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Kalt
Jenny war ein verrücktes, junges Mädchen. Sie war 16, ging aufs Gymnasium, war eine der Besten ihrer Klasse. Sie war auf jeder Party willkommen. Wo sie war, kam erst einmal richtig Stimmung auf. Sie lernte viele Leute kennen. Auch bei den Älteren der Sek.II war sie recht beliebt. Dort verbrachte sie häufig ihre Hofpause. Nicht weil die Mädchen aus ihrer Klasse ihr zu wider waren; es war sonst eher angebracht mit Gleichaltrigen möglichst noch vom gleichen Geschlecht zusammen zu sein, das sahen die Lehrer lieber; einfach weil sie dort ‚oben’ einige Freunde hatte die ihr sehr am Herzen lagen.
Begrüßt wurde sie von ihnen mit „Schaut, die Sonne geht auf!“ als sie ging blieben die Blicke jedes Mal lang an ihr haften. Sie war hübsch und das wusste sie. Diese Blicke genoss sie.
Aber nichts desto trotz war sie relativ glücklich mit einem Mann zusammen. Ja, mit einem Mann. Patrick war sechs Jahre älter als sie. Trotzdem liebte er sie über alles. Sie selbst himmelte ihn an. Er war groß, schlank, ein extrem cooler Typ, Mädchenschwarm, lieb, sensibel und intelligent zugleich. Er war nahezu perfekt.
Eigentlich gab es in ihrer Beziehung keine Probleme die von Bedeutung waren, aber das änderte sich bald, als ein Brief vom Bund Patrick zur Pflicht rief. Erst dachte er noch daran Berufung einzulegen und um Zivildienst oder ähnliches zu klagen, doch da er schon ein zwei Mal die Einberufung verschoben hatte, warf er diesen Gedanken über Bord.
Es nützte alles nichts, er musste für über ein Jahr den Dienst an der Waffe antreten. Sie versprachen sich die Treue, sie würden das schaffen, ihre Beziehung war stark, schon seit über einem Jahr. Trotzdem hatten beide Angst. Noch wussten sie nicht wovor, aber mit der Zeit kristallisierte sich immer mehr heraus, dass beide nicht mit dem Stress einer Fernbeziehung leben konnten. Er war unter der Woche rund dreihundert Kilometer von ihr entfernt. Erreichen konnte er sie nur abends, über ein Handy. Der Mitteilungsdrang musste also eingeschränkt sein.
Sehen konnten sie sich nur am Wochenende. Bald stellte sich auch das als nichtig heraus. Er hatte auch noch andere Freunde, die er wenigstens dann sehen wollte, wenn sie am Wochenende bei einem Volleyballturnier antrat. Das tat sie gern, denn sie spielte gut und in dieser Saison könnte es ihrer Mannschaft sogar gelingen in die Regionalliga aufzusteigen.
Also blieb nur noch ein Tag in der Woche, an dem Jenny und ihr Patrick Zeit hatten ihre Beziehung zu pflegen. So sollte es über ein Jahr lang laufen.
Am Anfang lief es noch gut, sie freuten sich auf den freien Tag. Meist verbrachten sie ihn zusammen im Bett. Sie redeten oft einfach nur oder guckten sich zusammen Filme an. An diesem Tag konnten beide einmal die Probleme vergessen, die sich vor ihnen auftaten.
Patrick wurde sehr eifersüchtig. Er war allein in Bayern und Jenny bei ihren Freunden zu Hause. Er wusste genau dass kein Kerl die Finger von ihr lassen könnte, wenn sie ihm, die Chance dazu gab. Oft begegnete er Jenny mit leeren Anschuldigungen. Das verletzte sie. Dieser Gedanke er würde ihr nicht vertrauen begann sie innerlich zu zernagen. Wie konnte sie ihm denn beweisen dass sie treu war? Aus Gegenwehr und um ihm zu zeigen wie sie sich in diesen Momenten fühlte, wie wehrlos, wie leer, konterte sie und machte damit alles nur schlimmer. „Ich weiß auch nicht mit wem du dich rum treibst wenn du mal Ausgang hast! Wer weiß wie viele Geschichten du dort am laufen hast!“ Sie meinte das nicht so, aber sie war in einem Moment der Anschuldigung enttäuscht und sauer. In ihren schlimmsten Gedanken malte sie sich zwar aus, wie er an manchen Abenden, wenn er sich nicht bei ihr meldete und ihr wieder irgendeine Entschuldigung auftischte, mit seinen Kumpels in einer Bar vergnügte um dort Weiber aufzureißen wie er es in der Zeit getan hatte, bevor er mit ihr zusammen war, aber dazu wäre er nie imstande gewesen. Sie wusste, dass er so gut wie nie ein anderes Mädchen auch nur anschaute.
