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Kalte Gedanken
„Ich glaube, da braut sich was zusammen!“, nuschelt Robert in seine Sturmhaube hinein und deutet dabei auf den sich verdunkelnden Horizont.
„Dann sollten wir einen Zahn zulegen. Es sind noch einige Kilometer bis zur Neumayer-Station“, treibt Armin die Gruppe an.
Wie bei einer Ameisenstraße laufen die vier hintereinander. Vorne Armin, gefolgt von Robert und am Schluss Leo und Josephine.
„Hey, ich glaube, das habe ich dich noch gar nicht gefragt, aber wieso hat es dich eigentlich an einen Ort wie diesen hier verschlagen?“, fragt Leo Josephine.
„Die Menschen.“
„Die Menschen? Aber hier gibt es doch gar keine Menschen.“
„Genau“, antwortet Josephine trocken.
Leo macht eine kurze Pause und überlegt, ob er das Gespräch fortsetzen soll.
„Verstehe. Und wieso wendest du dich von ihnen ab?“, traut er sich schließlich doch noch zu fragen.
„Du musst nur mal die Nachrichten lesen. Hass. Leid. Dummheit. Unfähige Regierungen. Zerstörung der Umwelt. Damit möchte ich nichts mehr zu tun haben.“
„Ja, du hast Recht. Aktuell passieren eine Menge übler Dinge. Aber wenn ...“
„Sorry, entschuldigst du mich kurz? Ich muss mal was erledigen, wenn du verstehst, was ich meine. Geht einfach weiter, ich hole euch dann schon wieder ein“, unterbricht ihn Josephine.
„Klar, nur zu!“
Sie wartet noch eine Weile, bis die drei sich weit genug entfernt haben. Als sie nach ganzen fünf Minuten endlich wieder ihre schützenden Hosen anzieht, kann sie ihre Gruppe nur noch schemenhaft am Horizont erkennen. Zügig beginnt sie ihnen nachzulaufen. Es herrscht plötzlich absolute Windstille. Sie kann jeden ihrer Schritte auf dem hart gefrorenen Boden knirschen hören. Mit jedem Meter atmet sie schwerer. Die eisige Kälte drückt ihr auf die Lunge. Dann verdunkelt sich ihre Sicht. Sie hält kurz an, um zu verschnaufen. Doch ihre Sicht ist weiterhin eingeschränkt. Vorsichtig nimmt sie ihre Skibrille ab. Da bemerkt sie erst, wie sehr sich der Himmel verfinstert hat. Schwere, dunkelgraue Wolken sind aufgezogen. Mit zitternden Händen greift sie nach dem Funktelefon und versucht einen ihrer Begleiter zu erreichen. Jedoch ohne Erfolg. Alles, was sie hört, ist ein dumpfes Rauschen.
„Scheiße!“, brüllt sie verärgert und auch verängstigt.
Dann setzt sie ihren Marsch fort. Von der Angst getrieben läuft sie einfach weiter geradeaus, den Blick immer auf den Horizont gerichtet. Nach einigen Minuten fängt es schließlich an zu schneien. Erst nur ganz leicht, dann immer stärker und stärker. Die Schneeflocken werden dicker und schließlich wird es auch noch stürmisch. Der Wind peitscht Josephine ins Gesicht. Mit all ihrer Kraft kämpft sie sich weiter nach vorne. Sie spürt, wie die Kälte ihr langsam in die Knochen fährt. Ihre Hände, die sie sich schützend vors Gesicht hält, beginnen taub zu werden. Ihre Augen tränen und sie muss andauernd blinzeln. Ihre Nase läuft. Trotz der Sturmmaske werden auch ihre Lippen langsam taub. Und allmählich verlassen sie ihre Kräfte. Der ohnehin schon schwere Rucksack mit der Ausrüstung tut sein Übriges. Nach vielleicht 500 Metern bricht Josephine dann schließlich vor Erschöpfung zusammen. Als sie so auf dem Boden liegt, wird sie immer müder. Nur mit Mühe und Not kann sie noch ihre Augen offen halten. Ihre Sicht verschwimmt und sie nimmt die klirrende Kälte nur noch am Rande wahr. Ihre Gedanken kreisen um einen schönen Moment in ihrer Kindheit. Sie scheint sich regelrecht auf diese Erinnerung zuzubewegen. Kurz bevor ihre Augen zufallen, erblickt sie jemanden vor sich. Dann wird es einfach nur schwarz.
