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Dies ist mein Beitrag zu dem, auf einer anderen Seite aufgeschriebenen Wettbewerb "für anderen unsichtbar".
Kai Braschke
Als Kai in der dritten Klasse neu hinzukam, war Thorstens Schicksal besiegelt. Ohne, dass je etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre, musterte ihn Kai mit abschätzigen und herausfordernden Blicken, so als sähe er in ihm einen Kontrahenten. Thorsten hatte sich das nicht erklären können, denn immerhin war Kai mindestens einen halben Kopf größer als er, dazu schlank, auch wirkte er so, als treibe er Sport. Thorsten hingegen war klein, dick, weizenblond und sommersprossig. In Sport eine Niete. Deswegen verlachten ihn die meisten aus der Klasse und das vor allem, wenn der Sportlehrer zu ihm hinüberrief: „Hey, steh nicht nur zur Zierde auf dem Feld!“, oder: „Los jetzt, setz deinen Hintern in Bewegung!“
Am Anfang hatte ihm das noch nicht so viel ausgemacht, da hatte er sogar darüber gelacht, denn immerhin hatten ihn seine Klassenkameraden in den Pausen noch mitspielen lassen. Freilich, bei Jungs fangen die Mädchen hatte er nie gut mithalten können. Da waren ihm Katja, Susanne, Claudia und auch Tina immer davongelaufen. Aber dann war er eben als Wache vor dem Nest stehengeblieben, breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen. An ihm käme keine vorbei! Doch wenn Tina allein im Nest war und ihn bat, sie wieder hinauszulassen, gab er manchmal nach. Sie war klein, schlank und wenn sie rannte, flogen ihre Zöpfe. Das mochte er.
Mit der Zeit hatten sich die anderen allerdings von ihm abgewandt. „Ey, geh uns aus der Sonne!“, oder: „Tholly, du stinkst!“, waren so Sätze gewesen, die ihn zunächst verwirrten, späterhin verunsicherten, zumal ihn die Klasse auch immer öfter „Strebertholly“ nannte, und das nur, weil er in Mathematik sehr gut war und es nicht begreifen konnte, dass es andere schwer mit der schriftlichen Division hatten. Für ihn war das alles puppenleicht, einmal vom Lehrer vorgerechnet, hatte er es schon verstanden und überlegte sich sogar, wie er es noch einfacher angehen könnte. Ja, solche Knobeleien mochte er, denn sie forderten ihn heraus. Und als ihnen der Lehrer eine Zusatzaufgabe gab, sie sollten sich daheim dransetzen und alle Zahlen von 1 bis 100 addieren, präsentierten die meisten anderntags lange Zahlenkolonnen, in seinem Heft stand indes: 50 mal 101 = 5050.
Natürlich sollte er erklären, wie er darauf gekommen sei und er sagte, leicht errötend und unter Herzrasen: „Ich habe 1 plus 100 gerechnet, dann 2 plus 99 und so weiter, 3 plus 98, jedes Mal kommt 101 heraus, das insgesamt 50mal.“
Vom Lehrer erhielt er dafür eine „1“, von der Klasse erntete er ein „Schweinchen Oberschlau“.
Das aber war nichts gegen das, was er unter Kai erleben musste. Alsbald verschwanden ihm Sachen aus der Schultasche. Einmal war es sein Hausaufgabenheft, dann waren es seine Federtasche und der Zirkelkasten, die er vermisste und erst nach der Stunde in der Ecke neben dem Schrank an der Rückwand des Klassenzimmers hatte liegen sehen. Er hatte versucht, keine Miene zu verziehen, während sie über ihn gelacht hatten. Nur einer war ruhig geblieben: Kai. Der hatte auf seinem Platz in der mittleren Reihe gesessen und stierte ihn an.
Ein anderes Mal waren Sascha und der mickrige Freddy in der Pause auf ihn zugekommen und hatten ihm freundlich lächelnd gesagt, dass er wieder mitspielen dürfe, wenn er zeige, dass er Mut hätte und sich auf das Fensterbrett vom Jungenklo setzte. Er hatte ihnen geglaubt.
Drei Jungen standen hinter ihm, die anderen unter dem Fenster, in einem Winkel des Pausenhofes, und einer rief sogar: „So, nun baumle mit den Beinen.“ Es war nicht Kai gewesen. Der aber stand hinter den anderen, so als hielte er sie alle zusammen, und starrte ihn mit hasserfülltem Blick an, nur um dann plötzlich die Hand zu heben und eine Geste mit Zeige- und Mittelfinger zu vollführen, die seine baumelnden Beine imitieren sollte. Thorsten sah nach unten und hielt sich krampfhaft am Fensterbrett fest.
