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Kakao mit der Lieblingsoma
„Komm, Jana, ich hab´ uns Kakao gekocht. Wir setzen uns gemütlich auf den Balkon und trinken eine Tasse. Ich erzähl dir die Geschichte von der Goldmarie.“ Jana blickt Oma Anna an. Ihr Gesicht ist von Falten und Fältchen durchzogen, es müssen tausende sein. Tausend, das ist Janas Lieblingszahl. Tausend ist immer soviel, dass man es nicht mal mehr zählen kann. Aber jetzt verdreht das Mädchen die Augen. „Oma, ich mag keinen Kakao. Das weißt du doch. Ich mochte noch nie welchen. Hast du Orangensaft?“ „Du magst keinen Kaba? Das muss ich wohl wieder vergessen haben ...“ Oma seufzt bekümmert und geht in die Küche, um Orangensaft zu holen. Die Geschichte von der Goldmarie kennt Jana auch schon fast auswendig, aber das sagt sie nicht mehr. Warum ist das immer so anstrengend mit Oma Anna?! Warum hört sie nie richtig zu?
Janas Mama nennt die Großmutter „schusselig“, wenn sie wieder etwas vergessen hat. Zum Beispiel, dass Jana keinen Kakao mag. Oder warum sie in eine kleine Wohnung umziehen musste. Oder wenn sie nicht mehr weiß, dass zweimal am Tag die Schwester Erika vom Pflegedienst kommt, um ihr ihre Tabletten herzurichten und ihr zu helfen. Manchmal kommt es vor, dass Oma Anna Angst bekommt und sie nicht hinein lässt, wenn Erika an ihrer Tür klingelt. Einmal hat sie sogar die Polizei gerufen, weil sie dachte, dass Erika sie bestehlen wollte.
Aber Janas Mama nennt auch Jana manchmal „schusselig“, zum Beispiel, wenn Jana die Hausaufgaben im Lesen vergessen hat, oder wenn sie eins ihrer Kuscheltiere nicht mehr findet. Jana versteht das nicht. Manchmal findet man etwas nicht. Dann muss man es eben suchen. Das ist nicht schön, aber das passiert. Aber wie kann man vergessen, dass jemand keinen Kakao mag? Oder dass man jeden Tag von einer Pflegeschwester Besuch bekommt?
Jana mag Schwester Erika. Sie ist eine fröhliche Frau mit braunen Wuschelhaaren, die ein bisschen komisch deutsch spricht. Sie kommt nämlich eigentlich aus Polen, und deswegen klingen die Wörter manchmal komisch oder sogar falsch. Ab und zu sagt ihr Jana ein Wort richtig vor, und Erika bringt ihr dafür ein bisschen Polnisch bei. Jana versteht nicht, wie man vor Erika Angst haben kann, sie kommt doch schon seit dem letzten Frühling zu der Großmutter.
Wenn Oma und Jana also beide „schusselig“ sind, wie die Mama sagt, warum ist das dann so verschieden?
Da kommt die Oma aus der Küche zurück, und Jana hat keine Zeit mehr zum Überlegen. Sie hat ihren Milchtopf dabei und zwei Tassen. „Entschuldige, Jana, ich musste noch die Ziegen in den Stall bringen, darum hat es ein bisschen gedauert. Aber hier ist dein Kakao.“ Oma Anna stellt eine Tasse vor Jana hin und gießt ihr den heißen Kaba ein. „Oma ... ich mag grad keinen Kakao, tut mir leid“, sagt Jana leise. Oma Anna hat überhaupt keine Ziegen. Was sie wohl stattdessen getan hat? Manchmal, wenn sie so „schusselig“ ist, dann verwechselt sie, was früher war und was heute ist. Früher hatte sie zwei Ziegen. Aber das ist schon lange her, solange, dass Jana sich nicht einmal daran erinnern kann.
Oma Anna schaut traurig aus. „Du magst keinen Kakao? Habe ich nicht genug Zucker hinein getan?“ „Nein, Oma, ich mag überhaupt keinen Kaba ... kann ich mir Orangensaft holen? Du brauchst nicht mitgehen. Ich weiß, wo er ist.“ „Ja, Kind, hol dir ruhig welchen. Was mache ich nur mit so viel Kakao? “ Sie schaut bekümmert in den Topf, der voll ist mit braunem, dampfenden Kaba.
