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(K)eine Lüge

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16.08.2001
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(K)eine Lüge

"Ich bin ein Mörder", sagte der junge Mann zu mir. "Ja! Ich habe einen Menschen getötet!" Ich konnte es irgendwie gar nicht glauben. Dieses junge unschuldige Gesicht, kaum alt genug, um sich täglich rasieren zu müssen, sollte so viel Kaltblütigkeit verbergen können? Ich konnte es mir nicht vorstellen. "Erzähl doch einmal", forderte ich ihn auf, "wie es dazu gekommen ist!"
Er saß da, die Hände im schoß verschränkt, und starrte permanent auf den Boden, als ob dort irgend etwas Besonderes gewesen wäre. Zuerst glaubte ich, er hatte mich gar nicht gehört, weil er sich so lange in schweigen hüllte, doch dann brach es einfach aus ihm heraus:
"Angefangen hat alles, als ich Sue kennengelernt habe. Sie war so schön, und sie war die erste, die nichts an mir auszusetzen hatte. Viele beneideten mich um sie, und als ich sie schließlich danach fragte, was sie denn ausgerechnet an mir fände, da meinte sie: 'Die anderen sind alle so oberflächlich, aber in Dir steckt viel mehr! Du bist anders, du schaust nicht mit den Augen, du schaust mit dem Herzen!' Ich war sensibel und weiß nicht, ob ich es heute noch bin. Doch Sue hat es verstanden. Ich wunderte mich nur, warum sie immer diese langärmligen Pullis trug, Sommer wie Winter. Ich kannte sie ja schon ein paar Jahre, zumindest vom Sehen her. Ich wollte mit ihr einmal zum Schwimmen gehen, das war in der größten Hitze im August, doch sie meinte, daß sie ihre Tage hätte. Nun gut, einmal konnte ich das glauben, doch dann fand sie andere Ausreden. Während mir schon in T-Shirt und Shorts der Schweiß aus allen Poren brach, war sie noch immer in ihren Pullover verpackt. Damals waren wir etwa vier Monate zusammen. Naja, sie war meine erste Freundin, und ich hatte mich noch nicht getraut, ihr unter den Pulli zu gehen. Doch dann hatten wir einmal ein Picknick auf einer Waldlichtung gemacht. Wir steckten uns gegenseitig die besten Leckerbissen in den Mund, und dann war irgendwann einmal alles aufgegessen. Erwartungsvoll saßen wir einander gegenüber. Funken der Freude sprühten aus ihren Augen. Ich nahm sie in den Arm und küßte sie so, wie sie es am liebsten hatte. Unsere Zungen verschmolzen miteinander und umkreisten sich immer und immer wieder. Meine Hose wurde immer enger im Schritt, und ich genoß dieses Gefühl, sie einfach nur in meinen Armen zu halten. Meine Hände glitten unter ihren Pullover und den Rücken hinauf. Bei der ersten Berührung zuckte meine Hand zurück. Die Haut auf ihrem Rücken fühlte sich komisch an, irgendwie... anders. Sie öffnete die Augen und sah mich ein wenig traurig an.
'Erschrick nicht.' Hauchte sie. Und dann streifte sie sich selbst den Pulli über den Kopf. Oh, Sue sah so wunderschön aus. Ihre milchweiße Haut, ihre schmale Taille und die kleinen festen Brüste, die in diesem weinroten BH versteckt waren. Ihr sinnlicher Blick nagelte mich fest, und ihre geschickten Hände öffneten Knopf für Knopf mein Polohemd. Es ist unmöglich, dieses Gefühl zu beschreiben, als sie meine Haut streichelte. Mir sträubten sich die Haare im Nacken, und ein heiserer Seufzer stieg aus meiner Kehle empor. Mein Verstand war gänzlich in Unordnung geraten, ich entschwebte auf einer Wolke der Leidenschaft. Als sie innehielt, öffnete ich die Augen. Ich sah ihre Hände hinter ihrem Rücken, und schon kurz darauf sah ich ihre Brüste. Ich hatte noch nie zuvor Brüste gesehen, außer in diesen billigen Zeitschriften, und im ersten Moment wußte ich nicht, was ich tun sollte. Wortlos nahm sie meine Hand und führte sie an ihre Brust. Es war schön. Ich beugte mich über sie, und sie legte sich auf den Rücken. Meine Hände massierten ihre Brüste und meine Zunge wanderte von ihrem Mund zum Hals. Ich spürte, wie ihre Brustwarzen hart wurden und ließ meine Zunge zu ihnen wandern. Während ich mit der Hand die eine Brust massierte, umkreiste meine Zunge die andere. Sue stöhnte auf. Ich wollte ihre Haut auf meiner spüren und legte mich auf sie. Es war schön, die sanfte Härte ihrer Brustwarzen auf meinem Oberkörper zu spüren. 'Küß' mich', hauchte sie, und wieder wurden unsere Zungen eins. Wir rollten ein paar Mal hin und her, und schließlich lag Sue auf mir. Meine Hände glitten über ihren Rücken und ertasteten abermals diese ungewöhnlichen Stellen in der Haut. Vorsichtig fuhr ich mit den Fingerspitzen darüber.
Plötzlich schrie Sue auf und rollte sich von mir weg. Ich sah den inneren Kampf in ihren Augen. Zum einen wollte sie mich nicht ansehen, zum anderen hatte sie Angst davor, mir ihren Rücken zu zeigen. 'Was ist mit Dir los?' fragte ich. 'Was hast Du?' Für einen Moment glaubte ich, das Ende unserer Beziehung sei gekommen. Mit einem prüfenden Blick musterte sie mich von Kopf bis Fuß, fragte sich wohl, ob sie mir vertrauen konnte, ehe sie sich schließlich umdrehte und mir ihren Rücken zeigte. Ich erschrak. Unzählige Striemen liefen darüber, manche davon frisch und blutrot. Doch die meisten davon waren schon etwas älter und im Laufe der Zeit vernarbt. Ihr ganzer Rücken war ein einziges Narbengewebe, nur an manchen Stellen sah man frische, offene Wunden.
'Oh, mein Gott!' brach es schließlich aus mir heraus. 'Wie ist das passiert?' Ich sah Tränen, die sich in ihren Augen sammelten und zu großen Tropfen anschwollen. Sue konnte mich in diesem Moment nicht ansehen. Ich hörte sie schlucken, laut und deutlich, als hätte ein großer Kloß in ihrem Hals gesteckt. 'Mein Vater!" sagte sie, gerade noch so laut, daß ich es hören konnte. 'Er schlägt mich beinahe jeden Tag. Ich mache alles falsch, sagt er.' Dann brachen die Tränen hervor. Heftige Schluchzer schüttelten sie, ihr Brustkorb krampfte sich immer und immer wieder zusammen. Ich nahm sie in den Arm und versuchte, ihr Trost zu spenden. Ihr Körper, der noch vor wenigen Minuten vom Feuer der Erregung geglüht hatte, war jetzt kalt und leblos wie ein Fisch. Ein dünner Schweißfilm lag auf ihrer Haut.
Mir fehlten die richtigen Worte, um sie zu trösten, ich konnte sie nur in meinen Armen wiegen und abwarten, bis sie sich wieder gefaßt hatte. Sue war doch eines der schönsten Mädchen in der Schule, so unvergleichlich und wunderbar, doch dahinter verbarg sie ein düsteres Geheimnis.
Als die Schluchzer schließlich in heisere Seufzer übergingen, fragte ich sie: 'Kann ich Dir irgendwie dabei helfen?' Sie sah mich mitleidig an, und erst, als sie zu sprechen begann, wußte ich, was Sue zu diesem Mitleid veranlaßt hatte. 'Oh, Ricky,' sagte sie, 'Du tust mir ja so leid, daß Du mich so kennenlernen mußt.' Ein Teil von mir war entrüstet. 'Aber warum, Sue? Ich will Dich so haben, wie Du bist, ganz egal, was die anderen von Dir denken!' In meinen Worten lag etwas zu viel Entrüstung, und Sue zuckte in meinen Armen zusammen. Wir hatten schon immer viel miteinander geredet, doch von diesem Moment an zogen sich unsere Unterhaltungen mehr und mehr in die Länge.