In diesem Augenblick hatte er gewusst, dass Kai hinter all dem steckte. Und er fragte sich nicht zum ersten Mal, weswegen er ihn auf dem Kieker hatte. Als er sich wieder beruhigt hatte, nahm er sich vor, mit Kai zu sprechen. Ein klärendes Wort, so dachte er, könnte helfen. Doch dann sah er sich ihm gegenüber: Kai stand mit vor der Brust verschränkten Armen und breitbeinig da und Thorsten sank der Mut. Er duckte sich und ging weg, während sich in ihm eine Wut auftat, die er nur mühsam unterdrücken konnte. Daheim aber schleuderte er die Schultasche in eine Ecke seines Zimmers, warf sich auf’s Bett, prügelte auf sein Kopfkissen ein und ließ den Tränen freien Lauf. Doch wenig später ertappte er sich dabei, wie er vor dem Spiegel stand und sich betrachtete. Im Grunde tat er das oft. Manchmal versuchte er sich anzulächeln, oft jedoch hielt er sich die geballte Faust unter die Nase. Nur an jenem Tag versuchte er, es Kai gleichzutun: den Blick starr geradeaus gerichtet, das Kinn leicht gereckt und die Arme vor der Brust verschränkt. Aber er war nicht Kai, sondern Thorsten. Ja, die anderen hatten recht, er war ein Fleischklops, fett, schlachtreif …
In der Klasse saß er allein, ganz hinten, an der Wand. Den Platz hatte er sich selbst gewählt, weil er sich hier am sichersten vor den anderen wusste. In den Pausen hockte er tief übers Buch gebeugt, lesend. Einmal hatte er etwas über die Einstein’sche Relativitätstheorie dabei, denn das interessierte ihn. Er überlegte sich gerade, wie es wohl wäre, auf einer Lichtwelle zu reiten, tief in den Kosmos hinein, als vor seiner Nase ein entrolltes Kondom landete.
„Na, schon mal probiert, Fetty?“, johlte es ihm ins Ohr. Er hob den Blick und sah sich Freddy und Paul gegenüber, sagte jedoch nichts. Was hätte er auch erwidern sollen? Stattdessen wurde er rot, wie bei allen sexuellen Anspielungen, und erntete dafür nur ein umso größeres Johlen. „Na, Fetty, willste nicht auch endlich mal?“
Auch Tina lachte. Gerade sie! In der zweiten Klasse hatten sie noch miteinander gespielt – meist Mutter-Vater-Kind hinterm Baume hockend und so vor den Blicken der anderen verborgen. Einmal hatte er sie gefragt, ob sie nichts dagegen habe, dass er dick sei, da hatte sie nur mit dem Kopf geschüttelt, sodass ihre Zöpfe wieder zu fliegen schienen, und erwidert: „Mein Papa ist auch dick.“
Wie unwirklich ihm all das nun vorkam, da er sie neben Claudia sitzen sah. Die hatte sich schon damals immer mehr in ihre Freundschaft gedrängt, bis er schließlich feststellen musste, dass sich Mutter-Vater-Kind nicht mit zwei Müttern spielen ließe. Und das Kind wollte Claudia nicht sein. Im Laufe der Zeit war Tina immer seltener zu ihm hinter den Baum gekommen, bis sie schließlich ganz wegblieb und stattdessen mit Claudia eingehenkelt über den Schulhof stolzierte und sich über alles kringlig lachte. Vielleicht, so war es ihm damals durch den Kopf gegangen, ist das der Lauf der Welt. Zunächst spielen Jungs und Mädchen miteinander und schließen Freundschaft, nur, um ab einem bestimmten Alter miteinander zu fremdeln, dann auseinanderzugehen und sich ihren Geschlechtsgenossen zuzuwenden. Erst später fänden sie sich wieder, verliebten sich ineinander und würden Mütter und Väter, so, wie er und Tina es einst gespielt hatten. Das hatte er sich immer wieder gesagt, wenn er sie sah.
„Wirst deinen Dicken schon auch mal gebrauchen können, oder weißte gar nicht, wo sich der verkriecht unter all den Speckschichten?“, riss ihn Freddy aus seinen Gedanken, schnappte sich das Kondom und ließ es vor seiner Nase umherbaumeln. „Und wenn du ihn gefunden hast, wird Handarbeit das einzige sein, was …“
Thorsten wurde nur umso röter und wünschte sich augenblicklich, dass sich der Boden unter ihm auftäte und er in ihm verschwinden dürfe. Gleichzeitig wusste er Kais verächtlichen Blick auf sich gerichtet. Wie eine Spinne im Netz hockte er auf seinem Stuhl in der mittleren Reihe, einen Tisch vor ihm, und weidete sich an Thorstens Scham. Kai war es doch, der das Kondom mit in die Schule gebracht hatte. Thorsten jedenfalls meinte aus den Gesprächen der anderen vernommen zu haben, dass der schon mal hatte – klar, bei seiner Größe … Und wenn er es machte, dann nur mit Kondom zum Schutz.
