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Kaffeeküche
12. Februar
Franziska drückte auf den Knopf für doppelten Espresso und stieß eine Mischung aus Seufzen und Grollen aus. "Ich fass es nicht, was in der Besprechung gerade abgegangen ist. Wenn ich den Polygoncount für den Brustpanzer der Assassine noch weiter erhöhe, killt mich Xaver. Die Engine packt das doch nicht."
Gamedesigner Mike stand mit verschränkten Armen neben ihr. Unter seinem Hemd zeichnete sich der riesige Bizeps ab. "Management Decision. Wir müssen unseren Zielmarkt bedienen."
"16-jährige mit Triebstau? Ich glaube eher, dass unser spätpubertierendes Management ihre persönlichen Vorlieben mit denen unserer Kunden verwechselt."
"Hat doch keiner gesagt, dass du die Brüste größer machen sollst!"
"Mike, in den letzten zwei Jahren ist mein Bullshit-Detektor gewaltig gewachsen. Mehr Details bei der Brust einer weiblichen Figur heißt genau das. Sexistische Bastarde."
Mike wandte sich ab und seufzte.
Franziska musste kichern. "Mein lieber Mike, lass dich nicht veralbern. Wenn mich Sexismus abtörnen würde, hätte ich mir längst einen anderen Job gesucht. Als einziges Vögelchen unter lauter hungrigen Kätzchen bin ich einiges gewohnt. Aber was bleibt, ist die Frage nach dem Polygoncount."
Mike lächelte erleichtert. "Erstens: danke für die Klarstellung bezüglich Sexismus. Zweitens: Pfeif auf die zusätzlichen Polygone. Xaver und seine Jungs haben ein geniales neues Pipelining implementiert, ist der Hammer. Morgen wollen sie es präsentieren. Und drittens habe ich noch eine tolle Nachricht für das Team, die ich dir gerne als erstes mitteilen will: Gamespot macht eine Exklusiv - Preview."
"Exklusiv ...?" Franziska sah ihn misstrauisch an. "Das heißt doch, dass keine andere Seite es für wert hält, über unser Game zu berichten."
"Spielst mal wieder den Sonnenschein, was?", fragte Mike und lachte sein unsicheres Lachen. "Gamespot ist eine der größen Spieleseiten im Netz."
"Gibt ungefähr 20 größere", murmelte Franziska.
"Sonnenscheinchen!" rief Mike. "Mach's gut, muss jetzt in's Studio, heute lass ich die Beine wachsen!"
"Wachsen? Klingt ziemlich schwul."
Mike schien einen Moment verunsichert. "Äh - wachsen bezieht sich auf die Muskelmasse, nicht die Haare." Er stolperte hinaus.
18. Februar
Es herrschte gute Stimmung, die Welt von Warmonger nahm Gestalt an. Die von Mike und dem Management gewünschte Brustpanzerung, gefüllt mit üppigen Polygonen, war fertig gestellt. Franziska hatte dafür als kleine Retourkutsche die sowieso schon gewaltige Brust des Barbaren um eine volle Körbchengröße aufgeblasen.
Neben ihr war noch Programmierer Xaver in der Küche. Er aß seinen täglichen Nachtisch, Mutters Rührkuchen, und sah etwas missmutig drein. Er war klein und fast so dünn wie die anorexe Franziska, der man es aber dank der Schlabberklamotten nicht ansah.
"Wie geht's dir?" fragte Franziska.
"Danke der Nachfrage. Ich komm schon klar. Die Texturenpipeline der Raytracingeinheit hakt noch ein wenig, aber das bekomme ich in den Griff. Nur die Stunden machen mir manchmal zu schaffen."
"Auf wieviel bringst du es zurzeit?"
"Sechzig bis siebzig. Noch kein Crunch, aber meine Freundin nörgelt gelegentlich. An manchen Tagen frag ich mich ..."