Ein Zustand abseits von Raum und Zeit. Kein Geruch, kein Geschmack, kein Gefühl. Nur Dunkelheit. Doch auf einmal vernimmt Josephine in der Ferne ein warmes Flackern und ein leises Knistern. Beides scheint irgendwie lauter und intensiver zu werden. Ein Kribbeln durchfährt ihren Körper. Dann öffnet sie die Augen und langsam kommen ihre Sinne wieder zurück. Mit der Hand fühlt sie einen weichen Stoff. Sie riecht verbranntes Holz. Sie sieht gleichmäßige Ziegel aus Schnee und Eis. Ein Iglu? Langsam richtet sie sich auf und schaut sich um. Neben ihr brennt ein kleines Feuer, sie liegt auf einer roten Wolldecke und befindet sich tatsächlich in einem Iglu. Von draußen hört sie ein dumpfes Pfeifen. Der Sturm. Und etwas das klingt wie Schritte. Diese scheinen immer näher zu kommen. Dann öffnet sich plötzlich die Luke, die den Eingang verschließt, und eine eiskalte Brise zieht herein. Nervös rutscht Josephine ein Stück nach hinten. Der junge Mann, der nun in das Iglo kriecht und sich anschließend zu ihr an das Feuer setzt, trägt einen weißen Smoking mit einem schwarzen Hemd und einer Fliege mit vielen kleinen Schneeflocken draufgestickt.
„Oh, hallo! Ich sehe du bist wach. Freut mich, geht’s dir wieder besser? Ist dir warm genug? Ich kann noch einen Holzscheit nachlegen“, fragt er sie freundlich.
Josephine ist sichtlich verwirrt und irritiert.
„Oh, tut mir leid. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Simon, sehr erfreut! Du hast sicherlich viele Fragen. Lass mich gleich mal die ein oder andere beantworten.“
Mit dem Zeigefinger tippt er auf einen der Eisblöcke. Auf einmal beginnt das gesamte Iglu zu leuchten. Wie bei einem Projektor wird ein Bild auf die gefrorene Ziegelwand geworfen. Zunächst kann man nur ein Rauschen erkennen. Dann wird deutlich, dass es sich um den Schneesturm draußen handelt. Und plötzlich sieht Josephine sich selbst, wie sie im Schnee liegt. Geschockt zuckt sie zusammen und versucht nervös ihren Puls zu fühlen. Doch da ist keiner.
„Was ist das hier?! Bin ich tot?“, stammelt sie mit zitternder Stimme.
„Nein, das bist du nicht.“
Josephine betrachtet ihre Hände, als wären es nicht ihre eigenen. Dann schaut sie den jungen Mann an.
„Und was bin ich dann?“
Er macht eine kurze Pause und holt eine Tüte Marshmallows sowie einen Stock aus einer Kiste hervor. Dann spießt er einige auf und hält den Stock ins Feuer.
„Das ist eine brillante Frage! Die Antwort darauf ist allerdings etwas länger. Mach es dir also einfach gemütlich. Neben dir steht übrigens eine Thermoskanne mit frischem Tee, falls du möchtest.“
Er räuspert sich und richtet seine Fliege. Dann berührt er erneut das Iglu. Daraufhin verwandelt sich die Wand in einen Sternenhimmel und die Flamme des Feuers wird kleiner. Jeder einzelne Stern strahlt hell und leuchtet kräftig in Josephines Augen.
„Die Vorstellungskraft des Menschen ist ziemlich beeindruckend. Aliens, andere Dimensionen, Zeitreisen, der Urknall. Alles sehr beeindruckend und durchaus plausibel. Und doch gibt es noch so viel mehr zu sehen. Man muss nur richtig hinschauen.“
Die Farben der Sterne beginnen sich zu verändern.
„Energie. Eine vom Menschen geschaffene physikalische Größe, welche so ziemlich in allen Teilgebieten der Wissenschaft auftaucht. Was genau Energie allerdings ist, das wissen sie noch nicht so genau. Noch weniger wissen die Menschen allerdings über die andere Form der Energie. Ihr nennt sie die dunkle Energie. Genauso wie die dunkle Materie könnt ihr sie nicht nachweisen, weil ihr nicht mit ihr interagieren könnt. Doch ihre Auswirkungen könnt ihr messen. Und so habt ihr in eurer Vorstellung ein dazu passendes Konstrukt geschaffen, was alles um euch herum erklären soll. Ihr nennt es Universum. Doch solltet ihr euch mehr auf das konzentrieren, was eigentlich zu dieser Erkenntnis geführt hat: euer Verstand. Denn über die Vorstellungskraft hinaus ist dieser noch zu vielem mehr möglich.“
Die Projektion ändert sich erneut. Die einzelnen Sterne verbinden sich durch unzählige feine, geschwungene Linien.