Thorsten wandte sich ab und wieder dem Buch zu. Vielleicht gelänge es ihm ja noch einmal auf der Lichtwelle zu reiten? Wenn er sich nur stark genug konzentrierte, hörte er vielleicht auch die unendliche Stille des Weltalls?
„Liest’n da Presskopp?“, fragte ihn Paul und wollte sich das Buch schnappen. Doch Thorsten zog es blitzschnell zu sich heran. Die Relativitätstheorie, nein, die wollte er sich nicht auch noch wegnehmen lassen.
„Fettauge“, kam es da von Freddy, dann endlich schellte es zur Stunde und Thorsten war vorerst wieder in Sicherheit. Er atmete auf, doch nicht für lang, denn nun hatten sie Biologie, ein Fach, das er nicht mochte. Es bestand ja nur darin, irgendetwas auswendig lernen zu müssen, um es dann herbeten zu können. So etwa, dass es Kreuzblütler gab und auch Korbblütler und wie die hiesigen Singvögel hießen. Gut, das war ja noch interessant. Überdies mochte er die Natur, liebte sie sogar. Bäume vor allem. Aber dies Auswendiglernen, das Was, Wo, Wie? lag ihm nicht. Wenn ihm etwas nicht sofort einging, dann konnte er es auch nicht einfach in seinen Kopf hineinbekommen. Sah er sich dazu aber gezwungen, wurde er unruhig, unkonzentriert, fahrig. Nein, Biologie war nicht Seins!
Und dann hieß es plötzlich von Herrn Seiffert, dem Biologielehrer, sie sollten sich in Zweiergruppen zusammenfinden, um gemeinsam Pflanzen sammeln zu gehen …
… in Zweiergruppen …
Natürlich entlud sich da wieder eine Salve über ihm. „Der Thorsten kann alleine geh’n, der ist ja fett genug für zween“, jauchzte Sascha und klatschte in die Hände, wohl selbst hocherfreut über diesen gelungenen Reim. Sofort fielen einige in sein Gelächter ein.
Herr Seiffert schlug mehrmals mit der flachen Hand auf den Lehrertisch, ehe er dem Treiben durch ein lautes: „Ruhe, aber sofort!“, ein Ende setzen konnte. Und er, Thorsten, musste sich derweil bemühen, keine Miene zu verziehen. Aber das strengte ihn an, sehr sogar. Oft hatte er rasende Kopfschmerzen, wenn er die Schule verließ. Auch heute kündigten sie sich wieder an.
„Ihr sammelt mit eurem Partner übers Wochenende heimische Pflanzen und versucht sie zu bestimmen. Am Montag bringt ihr sie mit in die Schule und wir sprechen darüber. Ist das klar?“
Ein gähnendes Nicken war die Antwort. Schnell aber hatten sich die Grüppchen gefunden. Tina ging natürlich mit Claudia, ihrer Busenfreundin. Die beiden zeigten sich neuerdings sogar im Partnerlook. Die kleine schlanke Tina mit der großen Claudia. Die hatte schon Brüste – und wenn er sich nicht irrte, trug sie sogar einen BH. Sie hatte sich auch zu schminken begonnen. Tina tat es ihr gleich. Doch das wirkte nicht. Gern hätte ihr Thorsten gesagt, wie dämlich sie damit aussah. So, als wäre sie in einen Farbeimer gefallen. Nutten malten sich so an.
Die Schulglocke schellte und läutete das Wochenende ein. Herrn Seifferts Wünsche gingen in einem Stuhlrücken, Fußscharren und Lachen unter. Rasch leerte sich die Klasse. Nur Thorsten blieb sitzen und holte zum ersten Mal an diesem Tag tief Luft, denn er war endlich allein. Allein auch würde er sich an seine Arbeit machen. Und das sei, so sagte er sich, auch besser, als mit irgendeinem dieser Typen zusammensitzen zu müssen. Klar, wenn er sie einzeln traf, waren sie bis auf wenige Ausnahmen lammfromm und taten sogar so, als würden sie sich mit ihm anfreunden wollen. Er sei ja ein ganz dufter Typ … Aber sobald sie wieder in der Gruppe waren und von Kai angestiftet wurden, hatten sie alles vergessen. Da war er wieder nur Fetty und Rolly und Presskopp. Das hatte er schon so oft erlebt, zu oft, um daraus nicht seine Lehren zu ziehen. Und überdies: sie waren insgesamt 25 Kinder in der Klasse. 25, seitdem Kai bei ihnen war. Das hatte Herr Seiffert wohl übersehen. Oder er wusste inzwischen, dass Thorsten seiner eigenen Wege gehen würde und hatte ihn gar nicht mehr mitgezählt. Die letzte Partneraufgabe, die Wetterbeobachtungen, hatte er ja auch für sich allein erledigt und von Herrn Seiffert waren keine Fragen gekommen, wenn auch eine schlechte Note, da Thorsten mittendrin die Lust daran verloren hatte, die Tabelle weiterzuführen. Was sollte er auch schreiben, wenn es ständig regnerisch war? Es regnet, es regnet, die Erde wird nass ... Ja, das hatte er unter seine Arbeit geschrieben – ein Versuch, die Klasse irgendwie für sich einzunehmen.