Xaver verstummte, sein eben noch betrübtes Gesicht verwandelte sich innerhalb einer Sekunde. Als hätte er plötzlich etwas wiedergefunden, das er schon verloren geglaubt hatte.
"Was fragst du dich?" wollte Franziska wissen.
"Vergiss es, Franzi. Manchmal vergesse ich, dass ich den tollsten Job auf der Welt habe. Ich könnte für SAP arbeiten und das dreifache verdienen, ich könnte für die Regierung arbeiten und um fünf nach Hause gehen, aber dabei würde ich vor Langeweile draufgehen. Wir machen hier das geilste Rollenspiel der Welt, mit den besten Leuten, der neuesten Technologie. Und wir haben einen verfickten Billardtisch!"
Xavers neu gewonnene Fröhlichkeit war ansteckend. Franziska lachte und prostete ihm mit ihrer Kaffeetasse zu.
2. März
"Diese verdammten Wichser!" Xaver zeriss den Ausdruck in seiner Hand in hundert Fetzen und spuckte auf die Schnippsel. Franziska war auf der Hut. Oberflächlich war Xaver die Freundlichkeit in Person, aber er genoss es, seiner tief vergrabenen Wut gelegentlich Luft zu machen. Zum Kontrollverlust war es dann nur ein kurzer Schritt. Im Großraumbüro musste er sich zurück halten, doch die Kaffeeküche hatte dicke Wände.
"Ersteindruck: durchschnittlich! durch-schnitt-lich!! Wir reißen uns hier den Arsch auf, und diese Sesselpupser, die nicht mal wissen wie man das Wort Compiler buchstabiert, treten alles in die Tonne!" Sein Kopf war hochrot geworden. "Langweilige Spielwelt! Altbackene Story! Dass wir als erste eine echtzeitfähige Raytracingengine aus dem Boden stampfen, darauf scheißen sie!"
"Komm wieder runter, Xaver", bat Mike mit wackeliger Stimme. "Es ist nur eine Preview. Mich kotzt es ja auch an, aber spiel dich bitte nicht so auf hier!"
Xaver ging einen Schritt auf ihn zu, und da geschah etwas, das Franziska nicht so schnell vergessen würde. Der 1,90 große, 100 Kilogramm schwere Mike zuckte vor dem knabenhaften Programmierer zurück. Ohne dass er von ihm direkt angesprochen worden war, war Mike von Xaver eingeschüchtert.
Franziska musste intervenieren. Wenn jetzt das falsche gesagt oder getan werden würde, konnte das dem Team und damit dem Projekt extremen Schaden zufügen.
"Jungs! Wir sind doch heute alle ein bisschen durch den Wind." Sie lächelte tapfer. "Mike, was hältst du davon, wenn du rausgehst und dein Cardiotraining machst? Und Xaver, wie wär's mit einer Runde Billiard? Kannst deinen Frust an den Kugeln auslassen. Oder später an mir, wenn ich dich fertig gemacht habe."
Xaver sah sie einen Moment lang grimmig an, dann gesellte sich zum Stirnrunzeln ein leichtes Grinsen. "Kannst es gerne versuchen, Lady. In maximal 15 Minuten ist die Sache erledigt!" Mit einem kollektiven Atemzug war die ärgste Spannung verflogen, und sie gingen ihrer Wege.
23. April
Deep Crunch. Der Geldhahn würde am 1. August zugedreht werden, bis dahin musste das Spiel fertig sein. Billard war verpönt. Mittagspausen ebenso. In der Kaffeeküche herrschte primär Durchzugsverkehr. Rein, den fünften, zehnten oder fünfzehnten Espresso rausdrücken, wieder an die Arbeit. Zehn Stunden waren ein Luxus. 12 normal. 15 keine Seltenheit. Sechs bis sieben Tage die Woche.