Nach und nach erfuhr ich alles über Sue, selbst das, was außer ihr bisher niemand wußte. Dadurch wurde aus unserer kleinen Liebelei eines starke feste Beziehung. Wann immer wir uns auf dieser Waldlichtung in den Armen lagen, pflegte ich ihre Wunden. Ihr wunderschöner Körper wurde durch die unzähligen Striemen immer weniger entstellt, und bald schon fühlte sich auch das Narbengewebe wieder wie normale Haut an.
Beinahe ein halbes Jahr waren wir damals schon zusammen, als wir einmal gemeinsam Eis essen gingen. Wir hatten uns den Partnerbecher bestellt und fütterten uns gegenseitig mit Früchten, Sahne und Eis. Wie im Traum saßen wir da, und was um uns herum passierte, interessierte uns nicht im geringsten.
Plötzlich ertönte ein Schrei in der Eisdiele: 'SUE!' Wir fuhren erschrocken zusammen und blickten uns um. In der Tür stand ihr Vater, seine Lippen bebten vor Zorn, und er stampfte quer durch das Lokal zu unserem Tisch. Die anderen Gäste beobachteten ihn, er stand im Mittelpunkt und war sich dessen nicht einmal bewußt.
'Du mieses kleines Flittchen!' fuhr er seine Tochter an. 'Noch nicht einmal achtzehn Jahre alt, und schon wie eine läufige Hündin den Männern nachrennen, das haben wir gerne.' Er packte sie am Arm und zerrte sie hinter dem Tisch hervor. 'Hören sie mal...' warf ich ein. 'Du bist ganz still!' herrschte er mich an, während er mich mit seiner freien Hand am Kragen packte. 'Junge Mädchen schwängern, das kannst Du, aber hast Du auch genug Geld, um sie zu ernähren? Ja? Dann kannst Du sie sofort mitnehmen. Dann brauche ich nicht mehr für sie zu bezahlen. Doch so lange sie ihre Beine unter meinen Tisch streckt, wird sie das tun, was ich ihr sage!'
'Pa, hör auf!' schrie Sue und trommelte mit ihren kleinen Fäusten gegen seinen Brustkasten. Doch ihr Vater ließ sich davon nicht beeindrucken. Er holte mit der Rechten aus und verpaßte ihr eine donnernde Ohrfeige. Bei dem Geräusch zuckten etliche der anderen Gäste zusammen.
Ein vielleicht dreißigjähriger Mann stand schließlich auf und ging auf Sues Vater zu. Er war einen Kopf größer als sein Gegner und fast doppelt so breit. 'Hören Sie mal zu,' sagte er zu diesem ungebetenen Randalierer, 'so können Sie doch mit dem Mädchen nicht umgehen. Die ist doch keine zwölf mehr.' Voller Haß zog Sues Vater die Mundwinkel nach unten. 'Ich kann meine Tochter erziehen, wie ich es für richtig halte, ist das klar?' herrschte er den Mann an.
Sue leistete nur noch wenig Widerstand, als ihr Vater sie aus dem Lokal zerrte. Seine Hand zeichnete sich als roter Striemen auf ihrer milchweißen Haut ab. Total entsetzt saß ich da. Der Mann, der Sue einfach so verteidigt hatte, sah den beiden sprachlos hinterher.
Lodernder Haß flammte in mir auf. An diesem Tag war mir Sues Vater zum ersten Mal begegnet, doch nach dem, was ich auf Sues Rücken gesehen hatte und was soeben vor meinen Augen passiert war, konnte ich dem Mann nichts als Haß entgegenbringen. Ich liebte Sue, ich wollte ihr helfen, doch ich sah keinerlei Möglichkeit, etwas für sie zu tun. In der Nacht fand ich kaum eine ruhige Minute. Immer wieder sah ich vor meinem geistigen Auge, wie Sue geschlagen wurde, wie ihr Vater seinen Gürtel schwang und immer und immer wieder über ihren Rücken zog. Ich konnte sie schreien hören, und diese markerschütternden Schreie raubten mir den wenigen Schlaf, den ich noch hatte.

An den nächsten drei Tagen fehlte Sue in der Schule. Ich erkundigte mich bei unserer Lehrerin, wo sie denn sei und bekam als Erklärung, daß sie einen Unfall gehabt hätte. Mein Mißtrauen wuchs von Minute zu Minute. Man nannte es jetzt also einen Unfall, wenn man seine Kinder brutal zusammenschlug. Zum einen wollte ich Sue zu Hause besuchen, um nachzusehen, wie es ihr geht, zum anderen hatte ich Angst, sie dadurch nur noch mehr in Gefahr zu bringen. Also wartete ich ab.
Als sie dann wieder zur Schule kam, war ich zutiefst schockiert. Ihr rechter Arm steckte in einem Gips, die ganze rechte Gesichtshälfte war aufgeschwollen wie ein Hefekuchen, und sie zog eines ihrer schönen Beine nach, wie der Glöckner von Notré Dame. Wann immer auch ich versuchte, mit ihr zu reden, wich sie mir aus.
Das erhärtete natürlich den Verdacht in mir, daß ihr Vater die Ursache des Unfalles war. Ich fühlte mich so leer, so betrogen, als hätte man mir etwas aus dem Herzen gerissen. Ich konnte und wollte Sue einfach nicht so abschreiben. Ich mußte mit ihr reden. Ich wollte schließlich wissen, was passier war. Also schrieb ich ihr einen kleinen Zettel: 'Was ist passier? Ich muß mit Dir reden! Ich liebe Dich!' Nur diese drei Sätze, mehr nicht.
Sue entfaltete das Blatt, und ich sah ein wenig ihrer alten Lebensfreude in ihren Augen. Doch schnell wandte sie sich ab und ließ mich stehen, wie einen begossenen Pudel. Kurz darauf, als uns keiner beobachten konnte, bekam ich die schriftliche Antwort: 'Heute Nachmittag, 15.00 Uhr, auf unserer Lichtung!' Damit war ich fürs erste zufrieden. Die Stunden krochen so gemächlich an mir vorbei, als würde alles um mich herum nur noch in Zeitlupe ablaufen. Doch dann ertönte endlich die Schulglocke.
Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, ging ich gleich zu unserem Platz und machte es mir unter einer großen Eiche gemütlich. Wie ein Film zog die Erinnerung an mir vorüber. All die schönen Stunden, die wir hier gemeinsam verbracht hatten, passierten Revue, und mein Herz war erfüllt von einem unbeschreiblich schönen Gefühl. Ich war rundherum glücklich.
Endlich kam auch Sue. Wortlos setzte sie sich neben mich, schlang mir ihre Arme um den Hals und legte den Kopf auf meine Brust. 'Hey, Sue, was ist los?' fragte ich. Keine Antwort kam. Plötzlich begann sie zu schluchzen. Ich strich behutsam über ihr Haar, legte ihr einen Arm um die Taille und wiegte sie sanft hin und her, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
'Oh, mein Vater,' sagte sie, 'er hat mir verboten, mich mit Dir zu treffen. In der Schule läßt er mich schon seit langem beobachten. Er weiß alles über uns. Und wenn er herausbekommt, daß wir zwei uns hier treffen, dann schlägt er mich tot.' Wieder kamen heiße Tränen aus ihren Augenwinkeln, erst zaghaft, doch dann in einem steten Strom. Ich spürte ihren heißen, feuchten Atem durch mein aufgeweichtes Hemd hindurch und wußte nicht, was ich tun sollte. Der Schmerz all dieser Jahre, in denen sie geschlagen worden war, saß tief in ihrem Herzen und in ihrer Seele. 'Was war das für ein Unfall?' erkundigte ich mich schließlich. 'Ich meine, wo hast Du Dir all diese Verletzungen eingefangen?'
'Das kann ich Dir nicht sagen!' flüsterte sie. 'Du mußt!' stieß ich hervor, beinahe selbst den Tränen nahe, und hob ihr Gesicht an, wodurch sie gezwungen war, mir in die Augen zu blicken. 'Sue, ich liebe Dich und ich kann nicht mit ansehen, wie Du so unter Deinem Vater leidest. Ich möchte Dir helfen, ganz egal wie, aber es muß aufhören. Ich sehe jeden Tag den Schmerz und das Leid in Deinen Augen, doch ich möchte Dich viel lieber lachen und strahlen sehen.' Sue erkannte wohl an meiner heiseren, tränenerstickten Stimme, daß ich es ernst meinte. Zwei oder drei Mal räusperte sich, schluckte krampfhaft und begann dann, mir die Geschichte ihres 'Unfalles' zu erzählen:
'An dem Tag, als mein Vater mich in der Eisdiele abgeholt hat, war er mehr als nur ein wenig wütend. Er hatte an dem Tag schon etliches getrunken, das konnte ich an seinem Atem riechen, und wenn er betrunken war, dann schien seine Wut keine Grenzen zu kennen. Er zerrte mich in seinen Wagen und stieß mich auf den Beifahrersitz. Ohne ein Wort zu sagen fuhr er durch die Stadt. In seinem angetrunkenen Zustand hat er dann die Kontrolle über den Wagen verloren und an der großen Kreuzung einen von links kommenden LKW übersehen. Wir wurden voll gerammt, mein Vater saß blutüberströmt und besinnungslos neben mir, und ich hing mit der rechten Körperhälfte mitten zwischen Türfüllung und Blech. Alles tat mir weh. Mit dem Krankenwagen haben sie uns beide ins Krankenhaus gebracht. Mein Vater liegt auf der Intensivstation, aber mich haben sie auf eigenen Wunsch raus gelassen. Ich hab ihnen klargemacht, daß ich nicht so viel von der Schule verpassen darf, aber eigentlich wollte ich nicht mit meinem Vater unter einem Dach schlafen.
Ich weiß schon, wenn er wieder zu Hause ist, dann wird er mir die schuld an diesem Unfall eben. Er wird dann so in etwa sagen, daß er, wenn ich Dir nicht hinterher gelaufen wäre, niemals in so einem Zustand seinen Führerschein und sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Also bin ich dafür verantwortlich und muß auch bestraft werden. Zum Glück liegt er jetzt im Koma, doch die Ärzte meinen, er habe eine rauhe Natur und werde auf jeden Fall wieder ganz gesund. Und davor habe ich Angst.'
Bei dieser Geschichte hatte sich jedes Haar an meinem Körper aufgerichtet, eine Gänsehaut überzog mich von Kopf bis Fuß. Doch als ich gehört hatte, daß Sues Vater im Koma lag, war schon der Funke eines Plans aufgekeimt, wie ich ihr helfen konnte. 'Hängt er noch an einer Infusion?' erkundigte ich mich. 'Ja,' sagte Sue, 'aber warum fragst Du?' - 'Ach, nur so!' Und nach einer Pause setzte ich hinzu: 'Würde es Dir etwas ausmachen, mich zu küssen?'
Sue sagte nichts. Statt dessen öffnete sie leicht die Lippen, schloß ihre Augen und kam mir immer näher. Oh, wie hatte ich diese Berührung vermißt. Ihre Hand strich über die Innenseite meiner Schenkel, und es wurde mächtig eng in meiner Hose. An diesem Nachmittag hatten wir alle Zeit der Welt. Ich schälte ihr die Kleider vom Leib und ließ meine Hände und meine Zunge über ihren ganzen Körper gleiten. Irgendwann lagen wir beide splitternackt auf dem warmen moosbewachsenen Boden. Ich hatte immer etwas Angst, daß ich ihr an ihrer geschwollenen Seite irgendwie weh tun konnte, doch in diesen Stunden schien für sie aller Schmerz vergessen zu sein. Plötzlich sah sie mir tief in die Augen. 'Willst Du?' fragte sie, und als ich nickte, zog sie ein Kondom aus der Tasche. Es war für uns beide das erste Mal, und es war ungewöhnlich und erregend zugleich. Ich hatte von meinen Freunden schon viel gehört, wie sie es mit irgendwelchen Mädchen einfach so 'gemacht' hatten, doch die Gefühle, die in diesen Minuten meinen Körper durchströmten, überstiegen meine kühnsten Träume. Es war einfach wunderschön, weil es zwischen Sue und mir mehr war, als nur Liebe. Es war irgendwie eine Mischung aus Liebe, Partnerschaft, Vertrauen, Freundschaft, Verständnis und hemmungsloser Hingabe.
Als wir am frühen Abend auseinandergingen, waren wir beide überglücklich. Wir hatten jenes Gefühl, das sich über die Monate hinweg zwischen uns aufgebaut hatte nun durch die Verschmelzung unserer Körper besiegelt, uns ein Ja-Wort geben, daß niemand mehr rückgängig machen konnte. Ich war der glücklichste Mensch der Welt, bis zu dem Zeitpunkt, als ich Sue vor ihrer Haustür absetzte. Dieses Haus barg zu viele Erinnerungen an all die Schmerzen, die sie dort schon erlitten hatte, und so rief ich mir meinen Plan wieder ins Gedächtnis und ging nach Hause.
Ich wußte, je länger ich die Durchführung meiner Idee hinauszögerte, um so unwahrscheinlicher war es, daß ich es zustande brachte. Also entschloß ich mich, meinen Plan noch am selben Abend in die Tat umzusetzen. Meine Eltern waren glücklicherweise außer Haus, weswegen ich auch freie Bahn hatte. Ich ging in die Speisekammer und füllte von Mutters Spiritus, den sie immer zum Fensterputzen benutzte, etwas in ein kleines Fläschchen ab. Dann schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr zum Krankenhaus.
Dem Pförtner konnte ich ziemlich überzeugend beibringen, daß ich ein Neffe von Sues Vater sei, der sich nur beim Stationsarzt nach dem Befinden seines Onkels erkundigen wollte. So bekam ich ziemlich schnell die Zimmernummer heraus. Als ich den Gang entlang schlenderte, sah ich schon das, was ich brauchte, um den letzten Schritt zur Vollendung meines Vorhabens zu tun. Ein Verbandswagen stand vor dem Schwesternzimmer der chirurgischen Station, und die Tür daneben war geschlossen. Vorsichtig blickte ich mich um, ob mich auch ja niemand beobachtete, und ich hatte Glück. Ich nahm mir eine 5-ml-Spritze und ließ sie in meiner Jackentasche verschwinden. Schnell ging ich weiter. Als ich vor der Sicherheitstür zur Intensivstation stand, zögerte ich ein letztes Mal. Ich hatte weiß Gott kein gutes Gefühl im Magen. Mein Herz raste, aber sicherlich nicht vor Begeisterung. Dann öffnete ich die Tür einen Spalt und streckte meinen Kopf hinein. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Doch ich mußte aufpassen, denn das Überwachungszimmer hatte eine große Glasfront, von der aus man den gesamten Flur überblicken konnte.
Ich ging in die Hocke und schlich an der Wand entlang. Überall aus den Zimmern drangen die Pieptöne der lebenserhaltenden Elektronik, eine Beatmungsmaschine zischte und pumpte vor sich hin, und selbst der Atem der Patienten war zu hören. Meine Augen tasteten im Halbdunkel die einzelnen Türen ab, auf der Suche nach der richtigen Zimmernummer. Plötzlich ertönte aus einem der Zimmer ein durchgehender Pfeifton. Kurz darauf hörte ich Schritte. Ich drückte mich so tief es nur ging in den Schatten des Türstocks hinein, um nur ja nicht entdeckt zu werden. Dann rannten ein Arzt, zwei Schwestern und ein Pfleger aus dem Stationszimmer in den Raum, der ihrem genau gegenüber lag. 'Herzstillstand!' kreischte die Schwester. 'Wir müssen uns beeilen!'
Niemand sah in meine Richtung, und als sich die Tür des Krankenzimmers hinter den Rettern schloß, sprintete ich an das andere Ende des Ganges. Mein Vorhaben war gefährlich, wenn auch Sues Vater so schnell Hilfe erhielt. Mit laut pochendem Herzen trat ich in das Zimmer ein. Mein Herz schlug so laut, daß ich befürchtete, der Mann würde schon allein von diesem Geräusch erwachen. Doch ich hatte Glück. Ich weiß zwar nicht, warum die Leute im Fernsehen immer in irgendwelche Schwierigkeiten kommen, wenn sie einen Mord begehen wollen, man braucht einfach nur etwas Glück und den richtigen Plan. So war es zumindest bei mir. Ich fummelte die Spritze, die ich mir vorher 'organisiert' hatte, aus meiner Tasche und löste sie aus der Verpackung. Mit der freien Hand holte ich das kleine Fläschchen hervor und füllte die Spritze bis zum Anschlag mit Spiritus. Ich wußte, wenn ich den Alkohol direkt in das Infusionsventil am Handgelenk spritzen würde, dann hätte ich keine Zeit mehr, um zu fliehen. Hilfe suchend rasten meine Blicke durch das Halbdunkel des Zimmers. Ich atmete schneller als gewöhnlich, ja, ich keuchte fast vor lauter Angst und innerer Aufregung. Dann sah ich die rettende Lösung: Oberhalb des Zwischenbehälters der Infusion befand sich ein zweites Ventil, wo Medikamente eingespritzt werden konnten. Das war meine Rettung.
Beinahe hätte ich schon den Deckel geöffnet, als mir plötzlich der Gedanke kam, daß ich ja keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen durfte. Latexhandschuhe gab es in dem Zimmer nicht, also stülpte ich mir meinen Ärmel über die Hand und öffnete so das Ventil. Ich steckte die Spitze in die Öffnung und drückte den Kolben ganz durch. Nun befand sich zwar etwas mehr Flüssigkeit in dem Behälter als zuvor, doch das würde wohl keinem Auffallen. Um zu vermeiden, daß Sues Vater wieder erwachen würde, stellte ich den Tropfen etwas schneller ein. Diese Ladung Alkohol im Blut würde für ihn den sicheren Tod bedeuten, doch mir blieb immer noch genügend Zeit zu fliehen.
Mit aller Behutsamkeit öffnete ich die Tür und spähte erneut auf den Flur hinaus. Meine Menschenseele weit und breit. Ich hörte ein Rumoren aus dem Zimmer, in das vorher alle so hektisch hinein gestürmt waren und wußte, daß sie noch immer um das Leben jenes Patienten kämpften. Ich hatte kaum zwei Minuten in den Zimmer verbracht, so signalisierte es mir zumindest eine große rote Digitalanzeige an der Wand. Meinem Gefühl nach war es zumindest eine Stunde oder noch mehr gewesen, aber das spielte im Prinzip keine Rolle mehr.
Ungesehen konnte ich die Station verlassen und entkam auch, ohne das geringste Aufsehen zu erregen aus dem Krankenhaus. Ich fühlte mich irgendwie befriedigt. Ich hatte etwas vollbracht, ich hatte jenem Mädchen, das ich über alles liebte, einen großen Gefallen getan. Ohne eine Spur von Reue oder Schuldgefühlen schlief ich in dieser Nacht so gut, wie schon lange nicht mehr.
Die nächsten beiden Tage vermißte ich Sue in der Schule, doch als ich die Todesanzeige ihres Vaters in der Zeitung las, war mir klar, daß sie sich um etliche Dinge zu kümmern hatte. Ihre Mutter war schon vor etlichen Jahren abgehauen, und es war ungewiß, ob sie zu dem Begräbnis kommen würde. Wenn, dann auch nur um sicherzugehen, daß er auch mindestens eineinhalb Meter tief vergraben würde und nie wieder herauskäme.
Am Nachmittag schaute ich dann bei Sue vorbei. Ihre Blicke zeigten mir eine große dunkle Leere, doch ich glaubte, auch eine Spur von Erleichterung darin ausmachen zu können. Wir unterhielten uns so gut, wie schon lange nicht mehr, doch hauptsächlich über die Schule. Als ich mich schließlich dann doch nach der Todesursache ihres Vaters erkundigte, sagte Sue: 'Nun, sein Herz einfach aufgehört zu schlagen! Er ist eingeschlafen und wird nie wieder aufwachen. Ich denke immer wieder darüber nach, ob er so einen schönen Tod überhaupt verdient hat, und ich zweifle oft daran. Vielleicht hätte ich ihn doch umbringen sollen!" Ihre Nasenlöcher bebten und pulsierten wie bei einem wild gewordenen Pferd.
Irgendwie tat sie mir so leid, und wahrscheinlich stellte ich ihr gerade deswegen eine schwierige Frage, die all das zerstören konnte, was zwischen uns beiden bestand: 'Sue, was würdest Du sagen, wenn ich Deinen Vater getötet hätte?' Verwundert sah sie mich an. 'Hast Du?' fragte sie. Ich dachte kurz - vielleicht zu kurz - darüber nach und dann sagte ich: 'Nein, natürlich nicht!' Ein Seufzer der Erleichterung stieg aus ihrer Brust empor. 'Und ich dachte schon, ich müßte Dir böse sein, weil Du das getan hast, was ich mich nie getraut habe zu tun.'
Das Herz blieb mir beinahe stehen, und Sue merkte sofort, daß sich in mir etwas regte. Und wahrscheinlich war ich gerade deshalb nicht in der Lage, ihr Rede und Antwort zu stehen. Innerhalb weniger Minuten verabschiedete ich mich und verließ das Haus. Ziellos irrte ich durch die Stadt, denn es war das erste Mal, daß ich Sue angelogen hatte. Und es war so eine schlimme Lüge. Und weil ich nicht wußte was ich tun sollte, meldete ich mich ein paar Tage in der Schule krank.
Jetzt bin ich bei Ihnen, und ich kann noch nicht einmal sagen, ob es mir besser geht. Ich war nie ein frommer Mensch und ich wundere mich selbst, warum ich ausgerechnet zu Ihnen gekommen bin."
Fragen starrte er mich an. Ich blickte zu meinem großen Holzkreuz, das an der Wand gegenüber hing. Dann sagte ich: "Schau, mein Sohn, das wichtigste ist, daß Du Deine Sünden bereust, und..."
"Was soll ich denn bereuen? Ich meine, den Mord sehe ich nicht als Sünde, ich glaube, er war gerecht, aber die Lüge gegenüber Sue ist es, die mir das Leben so schwer macht. Und die bereue ich so sehr!"
"Dann bete zu Gott, daß er Dir verzeihen möge." sagte ich zu ihm. "Und wenn Du mit Gott ins Reine gekommen bist, dann rede mit Deiner Freundin. Nach allem, was Du mir gerade erzählt hast, liebt auch sie Dich so sehr, daß sie Dir das verzeihen wird."
"Ja!" meinte der junge Mann. "Vielleicht haben Sie recht!"
Bis heute habe ich ihn nicht wieder gesehen, aber ich denke, er hat es geschafft. Ich glaube heute noch, daß es nicht die Fehler sind, die wir machen, sondern diejenigen, die wir uns nicht eingestehen, die unser Leben so schwer machen. Vielleicht gibt es noch mehr solche Menschen wie diesen großen Jungen, ich jedenfalls gebe die Hoffnung niemals auf.

 

Hallo Iwan,

eine tolle Geschichte, die so viel Spannung hat, dass man ihr großes Textquantum ohne Mühe aufnehmen kann, ja mit einer inneren Hast von Abschnitt zu Abschnitt eilt. Allein das schon zeichnet den Text aus, ist vielleicht nicht unbedingt ein literarisches Qualitätsmerkmal, aber doch ein Beweis dafür, dass du das Geschäft des Schreibens gut verstehst.

Vor allem werden auch genügend Partikel aus der Realität glaubwürdig eingebaut, es wird ein realistischer Rahmen geschaffen, der die Geschichte selbst wie eine Folie umgibt und sie trägt. Ich denke dabei vor allem an die Abschnitte, die im Krankenhaus spielen.

Was die erotischen Passagen anbelangt, so darf man sagen, dass es dir hier vorzüglich gelingt, Vorgänge der gefühlsmäßigen Erregung zu beschreiben, ohne das sittliche Empfinden sensibler Leser negativ zu berühren. "Es war für uns beide das erste Mal, und es war ungewöhnlich und erregend zugleich...." Dieser Satz und die folgenden sind in ihrer Art so schlicht und klar, und ohne jene schwüle Hitze, die man zuweilen bei solchen Schilderungen empfindet.

Ein kleines Problem sehe ich darin, dass am Ende der Geschichte ein Gesprächsrahmen, vermutlich ein Beichtgespräch, wieder aufgegriffen wird, den man beim Lesen längst vergessen hat. Ich erachte ihn auch als sehr künstlich und unnötig. Vor allem die Schlusswendung, welche die Geschichte erhält, und die Anna mit recht als "moralinsauer" tituliert, nimmt der eigentlichen Handlung etwas von ihrer Unmittelbarkeit, Glaubwürdigkeit. Ich würde den ganzen Rahmen einfach streichen.

Der Zeitsprung in der Mitte der Geschichte, "Beinah ein halbes Jahr waren wir schon zusammen...", wird zwar durch ein paar zeitraffende Sätze vorbereitet, kommt aber doch noch ein wenig plötzlich und erscheint mir als epische Passage noch glättungsbedürftig.

Insgesamt jedoch halte ich diesen Text für bemerkenswert und möchte mich eigentlich auch für das erregende Erlebnis beim Lesen bedanken. Vielleicht, das ist jetzt eine Frage, die mich nachträglich noch bewegt, hätte man die Grausamkeit des Vaters noch genauer motivieren können. Warum tut er das?

Herzlichen Gruß

Hans Werner

 

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