ersten Menschen. Man stellte sich an die Tische und erzählte sich von den Erlebnissen des Tages.
„Heute war ein zu heißer Tag, um reichlich Ernte einholen zu können.“ sagte Gabriel, ein stämmiger Bursche Mitte zwanzig. „Der Zählmeister war unzufrieden mit uns, er hatte sich mehr erhofft. Die nächsten Tage muss härter gearbeitet werden, um das Pensum zu schaffen.“
„Keiner von den Adeligen weiß, was es heißt, bei der Glut der Sonne auf dem Feld schwer zu arbeiten. Sie sollten sich in unserer Haut befinden, dann wüssten sie, wie viel ein Mann schafft und was eben nicht.“ warf Siegfried in die Runde. „Keiner der hohen Herren kann sich ein Bild machen von dem, was wir leisten.“
Thomas polterte: „Das brauchen sie auch nicht. Schließlich ist es ihr von Gott gegebenes Recht, über das Volk zu herrschen. Gott hat gewollt, dass die Menschen eingeteilt sind in Klassen und das eine jede Klasse ihren Verpflichtungen nachkommt. Wir sind es, die Er ausgewählt hat, zu arbeiten für die Adeligen und zum Wohl der Kirche, genauso wie der Allmächtige es wollte, dass der Mann über seine Ehefrau herrscht und befielt. Ich folge dem Willen Gottes, arbeite hart für den Adel und lasse meine Frau meine Wünsche und Bedürfnisse zu Hause erfüllen. Jeder sollte wissen, dass nur das recht ist. Alles andere wäre Frevel, ja Lästerung und müsste bestraft werden.“ Er schaute nach seiner Rede in die Gesichter seiner Zuhörer.
„Was Thomas sagt, ist recht. Wo kämen wir hin, wenn das von Gott gegebene System keine Existenzberechtigung mehr hätte? Könnten wir für unsere Familien sorgen, wenn wir keine Arbeit hätten, die uns der Adel gibt. Verhungern würden wir, elendig verrecken wie die Fliegen!“ stimmte Gerold Thomas zu.
„Doch spannt uns der Herr immer wieder auf die Folter, lässt uns durch unser Leiden auf Erden büßen, was wir verfehlt haben. Warum die Hungersnöte? Warum die Kriege, die wegen ihrer geführt werden? Warum die Abwendung von all den Geboten während der Zeit des Krieges? Will Gott uns zeigen, was es heißt, wenn er fernab unserer wandelt? Heißt es nicht in den Kirchen, Gott ist immer da, wenn auch als strafender Gott? Doch warum die Todesstrafe durch Verhungern? Ist nicht das Gebot das heiligste, welches sagt: Du sollst nicht töten? Geht ER nicht mit dem Beispiel voran und tut es? Wendet Er sich nicht gegen seine eigenen Worte und gegen uns? Verbündet sich mit den Reichen, hält treu zu den Geistlichen und vergisst uns, die doch am weitesten verbreitet sind auf der Erde, arm und mittellos, nur unserem Glauben treu?“
Samuel, ein Trunkenbold des Dorfes, sprach diese Worte laut, weil er mittlerweile ziemlich viel getrunken hatte.
Man schaute ihn an, hin und her gerissen, ob man ihm antworten sollte oder nicht.
Schließlich ergriff Gabriel das Wort: „Lasst uns das Theologische den Priestern und Mönchen überlassen und unsere Zungen in Demut halten. Wissen wir, ob nicht gerade unsere Worte das Züngelchen an der Goldwaage sind, die zwischen Fegefeuer und dem Reich Gottes entscheiden? Lasst uns unsere Gespräche dem Weltlichen zuwenden, dem Praktischen. Die Felder sind noch voll von Korn, das von uns gemäht werden muss. Wie viele Wochen werden wir noch brauchen, um die Ernte einzuholen? Was meint ihr?“
„Wir werden für die gesamte Ernte noch vier Wochen brauchen.“ sagte Siegfried.
„Eine lange Zeit. Hoffen wir, dass das Wetter uns hold bleibt. Gäbe es doch nur etwas, das die Arbeit erleichtern würde, eine Sense, die von Ochsen gezogen werden könnte oder so etwas in der Art.“ meinte Olaf
„Du hast eine lebhafte Fantasie.“ lachte Siegfried. „Niemals wird ein Tier so geschickt sein und in der Art und Weise Korn mähen, wie es ein Mann kann. Steigt dir schon das Bier in den Kopf?“
Alle stimmten in das Gelächter mit ein.
„Lasst uns einen Prost auf den Gastgeber sprechen, der heute sein 40. Lebensjahr vollendet und in dieser Zeit- meistens jedenfalls- uns als Schmied tüchtig und nüchtern beiseite gestanden hat! Soll er dies auch die nächsten 40 Jahre tun und ein solches Fest veranstalten, wie wir es heute feiern werden!“ erhob Gabriel den Krug.
Es wurde eingestimmt in den Spruch, der dem Schmied Glück für die Zukunft bringen sollte. Danach begannen vier Frauen, Lieder des Volkes zu singen und man tat es ihnen gleich.
Es wurde gesungen, getanzt und gelacht. Die Anstrengung der letzten Zeit vergaß man im Zuge der fröhlichen Stimmung und der Krüge voller Bier.
Josef und Felix hatten allerhand zu tun, den durstigen Kehlen die Krüge zu füllen. Als Gib und Robert Franko kamen, um Bier zu holen, schenkte Josef ihnen ein, während Felix auf Abstand blieb. Er beobachtete sie und sah, wie auch sie zu ihm herüber guckten. „Waren auf ihren Gesichtern die Züge des Zorns zu sehen?“ Felix schaute genauer hin. Sie drehten ihm den Rücken zu. „Was sie wohl gerade beredeten?“
Die Dämmerung ging in eine helle, von Vollmond beschimmerte Sommernacht über. Es wurden die Fackeln angezündet, die eigens für diesen Zweck hergestellt worden waren.
Felix und Josef hatten ihre Pflicht erfüllt und gingen nun durch die Menschenmasse, um zu schauen, was getrieben wurde.
„Lass uns beim Würfelspiel zuschauen“ meinte Felix, und sie gingen zu einem Tisch, um den ein duzend Männer herum standen und gespannt schauten, welche Zahlen fielen. Man wettete leidenschaftlich gerne auf dem Land, meist um kleinere Beträge, etwas Korn oder Gefälligkeiten.
Die Stimmung war ausgelassen, nur die Minen derjenigen, die schon viel verloren hatten, waren getrübt und man sah sie ihren Kummer im Alkohol ertränken.
„Heute hab ich am Fluss einen alten Mann getroffen, der mich bat, ihm Fische zu geben, weil er einen solchen Hunger hatte. Ich gab ihm meinen Speer und er erzählte mir vom Krieg im Süden des Landes.“ fing Josef an zu erzählen. „Er meinte, dass er daher komme, wo Hagelschlag und Hochwasser die Ernte vernichtet hätte. Dort herrsche seitdem Krieg, Männer würden plündernd übers Land ziehen und Verwüstung hinterlassen.“
„Geschwätz eines alten Mannes, der nichts besseres zu tun hatte, als dir einen Humbug zu erzählen!“ sagte einer der Männer harsch, der das Gespräch mit angehört hatte. „Der Krieg ist weit entfernt, die Menschen sind gläubig und fürchten die Strafe Gottes, die für die Sünden des Krieges schwer ausfallen wird. Kein Krieg wird uns hier heimsuchen, meine Jungen. Keiner!“
Felix schaute Josef an. Es war die Art von Blick, die zwischen der Wahrheit und einer Unwahrheit abwägt.
„Glaubst du ihm?“ fragte er seinen Freund.
„Ich weiß nicht… ich meine, ich hoffe, dass er sich irrt.“

Plötzlich war ein lautes Gepolter zu hören, begleitet von Schreien. Ein Pulk bildete sich um die Stelle herum, wo Felix und Josef vor einiger Zeit noch Bier ausgeschenkt hatten. Sie rannten hin und bahnten sich den Weg durch die Menge. Vorne angekommen, sahen sie, wie zwei Männer sich im Staub wälzten und aufeinander einprügelten. Es waren Michel und Gib, die sich gegenseitig die Fäuste ins Gesicht schmetterten. Ein Tisch war in zwei Teile gesplittert und die Bänke um sie herum umgefallen.
Die Menge grölte. Schlägereien waren im Dorf fast an der Tagesordnung, doch heute, wo die Gemüter durch den Alkohol sowieso erhitzt und die Schmerzen betäubt waren, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es ein langer, harter Schlagabtausch werden würde, zumal Michel als sehr ausdauernd galt und Gib kräftig gebaut war. Michel blutete bereits aus einer Wunde am rechten Augenlid und Gibs Wangen sahen stark geprellt aus, was man an einer einsetzenden Blaufärbung sehen konnte. Die beiden Männer kamen wieder auf die Beine und umklammerten einander. Gib musste einige Leberhacken einstecken, doch er schaffte es, sich aus der Umklammerung zu befreien und versetzte seinerseits Michel einen Kopfstoß, so dass dieser leicht nach hinten taumelte.
Maren hatte aus einiger Entfernung mitbekommen, dass ihr Mann in eine Prügelei verwickelt war und war von der Bank aufgesprungen, auf der sie bis eben mit Ann, der Frau des Schmiedes und einigen anderen Ehefrauen gesessen und sich über die neuesten Nähtechniken ausgetauscht hatten. Mit ihrem schweren Bauch konnte sie nur langsam zum Ort des Geschehens laufen.
Als sie ankam, sah sie gerade, wie Gib ihrem Mann einen schweren Kopfstoß verpasste. Sie stand nun in der zweiten Reihe.
Gib nutzte die Benommenheit seines Gegners aus, indem er ihn packte und herumschleuderte.
„Jetzt wirst du sehen, wer der Stärkere von uns beiden ist“ brüllte er und lies ihn los.
Michel wurde in die Menge geschleudert und fiel auf einige Personen, die er mit sich zu Boden riss. Man hörte ein Stöhnen und, nachdem sich Michel wieder aufgerafft hatte, einen Schrei. Es war eine ihm bekannte Stimme. Maren!
Als die übrigen Leute vom Boden aufstanden, sah er, warum sie geschrieen hatte. Zwei Männer waren auf sie gefallen, als er in die Menge geschleudert wurde, und nun sah man im Schein einer Fackel, dass ihr Unterrock nass war. Einer der Männer hatte ihr seinen Ellebogen in den Bauch gerammt, wodurch die Fruchtblase geplatzt war.
Just in dem Moment setzten die Wehen ein.
Es bildete sich ein Kreis um Maren, die nun stöhnend am Boden lag und ihre Beine so aufstellte, wie es bei einer Gebärenden üblich war. Sie schrie vor Schmerzen.
Jemand kam mit einem Messer und schnitt ihr Rock und Unterwäsche auf, so dass das sie das Baby gebären konnte.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Sie presste und presste, doch die Schmerzen waren stärker als bei ihren vorherigen Geburten.
„Ist eine Hebamme unter uns?“ schrie Michel, doch er wusste, dass keine Frau mehr im Dorf den Beruf einer Hebamme ausführte. Die letzte, die das tat, war vor einem Monat auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, weil ein Baby geboren wurde, dem Arme und Beine fehlten. Man hatte angenommen, dass die Amme einen Fluch ausgesprochen hatte oder dass ihre Hände verflucht worden waren. Im Ergebnis war das egal. Sie wurde der Hexerei für schuldig befunden. Seitdem war kein Baby mehr geboren, also auch keine Amme mehr gebraucht worden.
Marens Gesicht verkrampfte sich vor Schmerz. Man wusste, dass Frauen besonders dann leiden, wenn das Kind nicht, wie üblich, mit dem Kopf voran geboren wurde, sondern sich mit den Füßen zuerst den Weg durch den Geburtskanal bahnte. Gerade in einem solchen Fall war die Erfahrung von einer Amme nötig, denn andernfalls, ohne Hilfe also, hatten das Baby nur eine geringe Chance, atmend und lebend auf die Welt zu kommen.
Die Stimmung war gespannt, dicht drängten sich die Schaulustigen um die werdende Mutter. Über das Ereignis hinaus war die Kampfeswut verflogen und einer Neugier gewichen, was nun in nächster Zeit passieren würde.
Maren litt Qualen. Was hatte sie nur angestellt, dass Gott sie auf diese Weise prüfte. Die Schmerzen zogen sich über den gesamten Bauchbereich entlang und strahlten in den Rücken über. Die Gedärme, so glaubte sie, würden jede Sekunde reißen. Da, eine weitere, heftige Wehe verkrampfte ihren Unterleib. Sie schrie wie am Spieß. Würde sie die Probe überleben? Sie schloss die Augen.
„Macht Platz, herrje, lasst ihr Luft zum Atmen!“ rief eine Stimme aus den hinteren Reihen.
„Lasst mich durch, ich bin Amme!“ Es wurde eine Gasse gebildet und die Leute wichen ein Stück zurück.
Eine junge Frau, wohl Mitte zwanzig, kam nach vorne. Ihr Haar war blond wie das eines Engels.
Josef schaute Michel an: „Das… das ist…“
Sie kniete nieder und griff sicher zu der Stelle, wo ein kleiner Fuß bereits zum Vorschein kam. Sie schien sicher in dem, was sie tat, denn sie schaffte es, das Kind auf die Welt zu bringen, atmend und lebendig.
„Es ist ein Mädchen.“ rief die Leute, nachdem die Amme die Nabelschnur durchtrennt und dem Kind einen Klaps auf den Po gegeben hatte, so dass es anfing zu schreien. Sie legte das Neugeborene an die Brust ihrer Mutter.
Das Blut der Geburt hatte ihr vorher sauberes Kleid durchtränkt. „Ach übrigens, ich bin Sally.“ sagte sie erschöpft, aber glücklich.

V.

Das Anwesen des Freiherrn von Arenberg lag unweit des Dorfes Kleinkirchen. Es war ein eine kleine Schlossanlage, die von einer Gräfte umflossen wurde und über eine schwere Brücke aus Eichenholz erreicht werden konnte. Ging man durch das steinerne Tor, das aus der Schlossmauer gehauen und welches im Ernstfall zusätzlich durch ein Eisengitter gesichert wurde, kam man auf den Innenhof, von dem aus jedes Gebäude betreten werden konnte. Der Innenhof selbst war eine Art Parkanlage mit großen Rasenflächen, auf denen Tierfiguren aus Stein standen, Blumenbeeten und Wege aus hellen Kieselsteinen, die zu kleinen Lauben führten, in denen man an warmen Sommertagen schattig sitzen konnte.
Das Haupthaus erstreckte sich in seiner ganzen Länge parallel zum Eingangsbereich, die beiden anderen Seiten fungierten als Stallungen und Zimmer für die Angestellten, so dass sich die Form eines Rechteckes bildete, wenn man von einem der vier Ecktürme auf den Rest der Anlage schaute.
Es war ein heißer Tag im Sommer des Jahres 1419.
Der Freiherr saß zusammen mit seinen Beratern im grünen Saloon, an einem langen Tisch aus feinem Buchenholz, an dem er seine geschäftigen Gespräche zu führen pflegte. Es wurde über Themen aus der Landwirtschaft und Politik, der Kirche und Gesellschaft sowie der Kunst geredet und seine Berater, fünf an der Zahl, trugen ihm die Neuigkeiten vor.
Gerold, der Berater für landwirtschaftliche Angelegenheiten, begann:
„Die Felder tragen reichlich Frucht, mein Gebieter. All euere Ländereien sind fruchtbar wie lange nicht mehr, wie ihr sicherlich schon gemerkt habt. Euer Volk sieht der Erntezeit, die in einem Monat beginnen soll, voller Vorfreude entgegen. Es sehnt das Ende der Hungerzeit herbei. Nach der Volkszählung leben so viele arbeitsfähige Männer in eurem Herrschaftsgebiet, dass sie nach einem Monat kontinuierlicher Arbeit die Ernte eingebracht haben werden. Das bedeutet, dass nach Abrechnung ihrer Anteile die Kapazität unserer Lagerhäuser ausgeschöpft sein wird. Es bleibt ein Teil von 500 kg Korn übrig, welches als Investition in die Kirche verwendet werden könnte. Wollen euer Majestät genauere Zahlen hören?“
„Lass gut sein, Gerold. Mir reicht es zu wissen, dass die Lager nach der Ernte wieder gefüllt sein werden. Doch kümmere du dich darum, dass eine genaue Abrechnung erfolgt. Stelle Zählmeister ein, die die Ernte überwachen und genau Buch führen. Deine Aufgabe wird es sein, all die Bewegungen zwischen den Lagerhäusern zu überwachen und zu koordinieren.“
„Jawohl, euer Majestät!“
„Sprich, Hugold: Wie sehen die Machtverhältnisse im Land aus? Gibt es Neuerungen, die von Belang sind?“ wandte sich von Arenberg an seinen Politikexperten.
„Folgendes habe ich zu berichten: Während der letzten drei Jahre litt der Süden des Landes Hunger, stärker noch, wie es eure Untertanen taten, wie ihr wisst. Sollte sich Ähnliches dieses Jahr wiederholen, so gehen die Adeligen davon aus, dass Aufruhr im Volk entsteht. Sie sichern deshalb vorsorglich ihre Besitztümer durch zusätzliche Söldner ab. Wie ihr wisst, ist unter den Adeligen des Südens auch ihr Cousin Stephan von Arenberg, welcher ebenfalls Maßnahmen ergreifen will, dieses jedoch mangels Finanzen nur schwerfällig bewältigen kann. Er ersucht sie um Unterstützung, mein Gebieter.“
„Stephan, Stephan… schicke einen Boten zu ihm mit der Nachricht, er soll zu meiner Feier nächste Woche erscheinen, damit wir uns über Maßnahmen, die dieses Problem betreffen, austauschen können.“
„Jawohl, Herr!“
„Julius, berichte du nun, was meine Freunde von der Kirche auf dem Herzen haben.“
„Der Abt aus Großkirchen ersucht sie um eine Audienz. Er lässt höflich daran erinnern, dass ihre letzten Ablassbriefe schon einige Zeit zurückliegen und nennt in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, Mittel für den Bau der neuen Kirche zu benötigen. Andernfalls verschiebe sich der Bau des Gotteshauses um eine nicht absehbare Zeit, was nicht gerade zum Vorteil ausgelegt werden könnte.“
„Haben wir nicht überschüssige Nahrungsmittel aus der bevorstehenden Ernte, die wir als Anzahlung leisten könnten, Gerold?“
„Das könnten wir durchaus, Herr. Vorausgesetzt, unser aller Hoffnung auf eine erfolgreiche Ernte wird bestätigt, haben wir eine halbe Tonne Getreide Überschuss. Mit Verkäufen aus der Käseproduktion und Handel mit Wildfleisch sowie dem Übertrag eines Teils eurer Ländereien könnte ein Betrag erreicht werden, der dem ihrer letzten Ablasszahlung entspricht.“
„Bitten auch sie den Abt zu den Feierlichkeiten. Bei Wein und Pasteten lässt sich solch geistiger Handel am besten bewerkstelligen.“
„Ich tue, wie mir befohlen!“
Friedrich von Arenberg dreht sich zu Pierre, der verantwortlich für die Organisation der Feste war.
„Wie viele Gäste sind zu den Feierlichkeiten geladen?“
„Gut fünf Duzend, Herr.“
„Du wirst dich um die Organisation des Festmahls kümmern. Lasse nur das Beste auf den Tisch kommen, wir haben hohen Besuch. Besorge reichlich Fleisch, Pasteten und frischen Fisch. Sorge auch für starkes Bier und diesen vorzügliche französischen Wein, der so reizend mit dem Gaumen spielt!“
„Roten oder weißen?“
„Beides am besten! Und denke auch an das Programm. Ich will einen wahren Rummel veranstalten. Künstler und Gaukler sollen kommen, auch Kupferstecher und Maler, die dieses Fest der Ewigkeit zuteil werden lassen.“
„Wie ihr befielt!“ verneigte sich Pierre.
„Nun zu dir, Phillip. Wie ich hörte, ist das Volk in meinem Herrschaftsgebiet zwar nicht zufrieden, jedoch voller Hoffnung auf eine gute Ernte. Sag, wie schätzt du die zukünftigen Entwicklungen ein?“ fragte der Freiherr seinen Berater für gesellschaftliche Fragen.
„Mein Gebieter, euer Volk litt Hunger. Viele starben, und große Qual bestimmte das Leben euerer Untertanen. Weil der Großteil des Viehs in den Hungerjahren verstarb, wurde ersatzweise oft in euren Wäldern gejagt, um an Fleisch zu kommen. Die Bestände des Rotwilds sind rapide gesunken, große Hirsche sieht man selten. Auch das Wildschwein war beliebt bei den Jägern, ebenso wie Hasen und Karnickel, die jedoch sich schneller von Verlusten erholen als anderes Wild. Was gedenkt euer Majestät zu tun, um den Bestand in seinen Jagdgründen zu sichern?“
„Nur noch wenige Hirsche, sagst du… ich erinnere mich an Zeiten, da ritt ich durch den Wald und sah auf jeder Meile zehn der prächtigsten Hirsche, stolz ihr Geweih und gut ihr Fleisch. Seht an die Wand über dem Kamin, da hängen sie, die Trophäen, die stummen Zeugen meiner Jagd! Und nun sollen keine weiteren mehr hinzukommen… was mache ich, was kann ich tun…“
Friedrich von Arenberg legte die Stirn in Falten und stützte mit seiner linken Hand das Kinn. Nach einer kurzen Zeit des Bedenkens richtete er sich auf und sagte mit ruhiger Stimme:
„Wir werden ein Jagdverbot erlassen müssen.“

In den Zimmern der Mägde lag eine drückende Hitze zur Mittagszeit.
Maria wälzte sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. Sie hatte leichtes Fieber.
Jessica kam zu ihr und legte ihr kühlende Wickel auf die Stirn.
„Wie geht es dir?“ fragte sie besorgt mit Blick auf ihren Bauch, der rundlich gewölbt und straff gespannt war, so dass der Bauchnabel hervortrat.
„Wie spät ist es?“
„Mittagszeit. Ich werde dir etwas zu essen holen. Bleib liegen und ruh dich aus. Du wirst deine Kräfte für die Geburt brauchen.“ Jessica ging zur Küche.
„Für die Geburt brauche ich nicht meine, sondern die Kraft Gottes! Dieser Bastard von Sohn…“ Maria gedachte einige Zeit zurück. Vor gut neun Monaten, als sie gerade neu als Magd im Hause Arenberg aufgenommen worden war, ließ der Sohn des Freiherrn, William, sie in sein Gemach rufen. Sie solle doch etwas für ihn tun. Nur mit einem Nachthemd bekleidet, das lange Haar ungeflochten über den Schultern hängend, war sie dem Gesuch gefolgt und begab sich zu ihm. Als sie zur Tür hinein kam, sah sie ihn auf dem Bett sitzen, fast nackt. Doch er winkte sie zu sich und sie folgte.
Was dann geschah, hatte sie nur noch schemenhaft, wie durch einen Nebel, in Erinnerung. Er forderte sie auf, ihr Nachthemd herunter zu lassen und sich vor ihm hin zu knien. Alles in ihr sträubte sich dagegen, sie wollte schon weglaufen, doch er packte sie am Schopf und hielt sie zurück. Ihrem spitzen Schrei folgte eine Ohrfeige, wie sie sie selten erlebt hatte. Maria fiel aufs Bett und William legte sich über sie. Seinen heißen Atem spürte sie wie Feuer auf ihrem Gesicht, das Gewicht seines Körpers lastete wie Steine voller Scham und Schuld auf ihr. Er zog ihr Nachthemd nach oben und drang in sie ein, bewegte sich erst langsam, dann schneller…
Sie schluchzte auf ihrem Lager im Mägdehaus. Während sie vergewaltigt worden war, hatte sich ein Teil ihres Geistes vom Körper getrennt, der wie von weitem die Schmach mit angesehen, sie aber alsbald wieder verdrängt hatte. Zwar waren nachts oft noch Bilder des Schmerzes in ihr aufgestiegen, doch am nächsten Morgen erinnerte sie sich nicht mehr daran. Sie wollte sich nicht mehr daran erinnern, wollte verdrängen. Doch jetzt, wo sie kurz vor der Geburt des Kindes stand, ergoss sich der Strom der Erinnerung in ihr wie damals Williams Samen.
Jessica kam mit einer Schüssel voll Suppe und einigen Kartoffeln sowie einer Scheibe Brot zurück. Sie setzte sich an Marias Seite, die sich aufsetzte und anfing zu essen.
Ihr Bauch wurde warm von innen, doch war es die Suppe, die sie auf eine solch seltsame Art wärmte? Nein, dies war eine andere Wärme, eine noch nie gespürte Art der Wärme.
Instinktiv fasste sie sich auf den Bauch. Dann sah sie Jessica an.
„Ich glaube, es geht los.“
Es wurde die Amme aus dem Dorf gerufen. Sie war eine ältere kleine Frau mit grauem Haar und kleinen, hervorstechenden Augen. Auf der rechten Armseite hatte sie ein auffälliges Mahl, das sie aber meist unter einem langen Stück Stoff verbarg.
Als sie in das Mägdehaus eintrat, sah sie die Magd schon in den Wehen liegen.
„Das ist sie, Maria heißt sie“ teilte Jessica ihr aufgeregt mit. „Es ist ihre erste Geburt, sie leidet sehr!“
„Das sehe ich.“ sagte die Amme. „Schließlich verzerrt sie ihr Gesicht. Ruhig atmen. Einatmen und jetzt wieder mit Druck ausatmen. Pressen, ja, so ist gut.“
Maria tat, wie ihr geheißen. Sie befolgte die Worte der Amme und versuchte, sich zu entspannen und mit den Wehen auszuatmen. Mittlerweile standen mehrere Mägde um die Gebärende herum und schauten der Geburt zu. Man sah, wie der Kopf eines Kindes aus der Vagina herauskam.
„Weiter pressen, ja, so ist gut“ gab die Amme Anweisung. Sie half jetzt schon mittlerweile 20 Jahre bei Geburten und hatte viele Kinder auf ihren Weg in die Welt begleitet. Sie wusste, dass gerade die erste Geburt äußerst anstrengend für die Mutter war, da der Schmerz neu und ungewohnt heftig war. Doch meistens vergaßen sie ihn, nachdem sie ihr Baby in den Armen hielten.
Doch heute war irgendetwas anders.
„Merkwürdig“ sagte die Amme und runzelte die Stirn. Der Kopf des Babys war draußen, jetzt kam der Körper. Doch wo waren die Arme?
Wenige Minuten später war das Kind geboren.
Man schaute sich entsetzt an, jemand schrie, eine Magd fiel in Ohnmacht, viele kreuzten die Finger vor dem, was sie sahen.
Ein Kind war geboren, ohne Arme, ohne Beine, nur ein Kopf an einem kleinen Körper.
Sekunden Nerven zerreißendes Schweigen.
Dann der Schrei einer Magd: „Dem Teufel ist ein Kind geboren!“

Die Nachricht von der Geburt des Rumpfkindes breitete sich durch das Schloss wie ein Lauffeuer. Der Freiherr wurde benachrichtigt, der daraufhin veranlasste, dass niemand der bei der Geburt anwesend war, frei bleiben durfte. Zehn Mägde, unter ihnen die unter Schock stehende und fiebernde Maria sowie die Hebamme wurden ins Verlies gesteckt.
Der Freiherr rief eine Versammlung seiner Berater ein und ließ nach seinem Sohn rufen.
„Was heute Mittag passierte, ist das Werk des Teufels! Daran besteht kein Zweifel, denn Gott würde nicht ein verkrüppeltes Kind nach seinem Antlitz gebären lassen von einer Frau, die den Gleichen Namen trägt wie die Jungfrau Maria, die Mutter Gottes.“ stellte Hugold, der Politikberater, fest.
Julius knüpfte daran an: „Majestät, wir haben hier das Abbild des Teufels vor uns, unfähig, mit den Händen zu beten oder mit den Füßen die Himmelstreppe zum heiligen Vater emporzusteigen. Sehen wir es uns genauer an, so erkennen wir zweifelsohne, dass diese Kreatur eher einer Schlange gleicht als einem Menschen. Sie könnte sich nur schlängelnd im Staub fortbewegen, ergo sieht man direkt die Gemeinsamkeit zur Schlange aus dem Garten Eden. Herr, ich sage euch, wenn dies ein Zeichen sein soll, dann wäre es zu deuten wie die alte biblische Geschichte. Hätten Adam und Eva damals die Schlange getötet anstatt sich ihrer anzunehmen, so wären sie nicht aus dem Paradies vertrieben worden. Sollten sie sich, Herr, nun entscheiden, sich dieser Kreatur anzunehmen, so stünde euch wohlmöglich der Fall vom Thron bevor. Ich als euer Berater in geistlichen Dingen, rate euch, euch nicht nur von diesem Geschöpf Satans zu trennen, sondern auch den Schuldigen zu finden, der für diese Entwicklung verantwortlich ist!“
Friedrich sah ins Leere. Natürlich war dies ein Kind des Teufels, das stand außer Frage. Doch irgendjemand musste dafür verantwortlich sein, dass sich gerade in seinem Haus der Teufel eingeschlichen hatte. Aus gesicherter Quelle wusste er, dass sein Sohn William die Magd Maria geschwängert hatte, kurz nachdem sie ins Schloss gekommen war. Doch war sein Sohn der Schuldige für diese Höllenbrut? Das konnte nicht sein, nein: dann wäre ja auch er, Friedrich, im Bunde mit dem Teufel, denn schließlich floss sein Blut in Williams Adern. Nein, sein Sohn konnte nicht der Schuldige sein! War es Maria? Sie hatte immer einen unschuldigen, ja verletzbaren Eindruck auf ihn gemacht, so, als hätte sie im Leben niemals etwas Böses getan. Außer vielleicht das eine Mal, wo sie seinen Sohn verführt hatte. Ja, so war es. Nicht William hatte eine Sünde begangen, sondern sie. Würde sie nicht immer so lasziv aus den Augenwinkeln gucken, hätte sie ihren Schmollmund bei sich behalten! Dann würde auch kein Mann in die Versuchung kommen, sich mit ihr einzulassen! Also, wenn William nicht Schuld war, dann war sie es. So musste es sein, denn es gab immer jemanden, der schuldig war. Das Volk würde bald von der Geburt erfahren, es würde Unruhe geben. Man würde sich fragen, wer den Teufel eingeführt habe und, wenn nicht seitens meiner Wenigkeit gehandelt würde, so könnte der Verdacht gar auf das ehrenwerte Haus Arenberg fallen!
Das durfte unter keinen Umständen passieren! Es musste also jemand angeklagt werden, mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Das Volk würde eine Läuterung fordern und, wenn nötig, eine Hinrichtung durch den Henker, auf dem Scheiterhaufen, durch Rädern, im Jutesack im Wasser oder durch Pfählen. Doch halt- er konnte auch nicht die Magd anklagen! Sie war immerhin Mitglied seiner Dienerschaft, hatte sich im Schloss frei bewegen können. Sie war mit den anderen in Kontakt gekommen, hatte das Essen zubereitet und Wein ausgeschenkt. Das könnte bedeuten, dass noch weitere im Schloss vom Teufel befallen sein würden. Hatte er, Friedrich, in letzter Zeit etwas Seltsames beobachtet? War jemand mit einer Auffälligkeit behaftet gewesen? Ihm war nichts aufgefallen, und dem Auge eines Adeligen sollte doch etwas so Auffälliges wie Besessenheit auffallen, da er doch immer nah zur Kirche und bei den göttlichen Kräften stand.
Schließlich sah er in die Runde, seinen Beratern in die Augen.
Auch sein Sohn schaute angespannt zurück. Er hatte in den letzten fünf Minuten die Gesichtszüge seines Vaters studiert und war zu dem Ergebnis gekommen, dass er scharf nach dachte. Die Worte der Berater hatte auch er vernommen. Außer Frage, die Kreatur muss vernichtet werden! Wie konnte er nur der Vater sein? Undenkbar! Nein- der Teufel muss sie zuvor begattet haben! Das Geschöpf der Hölle musste ertränkt werden und die Schuldige ebenfalls ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wusste sein Vater von seinem Schäferstündchen mit Maria? Oh nein, das wäre fatal. Doch sein Vater war ein stets gut informierter Mann über alles, was in und um sein Schloss passierte.
Friedrich räusperte sich: „Ich bin nach reichlicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass dem Kind und einer Frau, die hier ein jeder gut kennt, der Prozess gemacht werden muss.“
Nach einer weiteren Minute Schweigen, sagte er abschließend: „In zwei Tagen werden das Kind und die Hebamme Sofie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Macht einen Anschlag im Dorf, dass ein Prozess stattfinden wird, in dessen Ausführung die Amme ihrem Schicksal zugefügt werden wird, so wahr mir Gott helfe!“


VI.

Über dem Marktplatz Kleinkirchens, auf dem eine größere Menge Menschen beisammen stehen konnte, lag Nebel, der aus allerhand Seitengassen gekrochen kam. Das erste Haus am Platz gehörte dem Freiherrn, ein verklickertes Haus mit drei Stockwerken und einem großen Balkon, von dem aus der gesamte Platz überblickt werden konnte.
In direkter Nähe waren das Podest, worauf die Verhandlungen stattfanden und ein Scheiterhaufen aufgebaut, der hoch gen Himmel ragte.
Einige Kinder aus niederer Klasse spielten an diesem frühen Morgen ihre kindlichen Spiele, in dem sie einander hinterher rannten und sich gegenseitig mit Schwertern aus Holz umbrachten. Noch hörte man vereinzelt Hundegebell aus den Seitengassen, dann auch Schreie von aufgescheuchten Katzen. Ein stehender, brennender Gestank hing über dem Dorf, bestehend aus Unrat wie Kot und Urin, verfaultem Fleisch und dem Blut geschlachteter Tiere, den die Menschen jedoch schon lange nicht mehr in der Intensität wahrnahmen, wie es jemand tat, der ihn das erste Mal einatmete.
Gestern wurde auf Befehl des Freiherrn Ausschläge gemacht, auf denen ein Scheiterhaufen zu erkennen war, das allgemein hin verständliche Symbol dafür, dass eine Hinrichtung stattfinden sollte. Im Volk war natürlich die Frage aufgekommen, wer was verbrochen hatte, worum es bei der Hinrichtung also ging. Dass jemand hingerichtet wurde, war jedem klar, denn die Verhandlungen gingen immer zu Ungunsten des Angeklagten aus.
Man munkelte, es wurde wieder einmal jemand mit dem zweiten Gesicht gefunden oder irgendein Hexer habe beim Ausüben seiner schwarzen Magie nicht aufgepasst. Gerüchte sprossen aus dem Boden wie Unkraut nach einem Regenschauer. Lange schon hatte es keine Hinrichtung mehr im Dorf gegeben, das Bedürfnis der Menschen, an einem solchen Fest als passive Beobachter teilzunehmen, war ebenso groß wie der Durst des Unkrautes auf einem ausgedorrten Feld. Dementsprechend würde es heute ein Gedränge auf dem Marktplatz geben, wie es schon lange nicht mehr der Fall gewesen war.
„Zack, du bist tot!“ rief eines der spielenden Kinder, das mit dem Holzschwert über einem jüngeren Kameraden stand. Dieser stellte sich tot. Sie lachten alle vergnügt, denn auch sie wussten, dass immer dann im Dorf die Hölle los war, wenn jemand zur Hölle geschickt wurde. Sie interessierte es weniger, wer es nun war, als vielmehr, dass es einer war.
Die Morgensonne erhob sich über dem Dorf, Händler stellten ihre Stände am Rand des Platzes auf, denn sie erhofften sich ein gutes Geschäft. Sie würden in den nächsten Stunden, wenn sich der Platz mit Menschen füllte, reichlich Wasser und Bier, Brot und kleine Pasteten und verfaultes Gemüse zum Werfen anbieten und die Menschen würden es kaufen, denn die Sonne brachte Durst, das Warten Hunger und das Gemüse den Spaß. War das Volk auch noch so arm: zu solchen Gelegenheiten gaben sie gerne etwas ihres raren Geldes her.

„Öffnet die Gefängnistüren!“ befahl Friedrich den Wachen, und sie gehorchten. Der Freiherr ging die kalten Treppen des Turmes hinauf zu den Zellen, in denen die Magd mit ihrem Kind und die Amme saßen. Ein kühler Wind schlich an den dicken Mauern vorbei, als er vor der Gittertür halt machte.
„Hört mir zu! Heute ist der Tag gekommen, an dem die Gerechtigkeit unseres Gottes walten wird. Dir, Amme und dem Kind da wird der Prozess gemacht. Nur du, Magd Maria, darfst mit dem Leben davonkommen.“
„Sie ist tot!“ sagte die Amme kühl. „Ihr habt sie nach der Geburt in das kalte, zugige Verlies werfen lassen, wo sie doch unter Fieber litt und von der Geburt geschwächt war. Nun ist sie dahingegangen und ihr, Freiherr, sollt verflucht sein dafür!“
„Wage es nicht, mich zu verfluchen!“ wandte sich Friedrich von ihr ab. „Hexe! Dafür wirst du brennen! Wache! Holt sie aus ihrem Verlies und bindet sie auf einen Fuhrwagen, damit sie zum Marktplatz gebracht werden kann.“
Die Wachen taten, wie ihnen befohlen wurde. Sie banden Sofie auf einen Fuhrwagen und legten das sich kaum noch bewegende Kind neben sie. Rechts und links vom Wagen sollten Geistliche mit Kreuzen gehen, damit der Teufel nicht aufs Volk überspringen konnte.
Friedrich ritt vor zum Marktplatz, um auf dem Balkon seines Hauses den Prozess verfolgen zu können.

Das Volk hatte sich mittlerweile auf dem Marktplatz eingefunden und wartete gespannt darauf, dass die Angeklagte oder der Angeklagte in der Gasse, die sie gebildet hatten, erscheinen würde.
Doch zuvor preschte Friedrich mit seinem Rappen durch die Menge. Ein Kind, das auf den Weg gestolpert war, wäre beinahe unter die Hufe gekommen, wenn nicht ein beherzter Mann schnell reagiert und das Kind zurückgezogen hätte.
Friedrich hatte dies nur marginal zur Kenntnis genommen und ritt unverdrossen weiter.
Er war nur froh, dass bald der ganze Zauber vorbei sein sollte. Sein Pferd gab er einem seiner Bediensteten, dann ging er die Treppen seines Hauses empor zum Balkon, von dem aus er eine Menschenmasse sah, die ihn an einen Ameisenhaufen erinnerte.
„Bald wird der ganze Fluch vorbei sein und das Volk wird sich köstlich amüsiert haben!“ dachte er und ließ sich in seinen gepolsterten Stuhl fallen.

Michel, Maren und Felix waren wie jeden Morgen früh aufgestanden, doch heute sollte ein Tag sein, wie er nicht alle Tage in Kleinkirchen war. Eine Hinrichtung fand statt, und das gesamte Dorf sprach von nichts anderen mehr.
Sie hatten schnell ihren Griesbrei gefrühstückt und waren dann ins Dorf gegangen, hin zum Marktplatz, der sich mehr und mehr füllte. Einen Platz in der ersten Reihe war zwar nicht mehr zu haben, doch entlang der Gasse, wo die zu verurteilende Person durchmusste, waren noch Lücken frei.
„Können wir uns faules Gemüse holen“ fragte Felix seinen Vater.
„Hör mir mal zu, mein Junge. Heute wird ein Mensch sterben, der wahrscheinlich vom Teufel besessen ist. Er hat seine Zeit auf Erden hinter sich, doch er soll die letzten Minuten seines Lebens nicht noch zusätzlich gepeinigt werden, wenngleich viele Menschen der Ansicht sind, es müsse so sein. Wir halten uns zurück und schauen, was passieren wird.“
Felix nickte und schaute dann zu Boden.
Es wurde unruhig. Man hörte Hufschläge.
Felix drängte nach vorne. Er wollte sehen, was vor sich ging.
Er drückte sich an den größeren Männern vor ihm vorbei, stolperte auf den Weg und fiel hin.
Er sah nur noch ein schwarzes Pferd schnell auf sich zukommen, bevor ihn im letzten Moment eine Hand zurückzog.
„Pass doch auf, Junge!“ rief ein älterer Mann.
Felix sah zu ihm hinauf, realisierte, dass dieser Mann ihm wohl vor Verletzung bewahrt hatte. „Danke“ stammelte er und ging bedröppelt zu seinem Vater zurück.
„Da hinten, da kommt der Fuhrwagen!“ riefen die Leute aufgeregt und Michel nahm seinen Sohn auf die Schulter, damit er besser sehen konnte und wenig später flogen die ersten Salatköpfe und Kartoffeln.
„Es ist Sofie, die Amme!“ schrieen die Massen.

Man brachte sie auf das Podest und band sie hier oben fest.
Friedrich sah von oben, wie dort unten das Volk verstummte und gebannt auf das Podest starrte.
Sofie war die Angst ins Gesicht geschrieben. Sie spürte die hasserfüllten Blicke der Menschen, die das verkrüppelte Baby gesehen hatten und wusste, dass dies ihre letzten Lebensminuten sein würden.
Der Richter begann:
„Sofie, du wirst angeklagt, mit dem Teufel im Bund zu stehen. Deine Verfehlung liegt zu deinen Füßen. Diesem Kind hast du ein Leben verweigert, in dem du es verhext hast. Da dieses Kind das einer Magd des Freiherrn war, wirst du angeklagt, sein Eigentum verhext zu haben. Entweder hast du einen Fluch über das Kind ausgesprochen oder jemand hat deine Hände verflucht, so dass du ihn bei der Geburt übertragen hast. Gestehe, und dir wird ein schneller Tod auf dem Scheiterhaufen zuteil! Leugne, und du wirst Läuterung erfahren!“
Sofie ging in sich. Sie war doch immer gottestreu gewesen, hatte immerhin nicht mehr gesündigt, als alle anderen. In ihr war der Satan nicht, das wusste sie, sonst hätte sie doch etwas spüren müssen. Und ein anderer hatte sie doch nicht verflucht, warum denn auch? Immer war sie fürsorglich gewesen, immer hatte sie ihre Hilfe angeboten, wo sie nur konnte. Sie blickte auf. Tausend Augen starrten sie an, bohrten sich durch sie hindurch, brandmarkten sie als Schuldige. Immer wieder flogen Stücke verfaulten Gemüses ihr gegen das Gesicht, so dass sie den Kopf zum Schutz senkte.
„Seht, sie senkt den Kopf vor lauter Schuld!“ rief jemand aus der Menge.
„Wir erwarten deine Entscheidung, Sofie. Gibst du deine Tat zu oder leugnest du weiterhin?“
Sofie brach in Tränen aus. Sie würde sterben, das wusste sie, daran bestand kein Zweifel. Oft hatte sie Hinrichtungen verfolgt und gesehen, unter welchen Qualen die Angeklagten bei der Läuterung gestanden. Es wurden Nasen und Ohren abgeschnitten, Stöckchen unter die Nägel von Hand und Fuß gestoßen, glühend heißes Eisen auf die Brust gepresst, die Augen mit stumpfen Gegenständen herausgekratzt oder Jauche gleich kübelweise durch Trichter in den Magen geschüttet. Was war gegen diese Schmerzen ein Tod im Feuer des Scheiterhaufens?
„Gestehe oder erfahre Läuterung!“ schrie der Henker.
„Ich gestehe…“ kam fast lautlos aus ihrem Mund. Dann sank sie kraftlos zusammen.

Nach dem Geständnis ging alles sehr schnell. Die als Hexe überführte Hebamme, schuldig, ein Kind der Hölle durch einen Zauber oder Fluch, das wusste man nicht genau, aus dem Bauch der Magd herausgeholt zu haben, die an den Folgen dieser Verhexung wahrscheinlich krepierte, wurde zum Scheiterhaufen getragen, an einen Pfahl gebunden und noch kurze Zeit der Öffentlichkeit zur Schau gestellt.
Ein Henker zündete das Stroh an, woraufhin er von der Menge ausgebuht wurde, was ein Henker immer wurde, sei er am Scheiterhaufen, am Tränkkäfig oder mit dem Schwert aktiv.
Als die Flammen immer höher am Holz und immer dichter an Sofies Haut leckten, fing sie an zu schreien.
Man deutete dies als zusätzlichen Beweis, dass sie mit dem Teufel unter einer Haut stecke, denn eine gläubige Christin würde ihre letzten Sekunden im stillschweigenden Gebet bei Gott verbringen und ihn um den Erlass der Schuld anflehen, da war man sich einig. Die Hexe jedoch schrie aus vollem Leibe, um die Qual zu personifizieren, die Sündern in der Hölle erwartete. Das war jedem klar.
Nachdem die Schreie aufgehört und die Flammen ihren Höhepunkt erreicht hatten, breitete sich ein Geruch von Fleisch, der an Hammelfleisch erinnerte. Dicker Qualm quoll in der Luft und langsam löste sich der Pulk auf, denn, wie jeder sehen konnte, hatte die Hexe ihre gerechte Strafe erfahren und war in die Hölle zurückgeschickt worden.

Friedrich von Arenberg hatte das Spektakel von seinem Balkon aus verfolgt. Einerseits war er froh, dass der Spuk nun ein Ende hatte, andererseits war er immer angeekelt von der Art, wie er beendet wurde. Der Geruch von verbrennendem Menschenfleisch erinnerte ihn doch zu sehr an das, was er allzu oft auf seinen Festen serviert bekam. Die Assoziation war im zuwider und er verdrängte sie schnell. Er ließ sein Pferd satteln und ritt schnell Richtung Schloss.
In dieser Nacht schlief er besonders schlecht.
Immer wieder hatte er das Bild der brennenden Hexe vor seinen Augen, die aus der Asche aufstieg und nach ihm griff, so, als wolle sie ihn mit hinunter ziehen, dahin, wo die Schattenwesen ihr Dasein fristeten. Er lief durch einen dunklen Wald, versteckte sich hinter knarrenden Bäumen, war panisch vor Angst. Doch immer, wenn er sich gerade halbwegs in Sicherheit wähnte, zerfielen die Bäume zu Asche und machten den Weg frei für das Flammenwesen, das ihn verfolgte, hetzte und jagte wie Wild. Er rannte, immer schneller, immer weiter, doch nie schnell und weit genug, um den Verfolger abzuschütteln. Knochige Hände griffen aus dem morastigen Waldboden und umfassten seine Knöchel, hielten ihn fest und zogen ihn unter die Erde, wo er das Gefühl hatte, durch ein Loch tief ins Innere zu fallen. Raue Stimmen krächzten um ihn herum, als lachten sie ihn in seiner Not aus. Als er dann nach unten schaute, sah er die Toten sich erheben, die er all die Jahre wegen Zauberei und Umgang mit schwarzen Mächten hat verbrennen, ertränken, köpfen lassen. Sie griffen nach ihm, doch, kurz bevor er am Boden aufkam, wachte er auf.
Seine Stirn glühte und Schweiß rann über seinen ganzen Körper. Er schluckte. Es war nur ein Traum.
Er stand auf, kniete nieder und betete zehn Vater Unser gen Himmel.


VII.

Die Gerüchte um kriegerische Auseinandersetzungen zwischen plündernden Meuten halb verhungerter Bauernverbände und den Soldaten und Söldnern der Adeligen im Süden, schwappten mehr und mehr nach Norden über, bis sich auch Kleinkirchen erreichten.
Wenn der Krieg im Süden bliebe und die Keimzellen dort erstickt würden, bräuchte Friedrich sich keine Gedanken um sein Hab und Gut machen, doch wie es aussah, erwiesen sich die ausgehungerten Horden zäher, ausdauernder und unbarmherziger als angenommen.
Er hielt den Brief seines Cousins in den Händen und grübelte nach, wägte zwischen den Möglichkeiten, die er hatte, ab.
Einerseits konnte er seinem Cousin Stephan die erbetenden Hilfen in Form von Soldaten nicht vorenthalten. Schließlich war er es gewesen, der ihm damals, vor rund 10 Jahren, zu seinen Ländereien und seinem Reichtum hier in Kleinkirchen und Umgebung verholfen hatte, indem er Friedrichs älteren Bruder, Christian, durch das Arrangieren eines Meuchelmordes aus dem Weg geschafft und ihm dadurch den Weg auf den Thron geebnet hatte.
Damals hatte sein Vater, selig, eine ausgedehnte Suche nach dem Mörder begonnen, hatte Belohnungen ausgesetzt, die dem Jahreseinkommen einer kleinbürgerlichen Familie gleichkam. Doch niemand hatte den Mörder in den eigenen Reihen vermutet, und so war Stephan es gewesen, der im damals geholfen hatte.
Zwar hatte Friedrich sich immer mal wieder erkenntlich gezeigt und Stephan einige seiner Mägde für persönliche Bedürfnisse verliehen, doch nun brauchte er wirklich Hilfe und die konnte er ihm nicht verweigern, andernfalls würde dies einem Bruch der Treue gleichkommen.
Doch was sollte er tun? Sollte er ihn unterstützen durch Zahlung von Gold für die Söldner, Lebensmittel für die Truppen oder Soldaten zur Verstärkung der eigenen Hundertschaften?
Friedrich ließ nach Hugold rufen.
„Mein Gebieter, was liegt euch am Herzen?“ fragte Hugold schmeichelnd, als er durch die hohe Tür in den Saloon eintrat.
„Setz dich, Vertrauter und sage mir an, wie ich meinen Cousin Unterstützung zukommen lassen kann? Meint ihr, Geld, Nahrung oder Truppen seien dafür am besten geeignet?“
Gerold dachte kurz nach. Dann sagte er: „Ihr solltet eine Mischung aus allen Bereichen wählen, Herr. Seht: lasst ihm 1000 Goldstücke zukommen, damit er seine Soldaten ausrüsten kann. Gebt ihm 1000 kg Mehl mit, damit sie keinen Hunger leiden müssen und ergänzt dies alles durch eine Hundertschaft eurer Soldaten, die gelehrt sind im Kampf um Leben und Tod und die Erfahrung mitbringen, von der die Soldaten ihres Cousins nur profitieren können.“
„Wohl wahr, eine gute Abwägung. Richtet alles her, Morgen beginnt das Fest, dann werde ich meinem Cousin meine Unterstützung zukommen lassen.“

Schon früh morgens begannen die Vorbereitungen für das Fest, das an diesem Abend stattfinden sollte.
Pierre, der für die Organisation und Koordination zuständig war, eilte durch das Schloss zur Küche.
„Sind die Gewürze eingetroffen?“ fragte er den Küchenchef.
„Noch nicht, wir erwarten sie im Laufe des Vormittages.“
„Leben wir noch im Mittelalter? Ein Skandal ist das! Die waren für gestern bestellt worden. Zustände sind das, nein, nein, nein! Wie weit seid ihr mit den Wildfleischpasteten? Sind die 100 schon vorbereitet?“
„Ja, bis auf die Würze.“
„Und habt ihr auch den Wein besorgen können, wie ich euch auftrug?“
„Der Wein ist da und bereit, ausgeschenkt zu werden.“
„Na, immerhin etwas. Gebt Meldung, wenn die Gewürze angekommen sind.“
Pierre wandte sich um und verließ die Küche Richtung Großer Saal. Hier sollten sich die Künstler vorstellen, die für den heutigen Abend arrangiert werden sollten.
Im Saal angekommen, warteten bereits etwa 150 von ihnen auf ihn, und er sollte sie auf ihre Tauglichkeit hin prüfen.
„Ok, alle mal herhören!“ rief Pierre. „Wir brauchen für heute Abend 20 junge Tänzerinnen, 10 Musiker, 10 Gaukler, vier Feuerspucker, vier Narren, sechs Akrobaten, jeweils zwei Kupferstecher und Maler und eine Schauspieltruppe, die bewandert sind in ihrem Fach! Vortreten, schneller, los. Die Zeit eilt!“
Nachdem er die Künstlertruppe für den Abend zusammengestellt hatte, musste er sich um die Dekoration des Festsaales kümmern. Es war bereits früher Nachmittag und das Fest sollte in gut fünf Stunden beginnen.

William war außer sich vor Zorn. Gerade wollte er in den Stall gehen, sein Pferd Amadeus satteln und mit ihm durch die Wälder preschen, Füchse jagen und danach, wie es im belieben sollte, durch die Dörfer reiten, an dem ein oder anderen Haus halt machen und sich mit einigen seiner Gespielinnen vergnügen. Das wäre der perfekte Einklang für ihn gewesen, bevor das Fest heute Abend beginnen und bis tief in die Nacht andauern würde.
Doch das konnte er jetzt vergessen. Sein Pferd lag mit Koliken im Heu und wurde gepflegt und es bestand keine Hoffnung, dass es in nächster Zeit gesunden würde.
Was war in letzter Zeit los? War er mit einem Fluch belegt worden, hatte ihn die Amme verhext? Seit ihrem Tod war nun einige Zeit vergangen und mit dem Tod brachen auch alle Flüche und Banne. Zu den Mägden ins Haus aber traute er sich immer noch nicht zu gehen- sicher ist sicher.
Er ging zu den Küchen, wo er Pierre hektisch rumlaufen und sich um das Mahl kümmern sah. Pierres weiche, flatterige Art war ihm zuwider, er führte sich auf wie ein Mädchen in Männerkleidung. Das sollte ein Mann sein? Pah! Niemals! Eher ein Männlein, das einem Gockel glich. Er musste schmunzeln über diese Vorstellung. Sollte er irgendwann den Thron besteigen, das war klar, dann würde er den Gockel dahin schicken, wo der Pfeffer wächst! Oder ihn mit ein paar richtig üblen Typen aus der Stadt in eine dunkle Gasse stecken. Zuvor aber würde er ihm ins Essen pinkeln, dachte er sich, während er sein Geschlechtsteil kratzte und ausspuckte. Dann machte er sich auf zu den Fässern, in denen das Starkbier wartete, getrunken zu werden. Er füllte sich einen großen Krug, trank schnell aus und machte sich auf den Weg in seine Gemächer. Er würde noch ein wenig ruhen, bevor es heute Abend zur Sache ging. Die Feste seines Vaters hatten nämlich den Ruf, lang und feucht- fröhlich zu sein.

Ein lauer Sommerabend legte sich über das Land, während die Grillen ihr Lied zirpten. Die Straße zum Schloss Arenberg fuhren mehrere Gespanne her, die edle Kutschen zogen. Die hohe Gesellschaft fuhr zum Fest, das heute veranstaltet werden sollte und, wie man hörte, pompös werden wie lang nicht mehr.
Die Bretter der Hängebrücke klapperten, als die Kutschen darüber fuhren und im Innenhof der Schlossanlage zum Stillstand kamen. Knappen kümmerten sich um die Pferde, führten sie in die Ställe, wo sie ihnen Hafer und Wasser gaben.
Die Damen und Herrschaften wurden von Dienern durch die große Vorhalle geführt, wo Gemälde der Familie Arenberg zu sehen waren und allerhand Ritterrüstungen standen, die wohl schon mehr als hundert Jahre alt waren. An den Wänden hingen Schwerter und Köpfe von Wildschweinen, Geweihe von Hirschen und Felle von Füchsen.
Als sie in den Festsaal traten, wussten sie, warum dies ein ganz besonderes Fest werden sollte. Auch hier waren die Wände reich verziert. Fackeln leuchteten den Raum hell aus und dufteten nach Blumen und exotischen Gerüchen. Bunte Tücher in den Farben Rot, Gelb, Blau und Grün zierten den Stein der Wände, viele Wappen des Freiherrn erstrahlten in hellen Farben. Auf der Festtafel war eine Decke gebreitet, die gestickte Ornamente schmückten. Kerzenleuchter brachten eine besondere Atmosphäre.
Die Gäste setzten sich an den Tisch. Vor Kopf saß der Freiherr, gleich neben ihm sein Cousin Stephan, der extra aus Niederfurt angereist war und der Abt aus Großkirchen, ein Mann von Ehre.
Zur Unterhaltung hatte der Gastgeber viele Künstler eingeladen, die mit ihren Präsentationen der Reihe nach die Gäste unterhielten. Den Anfang machten Akrobaten, die auf einem kleinen Podest ihre Verrenkungen vorführten.
„Es freut mich, dass es dir gelungen ist, lieber Cousin, die lange Reise unbeschadet zu überstehen. Man erzählt sich, dass die Wege unsicher geworden seien, nachdem der Hunger in deinem Reich anhält.“ fing Friedrich an zu erzählen.
„Wohlwahr, schlimme Zeiten suchen mein Land heim. Plündernde Gruppen ausgehungerter Bauern ziehen umher und sind zu Gesetzlosen geworden. Sie lauern in Hinterhalten reisenden Händlern auf, überfallen sie und rauben ihnen alles, was sie haben. Auch einige meiner Aufträge, unter anderem eine große Ladung Wein aus Frankreich, haben sie abgefangen.“
„Zu deiner Zufriedenheit kann ich dir sagen, dass du heute Abend soviel Wein aus Frankreich trinken kannst, wie es dir beliebt. Ich ließ roten und weißen Wein bestellen.“
Friedrich winkte seinen Dienern ein Zeichen zu, woraufhin diese begannen, den Wein an die Gäste auszuschenken. Allgemeine Freude war bei den Anwesenden zu erkennen, denn nicht jeden Tag war es ihnen vergönnt, eine solche Spezialität zu verköstigen.
„Auch sie lade ich ein, heute zu schlemmen wie Gott in Frankreich- und ich hoffe, dies war keine Beleidigung“ begrüßte er mit einem Lächeln den Abt von Großkirchen, der seiner Aufforderung nur zu gerne nachkam. Ihnen wurde eingeschenkt und Friedrich sprach weiter:
„Sicherlich hörtet auch ihr von den Missständen, die im Süden vorherrschen, werter Abt.“
„Diese Nachricht entging wohl keinem von uns. Gottloses Volk, Barbaren sind das, die für ihre Sünden büßen werden. Zu hoffen bleibt, dass sich die Seuche nicht über das gesamte Land ausweitet, das wäre schrecklich!“ meinte der Abt.
„Um dies zu verhindern, erbete ich um Unterstützung, mein Cousin. Wie du den Abt sagen hast hören, ist zu hoffen, dass wir den Aufstand mit Gottes Hilfe niederschlagen können und du, mein Cousin, könntest einen großen Anteil am Sieg haben, wenn du mir deine Unterstützung zusicherst, wie ich dich erst kürzlich in meinem Schreiben gebeten habe.“
„Sei dir sicher, Freund, dass dein Cousin nicht tatenlos zusehen wird, wie die Ländereien meines Helfers aus vergangenen Tagen in der Gegenwart zugrunde gehen. Uns ist ein Gedächtnis gegeben, das sich an Gutes, das mir getan wurde, erinnert. Niemals kann ich deine Hilfe vergessen und immer werde ich dir helfen, wenn du es nötig hast.“
Stephan hörte mit zufriedenem Gesichtsausdruck zu.
„Im Folgenden werde ich dir sagen, wie ich dich unterstützen werde, höre: Mit meinem Berater bin ich übereingekommen, dass wir dich auf dreierlei weise unterstützen. Erstens sollst du 1000 Goldstücke erhalten, um die Kriegskassen zu füllen. Damit wirst du deine Söldner bezahlen und deine Truppen ausrüsten können. Außerdem bekommst du 1000 kg Mehl, damit keiner deiner Leute Hunger leiden muss. Schließlich noch werde ich dir eine Hundertschaft meiner Männer beiseite stellen, die dir treu ergeben und einen Leuten lehrreich und hilfreich im Kampf sein werden. So hast du weder Geldmangel zu leiden, noch dich um Nahrung in nächster Zeit zu kümmern, noch zu fürchten, nicht all deine Besitztümer mit genügend Männern sichern zu können.“
„Das wird mir weiterhelfen. Habt dank für alles!“
Friedrich nickte.
„Aber auch ich habe dir Geschenke mitgebracht, die deine Aufmerksamkeit erregen und meinen Dank zeigen werden. Siehe, zehn meiner besten Pferde brachte ich dir mit, denn du weißt, meine Pferde waren immer schon die größten Tiere mit starken Läufen und gewaltiger Ausdauer. Sie werden dir hier viel Freude bereiten, da bin ich sicher. Des Weiteren möchte ich, dass du dieses Geschenk genauer betrachtest.“
Stephan hob die Hand und ein Diener brachte fünf junge Frauen in den Saal, die sich unweit der drei aufstellten.
„Sie sind wahre Schönheiten und treue Ergebene. Vielseitig einsetzbar, in Haushalt, Küche und Stall und, wenn es dir beliebt, auch in deinen Privatgemächern.“
Friedrich musterte die Mägde.
„Wer ist diese blonde da? Sie sieht engelhaft aus, findet ihr nicht, Abt?“
Die Augen des Abtes waren offen und hocherfreut über einen so reizenden Anblick. Er stimmte Friedrich wortlos zu.
„Dies ist die Tüchtigste von allen. Sie versteht es, wunderbare Speisen zuzubereiten, kann durchaus anpacken bei der Reinigung und hat das Talent, Tieren bei der Geburt zu helfen. Bei mir hatte sie die Funktion einer Amme für Pferde, welche sie mit Bravour vollzog. Ihr Name ist Sally. Bereits ihre Mutter arbeitete in meinen Diensten, vorzüglich kann ich nur sagen. Als Dank schenkte ich ihr einst eine kleine Kette, die sie immerfort zu tragen pflegte. Jetzt hat sie ihre Tochter um, schau, wie sie ihren schlanken Hals betont.“
„Stephan, du hast mir wahrlich nützliche und schöne Geschenke gemacht. Ich danke dir dafür.“ Friedrich gab seinen Dienern ein Handzeichen, der daraufhin die Mägde wieder aus dem Saal führte.
Mittlerweile erregten Feuerspucker und Jongleure das Aufsehen der Festgesellschaft. In ungeheurer Schnelle wirbelten die bunten Bälle durch die Luft, andere balancierten geschickt Teller auf Stöcken und Feuerbälle quollen durch die Luft, bevor sie zerstoben. Es war ein buntes Treiben und die Zuschauer applaudierten begeistert.
„Wie ich hörte“ fing der Abt an „habt ihr vor einiger Zeit einer Amme den Teufel ausgetrieben. Sie soll lichterloh auf dem Scheiterhaufen gebrannt und geschrieen haben, wie der Teufel höchst persönlich. Sagt, habt ihr euch Gedanken gemacht, wie der Teufel in eure Wirkenskreise eindringen konnte.“
Friedrich erschrak. Verdammt. Das hatte er schon wieder verdrängt. Zu schlimm waren die nächtlichen Bilder im Traum gewesen.
„Jetzt, wo ihr es sagt, Abt. Ich habe mich entschlossen, der Mutter Kirche eine nicht geringe Spende zum Bau der neuen Kirche in Großkirchen zukommen zu lassen. Es handelt sich dabei um Goldspenden und Landgeschenke, außerdem eine halbe Tonne Mehl nach der Ernte. Wie ihr wisst, tue ich das in dem guten Glauben, dass ihr euch um meine geistlichen Angelegenheiten kümmert und die Ablassbriefe anfertigt.“
„Das wird sich alles arrangieren lassen, Mylord.“
„Sagt, was habt ihr euch für eine Kirche ausgedacht?“
„Sie soll größer werden als jede Kirche, die jemals in Großkirchen gebaut wurde. Sie soll ein Zeichen sein, das Gott gefällt, zu einem Wallfahrtsort werden, den Pilger schätzen. Und natürlich wird ihr Name dabei mit im Grundstein graviert sein, so dass der Bau auf eurem Fundament steht.“
Das gefiel Friedrich. So etwas hatte er sich vorgestellt.
Mittlerweile wurden die Tänzerinnen in den Saal gelassen, die in ihren luftigen bunten Tüchern zur Musik der Musiker ihre Hüften kreisen ließen. Wahrlich, obwohl Pierre nicht derjenige war, was man das Inbild eines Mannes nennen konnte, so hatte er doch einen guten Geschmack, was Frauen betraf, dachte Friedrich.
Sie schauten dem Tanzspiel zu, steckten die Köpfe zusammen, lachten ausgelassen, tranken Wein in rauen Mengen.
„Sagt an, Abt. Wie haltet ihr es mit der Religion?“ fragte Friedrich seinen Nachbarn.
„Ihr seit den weltlichen Genüssen keinesfalls abgeneigt.“
„Gott gibt und Gott nimmt, so war es und ist es und wird es auch immer bleiben. Das rechte Maß ist wichtig. Ich bete lange Nächte, faste zweimal die Woche, weder lüge noch betrüge ich. Ich bin Gottes Vertreter auf Erden und weiß nur zu wohl, was in welchem Maße richtig ist.“
„Ich fragte nur aus Interesse, denn jetzt wird das Festmahl aufgetragen.“
Diener brachten Pasteten, Hirsch-, Kaninchen- und Wildschweinbraten, gerösteten Speck, getoastetes Brot, braun gebratene Forelle, Früchte, Kartoffeln in feinen Kräutern, gebratene Eier und vieles mehr dergleichen.
William trat zur Festrunde und setzte sich gleich neben den Cousin seines Vaters.
„Lasst es euch schmecken, meine Freunde!“ eröffnete der Freiherr das Essen.

Nachdem reichlich gegessen und noch mehr getrunken wurde, wurde ein Theaterstück aufgeführt. Die Zuschauer waren angetan von dem, was sie sahen, denn es zeigte meist wohlhabende Leute, die in Saus und Braus lebten, ihr Leben genossen und ärmere Menschen, die immer wieder in Fettnäpfchen traten. Das amüsierte die Herren und Damen, denn es war das Leben in seiner Perfektion, wie sie es sich vorstellten.
Keiner der Schauspieler hätte es gewagt, ein Stück aufzuführen, wie sie es in den Dörfern taten. Da nämlich waren die Reichen immer die Deppen.
Nach dem Spiel wurde weiter getrunken und schließlich erhob Stephan das Wort: „Sag mal, William, weißt du, dein Opa, der war ein guter Mann, aber er war ein Herrscher und dein Vater nicht, das weißt du noch. Bald ist es 11 Jahre her, als er umgebracht wurde, erinnerst du dich?“
William nickte. „Ja, und?“
„Ich habe vor, den Bauernaufstand niederzuschlagen, das weißt du, nicht?
„Ja.“
„Es wird passieren, wie damals bei deinem Opa. Der Anführer wird ermeuchelt werden, hahaha, dann ist alles vorbei und wir Sieger!“
„Das ist eine weise Idee. Tut das, ihr werdet bestimmt Erfolg haben. Aber jetzt zu anderen Themen“ sagte Friedrich, der seinen betrunkenen Cousin die lockere Zunge auf andere Themen leiten wollte.
Das Fest reichte bis tief in die Nacht und alle waren sehr betrunken, als sie in die Gemächer des Schlosses geführt wurden.
Einzig William war noch wach. Er saß auf einem Balkon und schaute zu den Sternen, während er einen Krug Wein leerte. Seine Gedanken kreisten wild und kühn, jetzt, wo der Alkohol die Hemmschwelle senkte, die bei ihm sowieso auf Bodenhöhe lag.
Was wäre wohl, wenn er, William, eines Tages solche Feste und Bankette feiern könnte, all das Vermögen besäße, das jetzt noch sein Vater eigen nannt? Er sann noch einige Zeit seinen Gedanken nach und ging dann durch die große Halle zu seinen Gemächern. Auf dem Weg schaute er die Bilder an der Wand an. Vor dem seines Großvaters blieb er stehen. William war damals 12 Jahre alt gewesen, als er ermordet wurde und sein Vater die Herrschaft übernahm. Der Mörder war nie gefunden worden, doch er erinnerte sich an die Worte Stephans, die dieser im Vollrausch gelallt hatte.
Plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Blitz. „Meuchelmord?“
Er fasste sich in den Nacken, blickte in die Augen seines Großvaters.
„Er war ermordet worden, genau wie der Anführer des Aufstandes ermordet werden sollte. Nein! Das kann nicht… oder doch?“
Der Zweifel wich einer wachsenden Gewissheit.
Der Großvater, den er so geliebt hatte, war ermordet worden. Von seinem Sohn und dessen Cousin. Von Friedrich und Stephan!