9. Juni
Ein wunderschöner Juni, der vor Computerbildschirmen und hinter dicht geschlossenen Jalousien verbracht wurde.
Franziska taumelte benommen in die Küche. Pixel flirrten vor ihren Augen. Es fehlten noch 38 Animationskeys für 15 Kreaturen. Oder war es umgekehrt? Ihr Gehirn war Matsch. Qualität längst Nebensache. Privatleben eine ferne Erinnerung. Alles drehte sich nur noch um das Spiel. Spiel? Was für ein bescheuerter Ausdruck für das wichtigste Ding auf der Welt.
Eine Gestalt befand sich in der Küche. Kein Mensch, sondern eine menschenähnliche Kreatur saß in sich zusammengesunken auf dem verschlissenen Sofa. Sie stierte vor sich hin, nickte mit dem Kopf, murmelte unverständliches. Xaver. Franziska setzte sich neben ihn. "Du brauchst Schlaf, Mann."
Er drehte sich langsam zu ihr. Mehr Ränder als Augen. Der Blick ging durch sie hindurch.
Er sprach sehr leise: "Weißt du, dass mein Blickfokus auf 50 Zentimeter fixiert ist? Alles andere ist unscharf. Muss wohl damit leben. Hm."
"Verdammt noch mal Xaver, geh heim und schlaf dich aus!"
"Zeitverschwendung. Die Algorithmen, die mein Hirn im Schlaf ausbrütet, taugen alle nichts. Und solang ich das Multithreading - Problem nicht gelöst habe, träum ich sowieso von nichts anderem."
"Scheiße. Du bist echt krank in der Birne. Was ist eigentlich mit deiner Freundin?"
Xaver antwortete nicht. Nach einer Weile lächelte er plötzlich. "Willst du meine Freundin sein?"
"Du redest Bullshit."
"Wieso?" Xaver schaffte es endlich, seine unruhig rollenden Augen auf Franziska zu fixieren. "Wir leben hier doch praktisch schon zusammen. Sind vereint in guten wie in schlechten Zeiten. Und in ein paar Wochen kommt unser gemeinsames Kind auf die Welt."
Es erschreckte Franziska nur ganz kurz, dass sie den Vorschlag gar nicht so abwegig fand.
5. September
Die Releaseparty wurde aus Budgetgründen in der Kaffeeküche abgehalten. Die meisten Mitarbeiter hatten es vorgezogen, einige Tage lang auf die Gesellschaft der Kollegen zu verzichten.
"Es waren zwei harte Jahre", begann Mike mit seiner Ansprache. Jeder konnte sehen, dass er in den letzten Monaten einen guten Teil seiner Muskelmasse in Fett umgewandelte hatte. "Wir haben Blut und Wasser geschwitzt, aber dabei etwas Tolles erschaffen. Coder, Designer, Grafiker, und nicht zu vergessen unsere Helden von der QA - ich möchte euch allen danken." Einige der Anwesenden nickten.
"Nun zu der Zahl, auf die ihr alle wartet", fuhr Mike fort. Er atmete tief durch. "Warmonger ist direkt auf Platz drei eingestiegen. Gleich hinter dem Landwirtschaftssimulator 2015 und Euro Trucker 7. Ich gratuliere euch herzlich."
Ein Raunen ging durch den Raum. Geschlagen von virtuellen Kühen und der langsamsten Fahrsimulation der Welt. Aber immerhin hätte es noch viel schlimmer kommen können. Trotz allem war es die Sache wert gewesen. Sie musste es einfach wert gewesen sein.
Franziska und Xaver standen Hand in Hand in einer Ecke. Xaver schlürfte von Franziskas leckerem, selbstgebrautem Abendkaffee. Sie blickte ihn von der Seite an und bemerkte zufrieden, dass er nun schon wesentlich besser aussah. Die extra starken Schlaftabletten, die sie ihm seit zwei Monaten täglich in den Kaffee mischte, hatten sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen.