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Kamerafahrt
Das, woran Sie mittels unsichtbarer aber nicht zu übersehender Schwerkraft also festgeklebt sind, ist nichts als ein verbeulter, vor sich hin tuckernder, wandernder aber ebenso festgeklebter Gesteinsklumpen mit Atmosphäre, die wir heute Morgen für Sie, damit Sie sie direkt erkennen und zuordnen können, in ein graues, nebliges Kleid gesteckt haben. Treten Sie ans Fenster, machen Sie es auch meinetwegen auf, Vorhänge gibt es bei Ihnen wohl ohnehin nicht, und nehmen Sie eine Nase Atmosphäre. Da wird Ihnen ordentlich kalt, was? Was das soll? Es ist Januar, verdammte Axt. Die Suppe/Luft ist kalt und stinkt zudem ordentlich nach Autos und Bäumen. Wenn Sie aber eh schon am offenen Fenster stehen, rauchen Sie doch noch eine, dann merken Sie das mit dem Gemiefe nicht mehr so.
Ist natürlich nichts Neues, das alles, und manchmal denken Sie sogar halbwegs bewusst darüber nach, wenn Sie zur Arbeit fahren, mit dem Bus wahrscheinlich, jeden Tag in das trockenklimatisierte Großraumbüro, denen wollen wir es doch mal zeigen, den Nasenschleimhäuten, denen ging es immer viel zu gut.
Sie stehen im Weg. Die ganze Zeit glotzen wir Ihnen, dem Rauchenden am Fenster, vor den ungekämmten Hinterkopf, aber damit ist jetzt Schluss. Die Kamera schleicht sich an Ihnen vorbei, schwebt zum Fenster hinaus, fliegt noch ein paar Meter weiter durch die Luft und dreht sich dann um 180°, sodass man nun den Anblick eines grauen Betonklotzes vor sich hat, und sich erstmal zwei, drei Sekunden darauf einlassen muss um Sie in einem der hundert Fenster zu entdecken.
Ganz klein sind Sie nun, das gefällt der Kamera viel besser, als riesengroß Ihre Schuppen vorgesetzt zu bekommen, eingesperrt in Ihrer Einzimmerwohnung mit schlampig verlegtem PVC.
Die Kamera schwebt nun über einer zu dieser Zeit gut befahrenen vierspurigen Straße. Lassen Sie uns dieser Straße mal folgen, bleiben Sie gern an Ihrem Fenster stehen, aber ziehen Sie sich vielleicht dann eine Jacke über, aus gesundheitlichen Gründen, denn Krankschreibungen muss man sich doch für den Kater nach der nächsten Verlobungsfeier aus dem Bekanntenkreis aufsparen, das wissen Sie doch, die nächste Einladung ist bestimmt schon unterwegs.
Also, die Straße hinunter, stadtauswärts, vorbei an flachen Schuhkartongebäuden, in die fettleibige Menschen mit ihren klappernden Einkaufswagen eindringen, um Spülmittel und Hundefutter zu kaufen, ist ja diese Woche im Angebot; vorbei an Autohäusern und Bäckern und Bürogebäuden, nun biegt die Straße ab, aber die Kamera fährt trotzdem weiter Richtung Stadtrand, überfliegt ein paar hundert Meter Industrie, eine Neubausiedlung, dazwischen und darin dutzende Supermärkte, bis der Fluss an Wohnschachteln dann schließlich abreißt. Nun im Bild: Landstraßen, Autobahn, Felder, Waldstücke, dann und wann eine Tankstelle oder ein kleinerer Ort, die Kamera entfernt sich weiter vom Boden und schwebt nun über einem grün-grauen Stück Landschaft. Einen kleinen Fluss kann man nun auch erkennen. Und da hinten: ein großer Wald.
Sind Sie noch zu Hause, am Fenster? Oder haben Sie sich schon mit einem Kaffee an Ihren Bürotisch gesetzt und setzen sich nun gähnend Ihrem stinklangweiligen Job und den neurotischen, aggressiven, uninteressanten Kollegen aus, die Ihnen allesamt nichts geben (außer hin und wieder eine Kippe wenn die eigene Schachtel unerwartet leer ist)?
Macht ja nichts. Die Kamera verzichtet gern auf Ihre Gesellschaft. Sie schwebt über dem Landkreis Ihrer grauen Suppenstadt und stiert gebannt nach unten. Glauben Sie mir, hier oben im Nichts ist es weitaus angenehmer als in dem Nichts, in dem Sie sich befinden.
Die Kamera weiß das auch. Trotzdem will sie nun wieder hinunter auf den Erdboden und befindet sich auch sogleich im Sinkflug. Na gut. Ehrlich gesagt lässt sie sich einfach fallen, und das geht auch viel schneller. Sie fällt und fällt Richtung Wald. Der große Wald verschlingt sie mit reichlich Appetit. Gut, dass es keinen Zuschauer mehr gibt, da würde sicherlich jedem schwindelig werden, bei so einer Kamerafahrt.