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Kalt

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26.08.2002
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Anmerkungen zum Text

Überarbeitet 10 / 2014

Kalt

Noel wacht morgens auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist vier Uhr früh und es ist ungemütlich.
Heute muss er nicht zur Arbeit. Er führt ein ruhiges, sicheres Leben. Angehörige hat er keine, aber Nachbarn. Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er über achtzig Jahre alt.
Er geht zur Heizung. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt. Noel wundert sich und geht in die Küche. Kalt.
Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen. Nicht in diesem Zimmer und auch nicht in den anderen. Die Fenster sind wie festgeschweißt. Währenddessen wird es immer noch kälter. Seine Finger werden steif. Er zieht eine Jacke an, geht zum Telefon und wählt einige Nummern. Irgendwelche, denn er kennt niemanden. Es geht auch niemand ran..
Dann geht er durch die offene Tür hinaus und wundert sich, denn es ist still. Und eisig. Kein Auto fährt. Keine Menschen sind auf der Straße. So ist Noel allein mit dem Beton, gerade jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch er friert noch mehr. Er sieht auf seine Uhr: elf nach vier. Die Stadtuhr zeigt: Punkt vier.
Sein Atem klirrt. Er läutet bei einem Nachbarn. Keiner öffnet.
Auch um Viertel nach vier zeigt die Stadtuhr vier Uhr an. Noel ruft mehrfach ‹Hallo›, doch niemand antwortet.
Er bewegt sich, um Wärme zu erzeugen. Er hüpft eine Minute auf und ab, dann hört er wieder auf.

Um vier Uhr zwanzig geht er los und erreicht den nächsten Stadtteil um vier Uhr zweiundvierzig. Er sieht sich um, doch nichts bewegt sich und es ist nichts zu hören. Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei große, gefrorene Steine.
Um fünf Uhr sieht er auf einer Parkbank Menschen sitzen. Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich nicht. Sie wirken wie stehen gelassen. Innen sitzen aber Tote.
Die Kälte wird arg, er weiß nicht mehr, was er tun soll. Er geht in den Park zurück. Kein Wind geht, die Bäume sind still. Seine Schritte werden kürzer. Er hat keine Zeit mehr, er wird erfrieren. Um sieben Uhr weiß er das.

Da steht ein Polizist auf dem Weg, starr, als wäre er im Gehen erfroren, mit erhobenen Armen und einer Miene, die sagt: "Tu es nicht!" Fünf Meter vor ihm ist eine Frau – mit einer kleinen Pistole auf die eigene Schläfe gerichtet. Sie hat geschossen. Die Kugel, noch im erstarrten Mündungsfeuer, hat sich knapp zwei Millimeter in die Haut gebohrt und ist stecken geblieben.
Noel geht durch die Kälte zur Frau, nimmt die Kugel, betrachtet sie kurz und lässt sie zu Boden fallen.
Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen, zu erfrieren.
Seine Hände und Füße sind weg.
Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Noel nimmt ihn. Setzt ihn auf den Boden wie ein Holzspielzeug. Legt sich anschließend auf die Bank, krümmt sich und stirbt.

*
Nach seinem Tod, nur eine zehntel Sekunde danach, wird es ohne Übergang tropisch heiß und innerhalb von Monaten ist Noel verwest. Nach hundert mal hundert Jahren sitzt der Spatz noch an derselben Stelle, aber von Noel sind selbst die Knochen verschwunden.

*
Danach war ein Rauschen zu hören, die Luft war voller Geräusche, der Wind, die Straße, ein Gebell. Der Spatz flog auf, verwirrt.
Ein Mieter des Hauses 34 blieb verschollen. Nichts erklärte sein Verschwinden und er blieb verschwunden. Hatte er das Land verlassen? Er hatte jedenfalls nichts mitgenommen. Nur vier Tage später spielte das bereits keine Rolle mehr.
Bei Schulzes klingelte frühmorgens das Telefon, aber niemand war dran, als Frau Schulze den Hörer abnahm. Frau Wober hörte jemanden mehrmals ‹Hallo!› rufen, entdeckte aber niemanden.
In den Boulevardzeitungen war anderntags von einem Wunder die Rede. Eine Frau hatte, in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, eine kleinkalibrige Waffe auf ihre Schläfe abgefeuert. Die Kugel war aber von der Schläfe abgeprallt und auf den Boden gefallen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Flic, ich bin fast sprachlos( nur fast , ganz sprachlos werde ich wohl nie sein) denn diese Geschichte hat mir ohne jegliche Vorbehalte richtig gut gefallen.
Du beschreibst mit einem wunderbar sterilen aber dennoch auf eine ironische Weise lebendigen Stil die Annonymität des Einzelnen in der Masse. Die Tatsache , dass die Nachbarn Monate nach dem Vorfall anfangen sich Gedanken zu machen, und dann tratschen beschreibt unsere Klatsch und Tratsch aber nie Tatgesellschaft sehr treffend.
Glückwunsch, du hast es geschaft das Thema Surrealismus mit beißender Gesellschaftskritik zu verbinden, was doppelt gut ist, denn nichts anderes sollte der Surrealismus ja sein.

 

Die Geschichte ist richtig gut. Hat mir sehr gefallen. Ich frage mich, wie es gewesen wäre, wenn Drh am 11. September gestorben wäre...

Mario

 

hey flicflac,
gute, surreale geschichte für mein empfinden. schon die atmosphäre, die situation, die du schilderst wirkt trotz ihrer "normalität" surreal. eine momentaufnahme der gesellschaft, eingefroren.
wie max weigl frage ich mich: inwiefern ist es wichtig, dass drh ein christ ist? hat es eine bedeutung oder soll es eine verstärkung des surrealen effektes sein? gut finde ich max´s auslegung von drh "die rettende hand".

gruß bigmica

 

Hallo FlicFlac,

Drh, ein Christ, wacht auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist.

... fand ich gut, etwas ähnliches hätte ich mir als Rahmen zum Schluß gewünscht.

Ich fand die Geschichte echt gut. Die Idee und die Umsetzung, dass jemand den Zweck hat eine Person zu retten ... und für diesen Zweck die Welt stillsteht.

Mir persönlich hätte es noch besser gefallen, wenn die Welt gar nichts von Drh mitbekommen hätte, sondern nur er selbst in der Position ist, sich zu wundern, das die Welt stillsteht. Finde ich wirkungsvoller.

Ansonsten - Kompliment, auch wenn sprachliche Elemente fehlen, die den Surrealismus auszeichnen, der Inhalt macht hier vieles wett.

Gruß,
Bella

 

<fand ich gut, etwas ähnliches hätte ich mir als Rahmen zum Schluß gewünscht.>

Ich galube zu verstehen, was du meinst.


<auch wenn sprachliche Elemente fehlen, die den Surrealismus auszeichnen>

Welche fehlen dir am meisten?

Grüße, FlicFlac

 

Ich mag die Geschichte. Auch, wenn ich sie nicht dem Surrealismus, sondern eher der Fiction zuordnen würde - aber ich bin mir nicht sicher, ob man sowas überhaupt fein trennen kann.
So eine aehnliche Story hab ich schonmal in Outer-Limits gesehen. *Fan-sei* :o)

Gruesse
dko

 

"Sind Sie bereit? Bereit für das Unbekannte? Für eine neue Erfahrung, die..."

S.g. FlicFlac

Deine Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Die Idee allein ist grandios, und auch wenn diese ursprünglich von OuterLimits motiviert wurde, fand ich die Umsetzung gut.

Doch kann ich leider gar kein surreales Element sehen. Auch wenn viele hier meinen, sie sei surreal, so finde ich, dass sie eher in die Rubrik "Seltsames" bzw. "Gesellschaft" passen würde. Den Surrealismus vermisse ich hier eindeutig.
Bin aber lehrwillig und sollte einer, der obrigen Kritiker einen kurzen Augenblick Zeit haben, so kann er mir gerne erklären, was genau surreal ist.