„Kannst du mir so weit folgen?“
Josephine reibt sich die Stirn.
„Ich denke schon ...“, antwortet sie und merkt dabei, wie die Fragen in ihrem Kopf nur noch lauter werden.
„Perfekt! Dann kommt jetzt der richtig interessante Teil!“
Er nimmt den Stock aus dem Feuer und wirft einen prüfenden Blick auf eines der Marshmallows.
„Das muss noch.“
Er hält den Stock wieder zurück in die kleine Flamme. Dann fährt er fort.
„Also, halte dich fest! Euer sogenanntes Universum ist nur ein Gedankenkonstrukt. Jeder Stern im gesamten Weltall ist nichts anderes als ein Neuron in einem Gehirn. Denn in jedem Hirn jedes einzelnen Menschen steckt ein eigenes Universum. Die Geburt eines Kindes ist sozusagen der Urknall. Im Laufe seines Lebens lernt man viele Dinge. Es bilden sich also mehr Sterne, ergo mehr Neuronen. Mehr Galaxien, also mehr Verbindungen. Ab einem bestimmten Alter beginnt man dann seine Umwelt erst richtig wahrzunehmen und somit auch zu hinterfragen. Manche Menschen machen das ganz bewusst und manche hauptsächlich unterbewusst. Dabei schaffen sie sich in ihrem Kopf eine ganz eigene Version der Realität. Denn jeder nimmt sich und seine Umgebung etwas anders war.“
„Du willst mir erzählen, dass in meinem Kopf ein eigenes Universum existiert?“, unterbricht Josephine ihn.
„Genau. Doch dein Universum unterscheidet sich nur geringfügig von diesem hier. Denn du bist Wissenschaftlerin und siehst alles sehr rational. Auch das Bild von dir selbst ist kaum verdreht. Du bist vielleicht etwas größer in deinem Universum oder deine Haare sind etwas dunkler, aber sonst gibt es da nicht viel zu unterscheiden.“
„Und wer bist dann jetzt eigentlich du?“, hakt Josephine nach.
„Tja, das könntest du eigentlich schon wissen. Das hier ist mein Gehirn. Ich habe das alles hier geschaffen. Und ähnlich wie bei dir unterscheidet sich diese Welt nicht wirklich von meiner eigenen.“
„Außer vielleicht ich selbst“, fügt er noch schmunzelnd hinzu.
Es folgt eine Phase des Schweigens. Josephine versucht das eben Gehörte irgendwie zu verstehen. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck starrt sie wie versteinert in das Feuer.
„Das heißt, ich bin gar nicht echt?“, sind die Worte, die es schließlich aus ihrem Gewusel an Gedanken und Fragen im Kopf über ihre Lippen schaffen.
„Aber natürlich bist du das! Dieses Wort beschreibt sowieso häufig nur das, was wir Menschen nicht verstehen.“
„Und wieso erzählst du gerade mir das alles? Wieso bin ich hier?“, fragt Josephine immer noch ungläubig.
„Du bist der Teil meines Verstandes, der sich nicht mehr mit der Welt, in der mein dazugehöriger physischer Körper existiert, identifizieren kann. Und ich bin der rationale Teil. Der Teil, der mir zu erklären versucht, dass nicht alles da draußen schlecht ist.“
Er nimmt die Marshmallows aus dem Feuer und isst eines nach dem anderen.
„Und wie geht es jetzt weiter?“, will Josephine natürlich wissen.
„Na ja, ich schicke dich wieder zurück. Der Schneesturm wird aufhören und du kannst deinen Weg zur Neumayer-Station fortsetzen.“
„Und was machst du jetzt?“
„Auch ich werde mein Leben weiterführen. Was die Zukunft bringt, das weiß ich noch nicht. Doch eines weiß ich. Selbst wenn ich nicht weitermache, wird es eine Zukunft geben. Es hilft also nichts, davor zu flüchten. Weder in die Antarktis, noch in seine eigenen Gedanken.“
Auch wenn wir alle ein anderes Universum in unserem Kopf haben, so leben wir doch in ein und demselben.
Mit diesen Worten verdunkelt sich plötzlich alles und bevor Josephine noch eine weitere Frage stellen kann, wacht sie wieder im Schnee auf.