Trotzdem, die Gegenseitigen Anschuldigungen machten die Beziehungen nicht einfacher. Irgendeine kleine Streitigkeit sollte immer wieder ausarten und den gemeinsamen Tag kaputtmachen. Dazu kam, dass Patrick sehr gereizt war. Ein falscher Tonfall und er keifte Jenny die ganze Zeit an. „Du bist genervt, am besten ist, ich lass dich in Ruhe!“ Diese Aussage war es, die Jenny am wenigsten hören wollte. Denn meistens kam es so, das er dann ging und sie den ‚Gemeinsamen Tag’ doch allein verbrachte.
Immer häufiger machte sie sich Gedanken darüber, was ihr diese Beziehung überhaupt noch gab. Wann hatte sie das letzte Mal die Worte „Ich liebe dich“ gehört. Oft wurden sie durch Beschimpfungen ausgetauscht. Und wann sagte er ihr überhaupt noch, dass er froh war, endlich bei ihr zu sein. Oft bekam sie nich einmal einen Kuss zur Begrüßung. Es kam ihr so vor, als besuchte er sie nur noch aus Pflichtgefühl. Sicher wäre er überall lieber als bei ihr.
Es sollte bald zu einer Aussprache kommen. Sie erklärte ihm ihre Bedenken, er erklärte ihr, was er noch für sie fühlte. Schnell wurde beiden klar, dass die Sorgen und Ängste immer mehr die Oberhand gewannen. Für romantische Zweisamkeit und liebe Worte war in dieser Beziehung kein Platz mehr.
Nach so langer Zeit sollte die Beziehung nicht einfach so enden. Patrick ließ seine Anschuldigungen und auch Jenny wollte sich zusammenzureißen. Sie wollten um ihre Beziehung kämpfen! Die Liebe musste wieder entfachen, die Vorurteile, die negativen Gedanken und die Enttäuschungen der letzten Zeit mussten vergessen werden. In einem halben Jahr würde die Feuerprobe beendet sein. Sie mussten sich selbst beweisen, dass ihre Beziehung auch dieser Belastung standhielt. Das waren sie sich schuldig. Sie wollten wieder glücklich sein.
Das Gespräch damals, es war sehr emotional gewesen. Beide hatten geweint um die verschwendete Zeit die sie mit dem Streiten verbracht hatten. Beide hatten geweint, auch nicht zuletzt um die Enttäuschungen.
Jenny wusste, dass es nicht einfach sein würde. Durch den Streit vergaß sie oft wie glücklich sie mit Patrick gewesen war. Und dann war da auch noch dieser andere Junge.
Er hatte etwas, das sie faszinierte. Seine blauen Augen, sein schüchterner Blick, das ansteckende Lachen, waren so schön wie ein klarer Sternenhimmel. Aber auch genauso kalt. Seine Statue war drahtig aber sie verleitete Jenny dazu, diesen Jungen in den Arm nehmen zu wollen. Sie wollte ihn zu gern kennen lernen. Er war im letzten Jahr neu an die Schule gekommen und ging jetzt in die zwölfte Klasse soviel wusste sie von ihm. Trotzdem ihre Freunde die gleiche Jahrgangstufe besuchten, war er ihr so fremd, so unnahbar. Sie fühlte sich von ihm angezogen , auch wenn er sie nicht beachtete.
Er war so anders als Patrick. Nicht einmal wenn sie mit ihrem Freund zusammen war, mochte sie ihn vergessen. Dabei waren beide so verschieden. Patrick der soviel Wärme ausstrahlte und der Unbekannte, bei dem es ihr vorkam, als ging ei kalter Hauch von ihm aus.
Aber hatte sie sich wirklich in jemanden verliebt, den sie gar nicht kannte. Sie unterdrückte diesen Gedanken. Sie liebte doch Patrick. Zumindest sollte sie das. Wäre doch der ganze Streit nicht gewesen. Erst in dieser Zeit war der Fremde ihr aufgefallen. Erst zu dieser Zeit, begann er, sie in ihren Bann zu ziehen. Jenny wusste ja sogar, dass sie für ihn Luft war. Sie malte sich keine Chancen aus. Nie hatte er sie bewusst angesehen. Sie kam sich vor wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal Schmetterlinge im Bauch hatte. Nur er gab ihr dieses Gefühl. Es war bei Patrick schon lang erloschen.