Liebe Grüße aus Wien, P.H.

 

Hallo!

:waaas:
Nachdem jetzt zweimal von OuterLimits die Rede war, frage ich mich nach dem Grad der Ähnlichkeit. Kann mir jemand die Geschichte kurz abreissen?

Wenigstens bewusst kenne die Folge nicht - obwohl ichs damals gesehen habe (vielleicht habe ich also unbewusst plagiiert). Bin neugierig!

Flic

 

Hallo FlicFlac!

Sehr gut gefällt mir Deine Geschichte - die hat was! :thumbsup:
Einerseits scheint alles klar beschrieben und ergibt eine Handlung, andererseits läßt sie sich sehr gut surreal interpretieren.
Die Version mit dem Schutzengel sehe ich dabei als die realere. So, wie Marot sie interpretiert hat, ist es auch meine surreale Version, sie zu lesen. Und da läßt sich noch so manches andere auch herauslesen.

Ein paar Anmerkungen habe ich noch:

"Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert." - Ich sehe hier keinen Widerspruch, der ein "doch" begründen würde - es klingt wie "Es ist kalt, doch Drh friert"...

"Er sieht auf seine Uhr: zehn nach sechs. Doch die Stadtuhr zeigt: Punkt sechs." - Auch hier würde ich das "Doch" weglassen. Der Widerspruch offenbart sich dem Leser auch so, aber vor allem kommt es wenige Zeilen danach noch einmal vor.

"6.00 Uhr" - bitte die Uhrzeiten ausschreiben, "sechs Uhr" oder auch "sechs Uhr zwanzig" usw. ist bestimmt nicht zu lang. ;)

"kein Wind geht" - weht wäre schöner...

Alles liebe
Susi :)

 

Hi FlicFlac,

da singe ich gern mit, bei den Lobeshymnen.
Im Verständnis der Geschichte schließe ich mich jedoch nicht vollständig den anderen an. Die beiläufig klingende Erwähnung des Christseins deines Protagonisten gibt in meinen Augen einen ganz wichtigen Ansatz zu einer ganz anderen Interpretation. Der Christ selbst erstarrt nicht in der allgemeinen Kälte zwischenmenschlicher Beziehungen. Niemand redet mit ihm, obwohl er hilfebedürftig ist; trotzdem hilft er, der Christ, der Selbstmörderin. Bezieht klar Stellung gegen Selbstmord. Das Sterben des Protagonisten deutet auf die aussichtslose(?) Perspektive warmer zwischenmenschlicher Beziehungen in der heutigen Zeit, ist gleichzietig negative Erkenntnis des Autors.
Vielleicht liege ich ja völlig daneben, aber nur so macht für mich der "Christ" einen Sinn.

Im Gegensatz zu Peter Hrubi (Freud läßt grüßen: "Bin aber lehrwillig..." statt lernwillig :D ) sehe ich die gesamt Geschichte als surreal, empfinde die skurrile Situation sehr traumähnlich.

Gut geschrieben!
Gruß vom querkopp

 
Zuletzt bearbeitet:

@Susi - Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert. Dein Einwand ist mir verständlich und ich habe damals darüber nachgedacht (ob ich das ändere), dann aber: das Zusammenzeihen der Haut hat das Ziel, die Wärme gleichsam monadisch im Körper zu halten.

Deshalb ließ ich das. Ohne Selbst-Transzendenz, ohne das Darüber-hinaus bleibt die Kälte, jeder Versuch scheitert.

Die weiteren Einwände sind Fingerfehler meinerseits und ich werde sie verwenden, danke!

@querkopp

Danke für deine Kritik! Vor allem fiel mir auf, dass 'ein Christ' zu spezifisch war; ich habe 'ein gottgläubiger Mensch' daraus gemacht.

Flic

 

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