Am Samstagmorgen ging er, nach dem Frühstück mit seiner Mutter, allein in den nahegelegenen Wald – das tat er gern. Er mochte den Wald, bezeichnete ihn sogar heimlich als seinen großen Bruder, den er sich immer gewünscht hatte. Einen, der sich schützend vor ihn stellte, wenn die anderen gemein zu ihm waren; einen, der ihn daran hinderte, auf dem Fensterbrett des Jungenklos zu balancieren, und ihm stattdessen die Kraft gäbe, den Anderen einen Vogel zu zeigen; einen, der ihn davon abhielte, so viele Chips und Süßes in sich hineinzufressen, wenn er erschöpft aus der Schule kam; einen, der neben ihn träte, wenn er sich im Spiegel betrachtete, und seinen Arm um ihn legte. Doch er war ein Einzelkind und wuchs bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Allein, da sie der Vater bald nach seiner Geburt verlassen hatte. Und ein neuer Partner kam der Mutter nicht ins Haus. Thorstens Vater hatte ihr gereicht. Nie wieder würde sie sich auf einen Mann einlassen, ihm ihr Herz öffnen, nur, um dann erneut so tief verletzt zu werden. Die ewige Liebe habe er ihr geschworen und dann war herausgekommen, dass er sie schon Jahre vor Thorstens Geburt mit einer anderen Frau betrogen hatte.
Früher hatte er es gemocht, wenn sie ihm mit einer Hand übers blonde Haar gestrichen war und ihn mein Goldkind oder auch mein Sommersprösschen genannt hatte, doch jetzt bestand er auf Thorsten – im Grunde ein kraftvoller Name, da Thors Stein oder Hammer bedeutend. Ja, hätte er nur solch einen Hammer … Nein, er war nicht mehr ihr Goldkind, auch nicht ihr Sommersprösschen.
Aber sie nannte ihn weiterhin so, vor allem dann, wenn sie sich allein fühlte und rührselig wurde. Er hatte sie deswegen auch schon einmal angebrüllt, weil er es nicht mehr aushielt.
„Thorsten, ich heiße Thorsten“, hatte er mit sich überschlagender Stimme geschrien.
Sie hatte ihm eine Tafel Schokolade geben wollen – eine ganze, um ihn zu beruhigen. Daraufhin war er so wütend geworden, dass er sich unter Tränen Schuhe und Jacke angezogen hatte und verschwunden war, hinaus in den Wald.
Erst dort hatte er sich wieder beruhigen und frei durchatmen können, ehe er sich an einen Baumstamm lehnte und die borkige Rinde berührte. Ja, der Wald war wie ein großer Bruder für ihn, denn er verstand und tröstete ihn. Wie? Das fragte sich Thorsten und wusste doch nur dieses wunderbar befreiende Gefühl in sich, wenn er den Blick hob und durch die Kronen der Bäume den Himmel erblickte. Oder, wenn er die Augen schloss und dem Wind lauschte. Wie es rauschte, hoch eben in den Wipfeln. So mächtig, gewaltig. Als vernähme er das Tosen der See. Oder, wenn er sich, auf seiner Lieblingslichtung angekommen, niederließ, und die Sonne schien, die frühlingshafte, und er die Jacke ablegte und so verharrte. Ganz allein mit sich, umgeben von hohen Kiefern und Eichen, Linden und Buchen – wenn gegen Mittag die Luft stillzustehen schien und kein Laut an sein Ohr drang – so, wie auch jetzt. Wenn selbst die Vögel in ihren Nestern zu schlummern schienen und nur der intensiv-harzige Geruch der Kiefern in seine Nase drang. Er breitete seine Jacke im Gras unter einer Linde aus und legte sich nieder, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und blinzelte hinauf in den Himmel, den herrlich weiten, blauen Himmel, die Stille genießend und auch das Wissen darum, dass ihn hier niemand finden würde. Denn, wann immer er hierherkam – auf diese Lichtung –, meinte er zu spüren, dass der Wald seine Spuren verwischte, selbst für die Tiere schien er unsichtbar. Einst waren Rehe aus dem Dickicht zu ihm auf die Lichtung getreten. Eine Ricke mit ihrem Kitz. Da hatte er nur dagesessen, sich nicht gerührt und in deren Richtung geschaut. Und sie waren ihm langsam nähergekommen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er hatte den Atem angehalten. Es trennten sie keine drei Meter mehr und ihm war es so, als habe sich ein Sonnenstrahl im Fell des Kitzes verfangen. Es war so winzig klein, verletzlich. Schon wollte er die Hand nach den Tieren ausstrecken, als sie, plötzlich von etwas aufgeschreckt, im Wald verschwanden. Geräuschlos und keinerlei Spuren hinterlassend. Und ihm sah der Wald entgegen, der tiefe. Schweigendes Grün. So, wie auch jetzt, da er hier auf der Lichtung lag, allein mit sich. Grün wirkte beruhigend, entspannend. Er hatte sein Buch mitgenommen, wollte lesen, ehe er zu sammeln begänne. Und er spürte eine angenehme Schwere in sich, schon senkten sich seine Lider – die Sonne schien ihm auf den Bauch.