Ihrem Freund sagte sie nichts davon, dass ihr Herz auch noch für jemand anderes schlug. Eigentlich redeten sie sonst über alles, eigentlich wollten sie dem Anderen kleine Schwärmereien immer offenbaren. Aber war das nur eine kleine Schwärmerei? Hätte sie ihm einen Einblick in ihre Gefühlswelt gegeben, wäre er nur eifersüchtig. Außerdem war es doch gar nicht so akut. Sie kannte doch den Jungen nicht einmal, also brauchte sich Patrick keine Sorgen zu machen. Sie wollte nicht schon wieder die zurzeit entspannte Atmosphäre zerstören, die zwischen ihr und Patrick herrschte. Wahrscheinlich vergaß sie durch die traute Zweisamkeit die sich in den gemeinsamen Weihnachtsferien anbot ihre Gefühle für den unbekannten ganz.
Lange dauerte es nicht mehr, bis sie endlich für zwei ganze Wochen zusammen sein konnten. Es war eine schöne Zeit und tatsächlich dachte sie nur an ihren Patrick. Es war so schön wie noch vor ein paar Monaten. Vor dem ganzen Stress. Sie genoss diese Zeit und Patrick machte ihr das auch nicht schwer. Sie hatte wieder das Gefühl von ihm geliebt zu werden. Außerdem machte sich in ihr ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bemerkbar. Sie wollte am liebsten für immer mit Patrick zusammen sein. In guten und in schlechten Zeiten.
Aber auch Ferien dauern nicht ewig. Weder für Schülerinnen noch für Kriegsdienstler. Diesmal ging man mit Vorfreude wieder auseinander. Vorfreude auf das nächste Wochenende das Liebe und Zärtlichkeit bescheren würde.
Im Gedanken an Patrick betrat Jenny auch den Schulhof. Sie fixierte ihre älteren Freunde an, die in einer größeren Gruppe am gewohnten Platz standen. So als hätten sie die ganzen Ferien dort gestanden. Alle freuten sich den anderen wieder zusehen und als Jenny die Gruppe betrat „ging die Sonne wieder einmal auf“. Ihr wurde bewusst dass sie ihre Freunde die ganzen Ferien lang nicht einmal vermisste. Patrick war der beste Ersatz. Von weitem hörte sie ihre Freundinnen lachen. Alberne Weiber. Aber auch zu ihnen wollte sie gehen, sie mochte diese witzige Art. In keine andere klasse hätte sie gewollt. Ihre Klasse war einfach die beste, davon war sie überzeugt.
Ein paar Worte zur vorübergehenden Verabschiedung sollten ihren Freunden zeigen, dass sie sich von der Gruppe entfernte. Zielstrebig drehte sie sich um. Sie lächelte aus Vorfreude den neuesten Klatsch zu hören. Auch von ihren Freundinnen hatte sie die ganzen Ferien lang nicht einen Ton hören wollen.
Da passierte etwas, das das Vergesse wieder in den Vordergrund geraten ließ. Zu schön waren die Tage mit Patrick. Als sie aber in die Augen ihres Gegenübers schaute, war es wieder einmal um sie geschehen. Nicht auf ihre Umwelt ging sie auf ‚ihre Weiber’ zu. Dabei stieß sie mit dem Unbekannten zusammen. Peinlich, was würde er jetzt denken. Sie hatte ihn angestarrt. Sie war tief in seinem Blick versunken, bis er einfach an ihr vorbeiging. Ohne ein Wort.
Der restliche Schultag war für sie gelaufen. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte ihn wieder gesehen zu haben, oder ob sie weinen sollte, weil neue Sehnsüchte in ihr entflammt waren. Was sollte sie denn tun? Nach zwei unbeschwerten Wochen, ohne einen Gedanken an ihn, tauchte er auf einmal wieder auf. Wieso brachte er ihre kleine Welt nur so durcheinander?
Sie kannte die Antwort auf diese Frage, sie konnte sich diese Frage beantworten doch sie wollte das ganz einfach nicht. Wollte sich nicht eingestehen, dass sie sich so sehr in ihn verliebt hatte. Ja, sie liebte ihn. Und sie kannte ihn nicht.
