Kaffee und Kuchen
Sie betrachtete eingehend ihre Hände. Sie war immer stolz auf ihre Hände gewesen. Lange, schlanke Finger hatte sie gehabt. Die Nägel immer perfekt manikürt. Nun ja, lang und schlank waren die Finger immer noch. Aber auch runzlig und voller Altersflecken. Man konnte jede einzelne, der bläulichen Adern sehen, die sich unter der mittlerweile fast durchsichtig gewordenen Haut entlang schlängelten. Die Fingernägel waren auch nicht so, wie sie sie gerne hätte. Ihre Tochter hatte einfach nicht genug Geduld und selbst konnte sie es nicht mehr machen. Die Finger waren mit den Jahren immer steifer und ungelenker geworden. Und zittrig, Gott, wie sie dieses Zittern hasste. Wie bei einem alten Tattergreis.
Entschlossen griff sie nach der vollen Kaffeetasse. Etwas von der heißen Flüssigkeit schwappte über den Rand. Vor Schmerz hätte sie die Tasse beinahe fallen lassen. Aber das tat sie nicht. Sie wird ja wohl noch einen gottverdammten Kaffee selber trinken können.
Als sie die Tasse an die dünnen Lippen setzte, ging es ein wenig besser. Sie konnte sie nun leicht gegen den Mund drücken und das Zittern ließ ein wenig nach. Sie schaffte es einen Schluck zu trinken, ohne dass etwas an ihrem Kinn herunterlief. Vorsichtig stellte sie die Tasse zurück auf den weißen Unterteller.
Sie hatte selbstständig einen Schluck aus der Tasse geschafft. Ohne es zu wollen war sie ein wenig stolz. Wegen so etwas banalem.
Sie griff nach der Kuchengabel, die neben dem Teller, auf einer hübschen, gelben Serviette mit Blümchenmuster lag.
Huch, du wirst ja auf deine alten Tage noch richtig mutig. Nicht nur dass du selber Kaffee trinkst, nein jetzt isst du auch noch selbstständig Kuchen. Sie lächelte und in ihren eingefallenen Wangen bildeten sich kleine Grübchen. Man muss über sich selbst lachen können. Dass hatte ihre Mutter schon gesagt.
Sie schaffte es ein Stück von dem krümmeligen Kuchen auf ihre Gabel zu befördern. Konzentriert hob sie sie zum Mund. Als sie ihn schon öffnete um den Kuchen zu essen, fiel der Kuchen von der zitternden Gabel in ihren Schoß. Frustriert ließ sie für einen Moment die Arme sinken und probierte es dann noch einmal. Es klappte wieder nicht.
"Aber nicht doch Frau Schneider, ich kann ihnen doch helfen." Eine junge Frau setzte sich auf den freien Stuhl neben sie. Entschlossen nahm sie ihr die Gabel aus der Hand. Schwester Agathe. Geschickt spießte sie ein Stück Butterkuchen auf die Gabel und hielt es ihr vor den Mund. Peinlich berührt sah Frau Schneider sich um.
"Lassen sie dass, ich bin doch kein kleines Kind mehr."
"Aber sie wollen doch ihren Kuchen essen, oder nicht?"
"Ich kann das alleine." Entschlossen schob Frau Schneider die helfende Hand beiseite. So weit würde es noch kommen. Hier zu sitzen und sich füttern zu lassen. Nie im Leben. Wenn dass die Leute gesehen haben. Sie blickte in die Runde.
Vor ihr saß Herr Meier. Sie hatte mal mit ihm zusammen auf der Station gearbeitet. Er war immer sehr höflich gewesen. Nun saß er da und hob imaginäre Gegenstände vom Boden auf. Ab und zu versuchte er auch aufzustehen. Manchmal gelang es ihm, zwei, drei Schritte in Richtung Tür zu gehen, bevor eine Schwester herangeeilt kam und ihn sanft zurück, in einen Stuhl, drückte. Manchmal fiel er auch über seine eigenen Füße und knallte auf den Boden. Frau Schneider war immer wieder erstaunt, dass ihm dabei nie etwas ernsthaftes passierte.
Links neben ihr saß eine Frau, die sie heute zum ersten Mal sah. Da kann man mal sehen. Nun hatte sie dreißig Jahre lang hier gearbeitet und war dieser Person nie begegnet. Offensichtlich war die Dame krank. Altersschwachsinnig, hätte man das früher genannt. Brabbelte die ganze Zeit etwas von "lieber Gott hilf mir."
Frau Schneider sah in die andere Richtung. Dort standen noch mehrere Tische, an denen zumeist weibliche, alte Menschen saßen. Die meisten sahen ganz normal aus. Als sie sich genauer umsah, fiel ihr auf, dass eigentlich nur an ihrem Tisch die schwachsinnigen zu finden waren.
Sie winkte die Schwester, die sie eben weggeschickt hatte zu sich heran.
"Sagen sie mal, kann ich mich nicht an einen anderen Tisch setzen?"
"Aber wieso denn, hier ist es doch schön. Der Herr Müller sitzt hier und die Frau Biersken..."
"Deswegen ja. Ich meine ich hab ja nichts gegen die. Aber hören sie mal ich hab mein ganzes Leben lang mit solchen Menschen gearbeitet. Hab mich um sie gekümmert und so. Jetzt wo ich in Rente bin ist es genug."
"Aber die anderen Tische sind alle besetzt", resigniert hob sie die Arme und wollte sich zum Gehen wenden.
"Wenn dass so ist, will ich jetzt Frau Rigulla sprechen!" Frau Schneider versuchte ihrer Stimme einen autoritären Klang zu geben.
"Frau Schneider, wir haben hier keine Frau Rigulla."
"Was soll das den heißen!" langsam wurde sie ärgerlich.
"Frau Rigulla arbeitet hier schon seit zwanzig Jahren. Sie werden doch noch wohl ihre eigene Chefin kennen!"
"Frau Schneider. Sie sind mal wieder etwas durcheinander. Sie sind hier nicht in der Klinik in der sie früher gearbeitete haben."
"Natürlich bin ich hier, dass ist doch der Ehemaligetreff. Ich komme jeden Mittwoch hier her."
"Sie sind hier im Altenheim, Frau Schneider."
"Was!?... Oh, im Altenheim" Frau Schneider schlug sich an die Stirn, "Natürlich, wie konnte ich dass nur vergessen."
Die Schwester nahm ihre Hand und tätschelte sie.
"Ist schon in Ordnung, mit 93 Jahren, kann man ruhig mal etwas durcheinander kommen."
Ruhig bleibe, ganz ruhig, diese Menschen sollte man nicht provozieren. Frau Schneider strich sich eine Haarsträhne, die sie aus ihrem Dutt gelöst hatte, hinter ihr linkes Ohr. Die angebliche Schwester hielt immer noch ihre Hand. Frau Schneider lächelte sie ein wenig verhalten an und wusste nicht was sie sagen sollte. Nach einer kleinen Weile richtete die "Schwester" sich auf und ging zu einem anderen Tisch.
Unglaublich, Frau Schneider schüttelte fast unmerklich den Kopf. An sich fand sie die Idee, einmal in der Woche hier her zu kommen, nicht schlecht. Aber dass sie jetzt schon die Patienten von den unteren Stationen hier rauf ließen? Integration nannte man dass wohl heute. Also, zu ihrer Zeit hätte es dass nicht gegeben.
Frau Schneider schluckte ihren Unmut herunter und wandte sich erneut ihrem Kuchen zu.