VIII.

Das Fest vor einiger Zeit hatte Friedrich mehrere hundert Goldstücke gekostet. Dafür hatte er zufriedene Gäste nach Hause fahren sehen und, was ihn erfreute, einige neue Pferde und die Mägde bekommen.
Sally, die blonde Schönheit, hatte sich bereits bewährt. Sie war so tüchtig, wie man ihm gesagt hatte. Sie lebte sich schnell ein und machte ihre Aufgaben ordentlich und zufrieden stellend.
Er schickte Sally mit den Pferden zum Schmied, denn sie mussten neu beschlagen werden. Er gab ihr 50 Silberlinge mit, außerdem eine Keule feinen Schinken und einen großen Käse. Der Schmied wollte immer teils bar, teils in Nahrung bezahlt werden, und da er immer gute Dienste leistete, war das kein Problem.

Als sie mit den Pferden und dem Lohn beim Schmied ankam, war dieser gerade dabei, einige Schwerter zu schmieden.
„Hallo Schmied!“ sagte sie lächelnd. „Ich komme vom Freiherrn und trage euch von ihm auf, diese Pferde zu beschlagen.
Der Schmied hörte auf zu schmieden und trat vor.
„Schöne Magd, sagt, seit ihr neu? Ich habe euch noch nie gesehen.“
„Ich komme ursprünglich aus Niederfurt, doch seit gut zwei Wochen bin ich in den Diensten des Freiherrn.“
„Schöne Tiere habt ihr da. Es wird eine Weile dauern, bis sie beschlagen sind, doch ich fange gleich an, nachdem die Schwerter fertig sind. Wartet doch dort vorne, meine Frau wird euch Wasser gegen den Durst bringen.“
Sally wartete, bis der Schmied mit seiner Arbeit fertig war.
Sie gab ihm den Lohn und sagte: „Habt Dank. Der Freiherr lässt euch seine Zufriedenheit ausrichten.“ Dann ging sie, doch stolperte, als eines der Pferde plötzlich losrennen wollte. Sie fiel hin, und der Schmied eilte zu Hilfe.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, mir geht es gut, danke.“ Sagte sie und ging mit anmutigen Schritten heimwärts.
Dass sie eine kleine Kette verloren hatte, merkte sie nicht.
„Wer war das denn eben?“ fragte Josef, der aus dem Haus kam.
„Eine neue Magd in Diensten des Freiherrn.“
„Wow…!“ war das einzige, was er sagen konnte. Eine solch schöne Frau hatte er noch nie gesehen.

William hatte nachgedacht und war zu einem Entschluss gekommen. Sein Vater sollte für seine Tat büßen, die er vor knapp elf Jahren begangen hatte.
Er war mit seinem Pferd Amadeus in den Wald geritten, zu einer alten Frau, die allgemein gemieden wurde, da sie unter dem Verdacht stand, schwarze Magie zu betreiben. Auch William war mulmig zumute, als er zu ihr geritten war. Doch, wie man hörte, hatte sie Erfahrung im Mischen von allerlei Tränken. Er wollte einen davon haben, der langsam wirkte. Ein Gift.
In nächster Zeit mischte er immer wieder etwas unter das Essen, das sein Vater bekam. Dieser bemerkte anfangs nichts, doch gerade, als die Erntezeit angebrochen war, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Er lag mit üblen Magenschmerzen in seinen Gemächern.
„Herr“ sagte Gerold, der ihm Bericht erstattete. „Die Bauern haben begonnen, die Ernte einzuholen. Es sieht gut aus und ich hoffe, die Nachricht wird euren Gesundheitszustand verbessern.“
„Gerold, sorge dafür, dass die Ernte rechtzeitig eingeholt wird, besser früher als zu spät. Du weißt, ich muss die Spende noch an den Abt zahlen, bevor es mit mir zu Grunde geht. Ordne alles an, damit es schneller geht.“

Sally machte sich gegen Abend auf, ihre Kette zu suchen. Sie musste sie vor einigen Tagen verloren haben und sie hatte schon das ganze Schloss nach ihr abgesucht. Dann war ihr eingefallen, dass sie beim Schmied gestürzt war. Sie machte sich also auf nach Kleinkirchen. Von weitem hörte sie schon, dass ein Fest gefeiert wurde, denn die Stimmen waren weit über die Grenzen des Dorfes hinaus zu hören.
Als sie näher kam, hörte sie eine verzweifelte Stimme nach einer Amme rufen. Es musste etwas passiert sein. Sie rannte ins Dorf auf einen Kreis von Menschen zu. Dort angekommen, wurde sie durchgelassen und sie sagte den Leuten, sie sollen ein Stück zurückgehen, damit die Frau atmen und sie, Sally, helfen konnte. Schließlich hatte sie es oft genug bei Pferden gesehen, wie eine Geburt vonstatten geht.
„Es ist ein Mädchen!“ riefen die Leute, nachdem das Kind geboren war. Ein schönes Gesicht hatte sie und gut genährt war sie auch, ein kräftiges Baby.
„Ach übrigens, ich bin Sally!“
Sally wurde von den Dorfbewohnern bejubelt und die Frage, ob ihre Kette gefunden worden sei, wurde bejaht. Danach war sie noch eingeladen worden, etwas zu trinken und da sie den Brückenpförtner am Schloss mittlerweile gut kannte, willigte sie ein. Es würde schon keiner merken, dass sie etwas länger weg blieb und so feierte sie mit den Dorfbewohnern die Geburt des Kindes.

Eine Woche nach Beginn der Erntezeit war Friedrich von Arenberg an einer Entzündung im Bauchbereich verstorben, diagnostizierten die Ärzte, welche den Tod feststellten.
„Der Freiherr ist tot, es lebe der Freiherr!“ waren gedämpfte Jubelschreie der Angestellten zu hören. Jetzt, wo Friedrich von ihnen gegangen war, wurde William ihr neuer Herr. Und das, so wusste man, bedeutete, dass harte Zeiten auf sie alle zukommen sollten.
Williams Mund umspielte ein frostiges Lächeln, seine Pupillen waren klein und stechend wie die Spitze eines Messers. Er hatte sein Ziel erreicht. Nun war er Herrscher und jetzt würde ein anderer Wind im Reich wehen.
„Fertigt ein Portrait meines Vaters an. Er soll seinen Platz neben dem Bild meines Großvaters finden.“

 
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Hi Jan!

Unter Gesellschaft hab ich die Geschichte nicht gefunden, deshalb poste ich hier. Ist doch okay, oder?

Ich hab bisher erst Teil I und II gelesen. Sie gefallen mir durchaus, z. T. sind die Beschreibungen wirklich gelungen. Das Gesellschaftspanorama, das du zu zeichnen beginnst, ist interessant. Manchmal wurde ich beim Lesen aber ein wenig ungeduldig. Ein paar Längen sind schon drin, muss ich sagen.

Weitere Hinweise:

Teil I:
Einige sprachliche Ungenauigkeiten sind mir aufgefallen. Nur Kleinigkeiten, über die ich beim Lesen aber gestolpert bin.
- "Strapazen aus ..." kann man, glaube ich, so nicht sagen.
- Man wetzt die Sense am Schleifstein, nicht umgekehrt.
- "... warum der strafende Finger Gottes gerade hier über das Land herzog" klingt in meinen Ohren irgendwie falsch. Liegt vielleicht daran, dass ich bei "herziehen" immer an lästern denke.
- "... mögliche Antwort für den Grund der Pein": Man kann nicht auf einen Grund antworten, nur auf eine Frage. Vorschlag: "mögliche Erklärung für den Grund der Pein".
- "Dann endlich konnten sie die Vorratskammern wieder füllen, die momentan noch so aussahen, wie es die Felder in den vergangenen Jahren taten." Klarer: "... würden sie die Vorratskammern wieder füllen können... wie es die Felder ... getan hatten"
- Ist zwar nicht so wichtig, aber Grieß schreibt sich mit -ß.

Teil II:
- Manchmal finde ich deine Satzkonstruktionen zu lang, z. B.: "Die paar Beeren, die er während seiner Streifzüge durch die Wälder fand, waren zwar lecker, doch nicht sättigend und die Fische, die vereinzelt in den Bächen schwammen, schwer zu fangen, denn die Strömung war schnell und das Wasser immer in Bewegung, so dass die Fische nur mit geübtem Auge zu erblicken waren." Das ist aber Geschmackssache.
- In den Dialogen solltest du darauf achten, die Mündlichkeit stärker hervorzuheben, auch wenn deine Protagonisten eine altertümliche Sprache haben. Ein Beipiel: "Wir hatten uns doch vorgenommen, vor der Morgendämmerung loszugehen, damit wir im Zwielicht auf Hasenjagd gehen können", würde man so nicht sagen. Viel zu umständlich. Das Gegenüber weiß darüber ja Bescheid, also würde man eher sagen: "Hast du verschlafen? Es wird schon hell! Jetzt werden wir kaum noch einen Hasen erwischen." Oder so ähnlich. "Du weißt ja, die Erntezeit steht vor der Tür und Arbeitskraft wird gebraucht auf den Feldern" scheint mir auch eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, dass man das kaum laut aussprechen würde.
- "auf dem das Unterholz berstet": Es heißt "birst".
- "gesandt", nicht "gesannt"


Fortsetzung folgt!

 

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