Es knackte im Unterholz und Thorsten begann sich ganz dem Wald und seinen Geräuschen hinzugeben, auch der Stille, die ihn alsbald umfing. Wie herrlich es war, endlich einmal loslassen zu können und nicht ständig die Blicke der anderen auf sich gerichtet zu wissen. Da knackte es erneut – diesmal genau neben seinem Ohr. Und es war ihm so, als zerbreche jemand extra einen dürren Zweig, um auf sich aufmerksam zu machen.
Thorsten riss die Augen auf, schnappte nach Luft, fuhr hoch – vor ihm stand Kai, der ihn verächtlich von oben herab angrinste und den zerbrochenen Zweig wegwarf.
„Was … was?“, stammelte Thorsten und sah sich hastig um, derweil der Schreck, die Angst nach ihm griffen und ihm die Kehle zuzudrücken begannen.
„Keine Panik, ich tu dir nichts.“ Kai fletschte die Zähne, sodass sein Lachen zu einer beißenden Grimasse geriet.
„Wie … wie bist du hierhergekommen?“, keuchte Thorsten und räusperte sich.
„Schon vergessen?“, spie ihm Kai gehässig entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir wurden einander doch zugeteilt.“
„Gar nicht wahr!“
„Aber ja doch. Seiffert sagte noch zu mir: Geh mit dem, sonst schafft der’s wieder nicht.“
Thorsten zog die Knie an, umfasste sie, so als könne er sich dadurch schützen und starrte wortlos zu Kai hoch. Der registrierte es mit einem verächtlichen Grinsen. „Hab dir doch gesagt, ich tu dir nichts.“
Doch das beruhigte Thorsten keineswegs. Er schnappte wieder nach Luft, wollte die Hände vors Gesicht schlagen, zwang sich jedoch, keine Regung zu zeigen.
„Wie … wie hast du mich gefunden?“, stammelte er schließlich.
„Bin dir gefolgt.“
„Was?“
„Ist ja nicht so schwer.“ Kai winkte ab.
„Aber, dass wir zusammenarbeiten sollen, ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ich arbeite immer allein, weil ich mit den Anderen nicht kann“, keuchte Thorsten.
„Pfeife!“, spie ihm Kai entgegen.
„Wieso?“
„Na sieh dich doch an!“, blaffte Kai und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ich … ich weiß, dass ich fett bin“, schnappte Thorsten.
„Pfff, fett … “
„Schlachtreif, wie ihr es nennt …“ Thorsten schlug das Herz bis zum Hals, denn so offen hatte er noch nie mit einem seiner Klassenkameraden gesprochen.
„Wie ihr es nennt“, äffte ihn Kai nach. „Wie ihr es nennt? Als ob’s darum ginge!“
„Worum geht’s dann?“
„Du feierst dich ganz schön, weißt du?“
„Was? Ich? Wie?“
„Nimmst dich zu wichtig in deiner Fettseligkeit!“
„Fettseligkeit?“
„Ich bin zwar fett, aber die anderen sind doof!“, säuselte Kai in einem unangenehmen Singsang.
„Und wenn’s so wäre? Was geht’s dich an?“, fauchte Thorsten wütend.
„Was mich das angeht? Man, du gehst mir auf den Sack mit diesem Getue.“
„Tja“, erwiderte Thorsten und holte tief Luft. Mut brauchte er, Mut! „Du musst ja nicht täglich Verarschungen und Sticheleien über dich ergehen lassen. Und dir Reime auf deinen Namen anhören.“
„Aus dir spricht nichts als Selbstmitleid“, höhnte Kai.
„Na, ich will dich mal sehen, wenn sie dich ins Klo einsperren und grölend vor der Tür stehen und brennendes Papier zu dir werfen. Aber ich vergaß, das werden sie nicht …“
„Werden sie auch nicht …“
„Ja, weil du …“
„Ja? Weil ich …?“
„Warum hast du’s auf mich abgesehen?“, rief Thorsten und Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. „Ich meine, wenn ich dich doch so sehr nerve, warum lässt du mich dann nicht einfach in Ruhe? Warum lasst ihr alle mich nicht einfach in Ruhe?“
Kai bleckte die Zähne, grinste. „Jammere du nur, das kannst du am besten!“
„Lass mich doch endlich in Ruhe!“, erwiderte Thorsten und spürte, wie seine Stimme sich zu überschlagen drohte.
„Warum sollte ich das denn?“, kam es spitz zurück.
„Es macht dir Spaß, mich zu triezen, stimmt’s? Du quälst gerne, stimmt’s?“
„Wer sagt das?“
„Tu doch nicht so! Du bist es doch, der … der … hinter allem …“, stammelte Thorsten und räusperte sich erneut.
„… der hinter allem steckt …? Hinter deinem ganzen Unglück?“ Kais Nasenflügel blähten sich und er sah wiederum verächtlich auf Thorsten hinab.
Dem hämmerte das Herz im Leib und der Angstschweiß koch ihm übern Rücken, als er schließlich den Blick senkte.
„Pffff“, spie ihm Kai entgegen, „was hätte ich denn davon, mir an dir die Finger dreckig zu machen, du Würstchen!“
„Würstchen – da haben wir’s … Immer nennt ihr mich so. Würstchen, Pfeife, taube Nuss.“
„Na, weil du eines bist. Erbärmliches Würstchen!“
„Seitdem du da bist …“
„…. geht’s dir noch viel schlechter? Oh, was tust du mir leid!“
„Man, hör endlich auf“, jammerte Thorsten und in seiner Not presste er sich die Hände auf die Ohren. „Hör damit endlich auf!“
„Dann hör du damit auf!“, grollte Kai.
„Womit denn bitte? Womit soll ich aufhören?“ Thorsten war zum Heulen zumute.
„Mit diesem Getue!“, schnauzte Kai. „Die Lehrerin hatte ganz recht, als sie damals sagte, dass du immer und ewig nach Aufmerksamkeit lechzt.“
„Was?“ Thorsten fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, seiner Sinne kaum Herr. Was hatte Kai da gerade gesagt? Er rappelte sich auf. Umständlich. Stand dann da, sah Kai so fest wie möglich in die Augen. Vergessen waren Wut und Angst, zurück blieb allein die Erschütterung darüber, was er glaubte, vernommen zu haben. „Kai, woher weißt du das?“, schnappte er atemlos.
„Ich weiß noch viel mehr“, kam es von Kai ganz ruhig, so als spräche er übers Wetter. Dazu aber dies süffisante Lächeln. „Viel, viel mehr … Zum Beispiel weiß ich“, und er trat vor Thorsten und stupste ihn mit dem Zeigefinger in die Schulter, „dass du ein Auge auf Tina geworfen hast – und das schon seit Kindertagen – dich aber nicht rantraust. Und recht tust du. Du hättest bei der sowieso keine Chance. So, wie du aussiehst.“ Er sagte es und grinste dazu, indem er wieder die Zähne bleckte, raubtierhaft. Thorsten wollte sich abwenden, weil er noch immer nicht verstand, ja, seinen Sinnen nicht traute. Das konnte nicht, das durfte doch nicht wahr sein. In seinem Bauch begann es zu rumoren und Übelkeit packte ihn. Wie konnte dieser Kai so viel von ihm wissen? Gut, dass er Tina auf besondere Weise mochte … aber, dass seine Lehrerin das über ihn gesagt hatte, dereinst in der dritten Klasse, als nur er und seine Mutter bei ihr … Thorsten schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Verzweiflung packte ihn.
„Was?“, stammelte er dann, und noch einmal: „Was?“
„Und ich verrate dir noch was“, fuhr Kai ungerührt fort und grinste triumphierend. „Es nützt dir gar nichts, vor deiner Mutter wegrennen zu wollen und hier im Wald zu hocken, sie holt dich immer wieder ein. Sie nennt dich Sommersprösschen und du sie Mamilein. Ich weiß auch, dass du dich abends von ihr ins Bett bringen lässt – wie ein kleines Kind – und dass du es magst, wenn sie dir ein Nachthupferl bringt – auch nach dem Zähneputzen noch. Und weißt du, warum sie das tut? Weißt du’s? Na? Sie füttert dich, sie mästet dich, damit du bei ihr bleibst – dein Leben lang, dein Leben lang! Damit du immer ihr Goldkind bleibst.“
„Das kann doch nicht sein“, keuchte Thorsten, „das …“
„Du siehst, ich weiß so einiges“, triumphierte Kai. „Und ich weiß auch, dass du heimlich daheim vorm Spiegel stehst und mich zu imitieren versuchst. Und ich verrate dir kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass dir das nie gelingen wird. Niemals!“
„Was? Woher … woher … Das kann doch nicht sein“, jammerte Thorsten und trat von einem Bein aufs andere, so als müsse er ganz dringend austreten. Dabei ließ er Kai nicht aus den Augen und schüttelte den Kopf.
„Woher ich das weiß? Denksportaufgabe!“, knallte der ihm entgegen. „Macht vielleicht mehr Spaß als diese hirnrissige Sammelei und das Lesen unnützer Bücher.“ Und er deutete auf das Physikbuch, dad neben Thorstens Jacke lag.
„Wer bist du?“, stieß Thorsten mit gepresster Stimme hervor.
„Ich bin Kai Braschke, Schüler der Klasse 5b, so, wie auch du“, kam es von dem seelenruhig und Thorsten packte eine Angst, die ihn fast besinnungslos machte. Schon kündigten sich wieder Kopfschmerzen an und Übelkeit breitete sich in ihm aus. Er meinte, sich übergeben zu müssen.
„Das kannst du nicht alles wissen. Wer … wer hat dir das gesagt?“ Er wollte auf Kai los, ihn packen – diesen großen Kerl, der ihn um fast eineinhalb Köpfe überragte und wie eine Mauer vor ihm stand, die Sonne im Rücken. Doch der wich zurück und hob die Hand, sagte: „Ich weiß alles über dich“ und grinste ihn so gehässig an, dass Thorsten zusammenzuckte. „Hast es schön hier. Ein Nest nur für dich ganz allein. Du wirst das schon schaffen mit dem Sammeln, oder? Und ja, du hast recht, Seiffert schickte mich nicht in die Spur …“
Mit diesen Worten wandte er sich um und Thorsten, wankend und tränenblind, schrie ihm hinterher: „Ich hab’s gewusst, immer gewusst – du bist böse! Böse!“
„Bin ich das?“, kam es von Kai wie ein Echo, ohne, dass der sich noch einmal umdrehte. Doch Thorsten wusste, dass er grinste, hämisch grinste, böse grinste, dass sich in seinem Gesicht die Freude darüber spiegelte, dass er ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte.
„Du bist böse, du hast das alles getan, um … um … Ich hab’ mir das nicht eingebildet. Nicht eingebildet …“, krächzte Thorsten, dann erstarb seine Stimme.
Am Montagmorgen, da all die anderen ihre Sammlungen vorstellten, war Thorsten der Einzige, der nichts vorzuweisen hatte. Dafür kassierte er eine 6, die ihm Lehrer Seiffert strafenden Blicks eintrug, nachdem er keine Antwort auf die Frage nach dem Warum? seiner Leistungsverweigerung gegeben hatte. Er hatte einfach den Mund nicht aufgemacht, denn was hätte er auch sagen sollen? Dass er es vergessen hatte? Es war ihm egal, was der Lehrer nun von ihm dachte. Auch, dass ihn daraufhin wieder eine Salve aus der Klasse traf. Er sei stumm und dumm. Na und? Vielleicht war er es wirklich?
Er hatte an diesem Wochenende keine Minute Ruhe gefunden und wenn es hochkam, nur zwei Stunden am Stück in der Nacht geschlafen. Eigentlich hatte er gar nicht zur Schule gehen wollen. Natürlich hatte seine Mutter bemerkt, dass es ihm nicht gutging, aber auf ihre Fragen hin, hatte er nichts herausgebracht. Es war ihm so, als sei ihm die Sprache abhandengekommen. Er konnte nur stammeln, sagte schließlich, dass ihm übel sei. Doch gerade als sie ihm einen Entschuldigungszettel schreiben wollte, stand er auf, raffte seine Sachen zusammen und ging. Er wusste, dass ihm daheim die Decke auf den Kopf fiele, wusste auch, dass ihm das Verkriechen nichts brächte. Und so hatte er sich in die Schule gequält und sich auf seinen Platz in der letzten Reihe an der Wand gesetzt.
Die Angst, Kai in der Schule wiederzusehen, war unbegründet, denn der war nicht erschienen. Doch die Erleichterung über sein Fehlen schlug sogleich in Verwunderung um, denn auf dessen Platz saß Tony, ein kleiner und unscheinbarer Schüler, der, ebenso wie Thorsten, ein wenig schüchtern war, vielleicht sogar ängstlich, da er nur wenig mitarbeitete, sich jedoch auch sonst kaum an Klassenaktivitäten beteiligte und, wie Thorsten jetzt bewusst wurde, einer der wenigen war, die ihn noch nie verlacht hatten. Warum der nun aber ausgerechnet auf Kais Platz saß? Sollte er ihn fragen? Nach der Stunde? Was er da mache? Quatsch!
Und dennoch drängte sich ihm die Frage auf: Warum sitzt er jetzt auf Kais Platz? und auch: Wo hat er zuvor gesessen?, da in der Klasse, wie er bemerkte, doch gar kein anderer Platz mehr frei war.
Ein kaltes Frösteln packte ihn bei dieser Beobachtung, die sich nur langsam in seinem Geiste formierte und ihn zu einer Schlussfolgerung zwang, die seinen Verstand überstieg. Schwindel packte ihn und tiefes Unwohlsein. In der Klasse gab es keine freien Plätze, außer diesem einen.