Verzweiflung. Sie stand zwischen zwei Männern. Einen den sie liebte, weil sie alles an ihm kennen und lieben gelernt hatte und einen den sie liebte, weil sie in seinem Bann war. Was sollte sie aufgeben? Oder besser, was konnte sie aufgeben? Sie wusste, dass sie den Unbekannten nicht vergessen konnte. Zu tief stark die Gefühle als sie ihn wieder sah. Sie würde ihn nie vergessen können. Dazu hätte sie weit weg ziehen müssen und sogar dann hätte ihr Herz vielleicht noch geschmerzt, beim Gedanken an ihn. Es war sinnlos. Und Patrick? Sollte sie ihm sagen, dass alles umsonst war? Das sie schon seit Monaten einen anderen Jungen begehrte, den sie zu guter letzt nicht einmal kannte? Er würde es lächerlich finden. Für einen Scherz halten. Außerdem, wenn er ihr endlich glauben würde, würde er sie dafür hassen. Er würde denken sie hätte ihm alles nur vorgemacht. Dabei war es nicht so. Sie liebte ihn och so sehr. Aber sie wusste, dass sie sich entscheiden musste. Ansonsten würde diese Situation sie zerstören.
Eine lange Zeit des Nachdenkens verstrich. Sie zeigte Patrick nicht, dass sie an ihrer Liebe zu ihm zweifelte. Sie sagte ihm nicht, was sie bedrückte. Sagte ihm nicht, was sie fühlte wenn sie ihn küsste, sagte ihm auch nicht, an was oder wen sie dachte.
Zwei Wochen hatte es gedauert. Sie war sich ihrer Entscheidung bewusst. Sie musste Patrick aufgeben. Sie konnte ihm nicht länger diese heile Welt vorspielen. Innerlich war sie aufgelöst. Sie hätte sich umbringen können, aber sie war sich bewusst dass es das nicht wert war. Ihre Freunde bemerkten dass sie immer verschlossener wurde. Sie war längst nicht mehr der Sonnenschein. Auch ihr Notendurchschnitt hatte sich verschlechtert. Wenn ein Junge diese unbewusste Reaktion in mir auslöst, muss ich alles dafür tun, die Situation zu verändern. Sogart Patrick merkte mittlerweile, dass etwas sie beunruhigte.
Irgendwann brach sie in Tränen aus. Sie berichtete ihm, was sie ihm schon seit Monaten sagen wollte. Lange Zeit schon hatte sich diese Szene immer wieder in ihrem Kopf abgespielt. Es war furchtbar. Vielleicht der schlimmste Moment in ihrem Leben. Sie wusste, dass sie den Mann verlieren würde, für den sie vor einem Jahr noch alles getan hätte.
Patrick reagierte, wie sie es vermutet und befürchtet hatte. Schweigend und mit Tränen in den Augen verließ er den Raum. Er verließ das Haus. Nie wieder hörte sie von ihm. Das Schlimmste war die Reue. Sie bereute ihre Entscheidung, ohne darüber nachzudenken, das es wahrscheinlich die Richtige war. Wie konnte sie ihm das nur antun.
Jetzt war sie wieder frei aber sie versuchte niemals auch nur den Namen des Unbekanten zu erfahren. Sie wäre sich selbst schäbig vorgekommen. Außerdem hätte es ihr das Herz gebrochen. Sie liebte Patrick immer noch. Die Liebe zu dem Unbekannten war abgeklungen. Lang nicht mehr so stark. Sie befand sich immer noch in seinem Bann, aber nicht mehr so fest. War es das was sie wollte? War sie jetzt glücklich? Mittlerweile war ein halbes Jahr vergangen. Sie hatte erfahren, dass Patrick eine neue Freundin hatte. Nur er selbst wusste, dass er nie wieder ein Mädchen so sehr lieben würde, wie er Jenny geliebt hatte.
Für Jenny brach eine Welt zusammen. Sie verschloss sich. Irgendwann kam sie nicht mehr nach Hause. Sie war zu dem alten Baumhaus gegangen, an dem Patrick und sie sich zu ihrer Liebe zueinander bekannt hatten. Wäre bloß dieser ganze Streit nicht gewesen. Zu dieser Zeit begann es, hier endete es. Hier lag sie nun, ihr Blick, ihre Haut, ihre Tränen waren kalt wie die sternenklare Nacht die über ihr lag. Sie war tot. Mit Schmerztabletten tötete sie den Schmerz, der auf ihrer Seele lastete, mit Schmerztabletten tötete sie aber auch sich selbst.
[Beitrag editiert von: ['instin(c)t] am 06.03.2002 um 21:34]