Als Jana mit einem Glas Orangensaft wiederkommt, schaut Oma Anna sie an. „Ich habe es wieder vergessen, stimmt´s? Du hast mir bestimmt gesagt, dass du keinen magst.“ Da kann Jana nicht mehr. „Ja“, sagt sie laut. „Ganz oft sogar. Bestimmt tausend mal! Warum kannst du dir das nie merken? Bist du doof?“
Erschrocken blickt Jana ihre Großmutter an. Das letzte wollte sie gar nicht sagen. Das sagt ihr Bruder immer zu ihr, wenn sie mal etwas vergessen hat und er sie ärgern will. Jetzt sind diese gemeinen Worte ihr einfach aus dem Mund heraus geschlüpft, ohne, dass Jana sie zurückhalten konnte. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Oma macht das ja schließlich nicht absichtlich! Sie ist „schusselig“, aber trotzdem ist sie Janas Lieblingsoma. Jetzt sitzt sie aber auf dem Stuhl, als wäre gerade jemand gestorben, ihre Augen sind groß, die Falten in ihrem Gesicht lassen sie ganz alt aussehen. Und Jana bemerkt, dass die Augen von Oma Anna ziemlich nass sind, als ob sie gleich weinen müsste.
„Oma“, sagt sie vorsichtig. „ ... es tut mir Leid.“ Ganz leise kommen diese Worte aus ihr heraus, man kann sie kaum hören. Und da sind die Tränen plötzlich auch in Janas Augen und laufen herunter und dann weinen beide. Oma Anna nimmt Jana in den Arm, und Jana spürt ihre Tränen in den Haaren. Dafür weint sie selbst gerade Omas Bluse voll, bis der weiße Stoff ganz durchsichtig ist.
Als beide mit Weinen fertig sind und ganz verschnupfte Nasen haben, sagt Oma Anna: „Es ist sicher ganz schön schwierig, wenn du keinen Kaba magst, und ich dir dauernd welchen koche.“ Jana tun ihre Worte von vorher immer noch sehr Leid. „Ja, Oma ... aber ich weiß, dass du nichts dafür kannst. Du bist „schusselig“, das sagt Mama immer ...“ „Was dir die Mama nicht gesagt hat, Jana, das ist das: ich bin nicht nur schusselig. Ich bin eigentlich richtig krank. Ich vergesse so vieles. Manches fällt mir irgendwann wieder ein, aber vieles auch nicht. Vor allem Sachen aus meiner Kindheit, die weiß ich alle noch. Aber ich habe vergessen, was gestern alles passiert ist. Manchmal weiß ich nicht mal mehr, warum ich hier bin und nicht in meinem alten Haus. Ich weiß nicht, warum ich alleine bin, warum Opa Heinz nicht mehr da ist.“ Opa Heinz, an den kann sich Jana gerade so erinnern. Aber er ist vor über zwei Jahren gestorben. Oma Anna erklärt weiter. „Dann hab ich Angst, Jana. Kannst du dir das vorstellen? Wenn du dich plötzlich gar nicht mehr auskennst? Wenn nichts so ist, wie du glaubst?“
Das kann Jana, ein bisschen zumindest. Sie stellt sich vor, dass sie aufwacht und nicht in ihrem eigenen Zimmer ist. Ihr Schlafteddy liegt nicht neben ihr, da ist nur ein großes Bett, ohne Kuscheltiere. Sterne sind auch keine an der Zimmerdecke, und ihre Malsachen liegen nicht auf dem Tisch! Jemand kommt ins Zimmer, den sie noch nie gesehen hat, und will sie aufwecken und sie zum Frühstück rufen. Das ist nicht Mama! Eine fremde Frau, die ganz fremd riecht, mit einer Stimme, die Jana noch nie gehört hat ...
Jana schaut Oma Anna an. „Das ist ja furchtbar!“, flüstert sie, „Was musst du manchmal für Angst haben!“ Und sie nimmt Oma Anna nochmal in den Arm, nicht wie vorher, als sie beiden weinen mussten, sondern richtig fest. Jana hat viel Kraft, und mit der drückt sie ihre Oma jetzt, dass die kaum mehr Luft bekommt. Und als sie sie wieder loslässt, guckt sie auf den Milchtopf, wo der Kaba inzwischen kalt geworden ist.
„Oma ...“, sagt sie langsam, „eigentlich habe ich den Kakao nie wirklich probiert ... ich finde immer, er guckt so grauslich aus, so braun ...“ Sie lächelt verlegen. „Kannst du mir mal die Augen zuhalten, damit ich versuchen kann, ob er mir schmeckt?“