Und so als wüsste Tony um Thorstens Gedanken, drehte er sich plötzlich nach ihm um, sah ihm in die Augen, lächelte dann. Thorsten schreckte zurück und war erleichtert, als Tony von Herrn Seiffert aufgefordert wurde, seine Sammlung vorzustellen und sich, leicht zusammenzuckend, wieder abwandte, nur, um stotternd zu sagen, dass er nicht viel gefunden habe. Thorsten nahm all das wie durch einen Nebel wahr. Er fühlte sich zugleich erschöpft, müde. Natürlich, der mangelnde Nachtschlaf machte sich bemerkbar. Er rieb sich die Augen, zwang sich dann wieder zu Tony zu sehen, der sich erneut umdrehte, ihn anlächelte, sich dann zu ihm hinüberbeugte, gar den Mund öffnete und flüsterte: „Schade, zusammen hätten wir mehr gefunden.“
Als Thorsten an diesem Nachmittag nach Hause kam, ging er nicht wie üblich in die Küche, um zu Mittag zu essen, sondern stieg sofort in sein Zimmer hinauf. Die Müdigkeit hatte ihm wieder Kopfschmerzen gebracht, auch fühlte er sich schlecht, fast krank. Er legte sich die Hand auf die Stirn, doch heiß war sie nicht. Dafür spürte er Übelkeit in sich aufsteigen. Er holte sich ein Glas Wasser aus dem Bad, setzte sich auf sein Bett, nahm einen Schluck, sann einen Moment lang nach. All diese in ihm ankommenden Gedanken, die ihn bedrängten und zwangen, sich auf sie zu konzentrieren – er konnte nicht mehr, wollte nicht mehr. War fix und fertig – ausgelaugt, leer. Ja, leer fühlte er sich. Und doch zwang ihn sein Verstand dazu, den Erlebnissen im Wald eine logische Erklärung beizufügen, auch dem, dass es in der Klasse nur 24 statt 25 Plätze gab. Doch diesmal konnte er dem Gedankenstrom ausweichen, sich abschotten. Er war zu müde, erschöpft. Noch einmal fuhr er sich mit der Hand über die schmerzende Stirn, stellte das Glas auf seinen Nachtisch und entledigte sich seiner Hosen und seines Pullovers. Dann legte er sich auf die Seite, zog die Decke bis unters Kinn. Schon war er im Begriff die Augen zu schließen, um endlich zu schlafen, als sein Blick den Spiegel streifte: da lag er, Thorsten, in seinem Bett, unter seiner Decke, die sich über ihm wie ein Zelt wölbte, ein großes, fast riesiges. Er sah sich genau in die Augen, in seine kleinen müden Augen. Rot gerändert waren sie und verrieten den Schmerz, der sich hinter seiner Stirn türmte. Schon wollte er sie schließen, als es ihm für den Bruchteil einer Sekunde so war, als blicke ihm ein ganz Anderer entgegen, ja, starre ihn an. Verächtlich grinsend.
Kai!
Unter lautem Keuchen zuckte Thorsten hoch. Auch meinte er Kais Stimme ganz nah an seinem Ohr zu hören, flüsternd: Und, weißt du nun, wer ich bin?
Augenblicklich wurde ihm kalt, eiskalt und er begann zu zittern, seine Knie schlotterten und seine Zähne schlugen heftig aufeinander, als er zu verstehen meinte, da ihm Kai wieder aus dem Spiegel entgegenstarrte. Dies kalte Grinsen. Die gebleckten Zähne. Das Gesicht raubtierhaft zur Fratze verzerrt.
„Mich ekelt vor dir. Du widerst mich an“, hörte er ihn sagen und spürte doch sogleich, dass er selbst seine Lippen bewegte. Dann holte er einige Male tief Luft und rief, von rasenden Kopfschmerzen umnebelt, seinem Spiegelbild entgegen: „Ich hasse dich!“ Dabei musste er sich am Bettgestell festhalten, um nicht zu fallen. „Ich hasse dich“, würgte er hervor, „denn du quälst mich, du tyrannisierst mich und lässt es zu, dass alle über mich lachen. Du bist das. Du! Du hast die ganze Zeit auf Tonys Platz gesessen, obwohl doch er da saß, und hast mir Angst gemacht. Verschwinde, sag ich dir! Verschwinde aus meinem Leben, Kai Braschke! Hörst du? Verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen!“
Und unter Aufbietung all seiner Kräfte hangelte er sich an seinem Bett entlang, hinüber zum Spiegel und sah sich lange in die Augen, während der Schmerz in ihm tobte, dann hob er eine Hand und berührte die kühle Scheibe, schauderte leicht und fragte leise: „Was meinst du, würde Tony mein Freund sein wollen?“