(K)ein schönes Wiedersehen
Wir schlenderten die Fußgängerzone entlang, runter Richtung Ed´s Pub, auch wenn wir eigentlich nicht vorhatten, etwas trinken zu gehen, sondern nur durch die Stadt spazieren wollten, in der wir früher zur Schule gegangen waren und so viel erlebt hatten.
„Die Macht der Gewohnheit“, sagte ich lächelnd und drehte meinen Kopf zu Marion, so dass ich in ihr wunderschönes Gesicht sehen konnte, „wie oft wir wohl hier entlanggelaufen sind?“
„Ach, gefühlt hunderte, wenn nicht tausende Male“, scherzte sie.
Die Freude über diesen Scherz war ihr deutlich anzusehen, hatte sie doch nun ein breites Grinsen im Gesicht.
„Weißt du noch, als David voll aufs Maul bekommen hat, als er sich mit diesen Rockern anlegte?“, fragte ich in Erinnerung schwelgend.
„Klar, weiß ich das noch“, bestätigte Marion ohne eine Sekunde zu zögern, „ich dachte damals echt, er geht drauf.“
Für einen Augenblick schien es, als käme die Panik, die Marion damals beim Anblick des krankenhausreif geprügelten David bekam, bei der Erinnerung wieder hoch.
Dann aber lachte sie laut und erzählte: „Zwei Wochen später sah er immer noch aus wie Axel Schulz nach seinen schlimmsten Niederlagen. Man wurde der aufgezogen deswegen in der Schule, was musste er sich nur alles anhören.“
„Ja das war ihm sicherlich eine Lehre. Danach hat er, wenn wir getrunken haben, bei jedem aufkommenden Zwist sofort versucht zu schlichten, vor allem, wenn es etwas mit fremden Leuten gab“, führte ich die Geschichte fort und versank vollständig in Gedanken an die Vergangenheit, als wir schließlich direkt vor dem Eingang zum Pub standen.
„Ein Bier auf die gute, alte Zeit?“, schlug ich vor.
„Kann ja nicht schaden“, meinte Marion und hatte dabei diesen Blick, den man hat, wenn man etwas sieht, dass einen komplett in die Vergangenheit zurückversetzt.
Oder Moment, gibt es so einen Blick überhaupt? Naja egal, jedenfalls sah ich ihr an, dass sie, wie ich, beim Eintritt in diese alte, abgefuckte, aus allen Ecken nach Bier und Rauch stinkenden Kneipe, in der wir einst als Jugendliche uns die Nächte um die Ohren schlugen, wieder genau dieses Gefühl spürte, das wir damals hatten. Dieses Gefühl von Freiheit.
„Es sieht noch aus wie früher“, stellte ich erfreut fest.
„Ja, nur noch etwas heruntergekommener“, ergänzte Marion und ging zielstrebig Richtung Bar, hinter der leider nicht mehr Ed stand, sondern irgendeine Bedienung.
„Hey, hau mal zwei Bier raus“, forderte ich sie auf und streckte dazu zwei Finger in die Luft. Regungslos nahm sie meine Bestellung zur Kenntnis, holte zwei Flaschen Becks aus dem Kühlschrank und stellte sie Marion und mir – wir hatten uns inzwischen direkt an die Theke gesetzt – vor die Nase.
„Komische alte Schrulle“, flüsterte mir Marion ganz leise zu, um sicher zu gehen, dass die tätowierte, wasserstoffblonde, etwa 1,68m große und nicht gerade schlanke Bedienung nichts mitbekommt.
„Ed war immer gut drauf. Die dagegen scheint mir nicht so gern hier zu sein.“, meinte sie dann wieder in normaler Lautstärke, da die Bedienung gerade in die Abstellkammer verschwunden war.
„Wer weiß“, erwiderte ich, „vielleicht hat sie einfach einen schlechten Tag.“
„Naja, ist ja eigentlich auch egal. Hauptsache das Bier schmeckt“, meinte Marion nun gleichgültig und konzentrierte sich somit zum Glück wieder auf das aus meiner Sicht wesentliche, anstatt sich unnötigerweise von einer teilnahmslosen Bedienung in schlechte Stimmung versetzen zu lassen.
„Seit wann hast du diese Tätowierung da“, fragte ich erstaunt und zeigte dabei auf Marions Unterarm, der stellenweise mit schwarzer Tinte getränkt war.
„Ach, das habe ich mir mal in einer schwierigen Lebensphase machen lassen“, führte sie in einer Tonlage aus, die darauf hindeutete, dass sie nicht gerne darüber reden wollte.
Dennoch blieb ich bei dem Thema und fuhr neugierig fort: „Was steht da? Ich kann nur „Danke für…“ erkennen und dass danach noch etwas kommt. Der Hemdärmel bedeckt den Rest. Danke für was?“
„Danke für nichts“, sagte sie mit Nachdruck.
„Danke für nichts, was soll das bedeuten?“, hakte ich interessiert nach.
„Es soll mich daran erinnern, dass man im Leben nie etwas geschenkt bekommt“, erklärte sie seufzend und wirkte dabei etwas traurig.
Es war ihr anzumerken, dass sie nur ungern an diese scheinbar schwierige Zeit, mit der sie das Tattoo verband, zurückdachte, weswegen ich beschloss nicht weiter nachzufragen und das Thema zu wechseln. Ich wollte nicht die lockere Atmosphäre eines fröhlichen Wiedersehens zerstören und auf ein für sie möglicherweise sehr emotionales Gesprächsthema kommen. Außerdem hatte sie mich bei Facebook angeschrieben, nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit keinen Kontakt mehr hatten, ob wir uns nicht mal wieder treffen wollten, um über die gute alte Zeit zu plauschen. Eigentlich hielt ich nicht viel von solchen Auf-die-gute-alte-Zeit-Begegnungen, aber mit Marion war ich wirklich sehr eng damals in der Schule, wir haben viel gelacht und uns gegenseitig auf dem Weg zum Abitur unterstützt. Für kurze Zeit waren wir sogar mal zusammen, aber eine Beziehung hat bei uns einfach nicht hingehauen und komischerweise hat das unsere Freundschaft nicht komplizierter gemacht oder gar zerstört. Also dachte ich, sie mal wieder zu treffen, wäre wohl tatsächlich ganz lässig.
Und ich wollte, dass die Stimmung lässig bleibt, also begann ich mit möglichst heiterer Stimme zu reden: „Schon ziemlich verrückt hier wieder zu sitzen nach all den Jahren. Findest du nicht?“
Ich nahm einen kräftigen Schluck Bier und erwartete ihre Antwort, doch es kam nichts. Also nahm ich noch einen etwas kleineren Schluck, nahm meinen Blick von den Gegenständen hinter dem Tresen und ließ ihn nach rechts zu Marion rüber schweifen. Dabei bemerkte ich, dass sie völlig in Gedanken versunken war und meine Frage gar nicht wahrgenommen hatte.
„Äh, Marion?“, sprach ich und wollte so ihre Aufmerksamkeit zurückgewinnen.
„Es war alles so schwer damals, das hätte mich beinahe kaputt gemacht“, schluchzte sie, während ihr eine Träne über die linke Wange huschte.
„Ist alles ok?“, erkundete ich mich besorgt.
Ich hatte mit der Frage nach dem Tattoo wohl alte Wunden bei ihr aufgerissen.
„Scheiße, schon zu spät, um abzulenken und wieder über lustige Dinge zu reden!“, schoss es mir in den Kopf, während ich auf Marions Antwort wartete.
Ich war gespannt, was sie in dieser schwierigen Lebensphase so extrem belastet haben muss, denn wenn ich mir die supererfolgreiche, immer noch wunderschöne Staatsanwältin so anschaute, konnte ich mir nicht vorstellen, was sie aus der Bahn geworfen haben könnte.
„Ich konsumierte exzessiv Alkohol, nahm Drogen, jeden Scheiß, weil ich es einfach nicht überwinden konnte. Wäre Lisa damals nicht gewesen, hätte sie mich nicht zur Selbsthilfegruppe gebracht, wäre ich wahrscheinlich daran draufgegangen“, schilderte Marion mit zittriger Stimme und immer mehr Tränen kamen aus ihren himmelblauen Augen.
„Was, was konntest du nicht überwinden“, stotterte ich, weil ich einfach viel zu interessiert an der Geschichte war, als das sich der Bammel davor, Marion mit Nachfragen noch mehr in Depressivität zu stürzen, gegen dieses Interesse durchsetzen konnte.
„Ich habe meinen Sohn verloren, als er noch nicht einmal geboren war, bei einem Autounfall. Und am Tag danach hat mich mein Mann verlassen. Weißt du was er zu mir gesagt hat, dieses Schwein?“, polterte sie und wurde dabei laut, so dass ich Angst hatte, die anderen Leute in der Bar könnten etwas von unserem Gespräch und Marions Gefühlsausbruch mitbekommen.
Diese waren aber wohl zu sehr mit sich selbst und ihrem Bier beschäftigt, so dass sich keiner zu uns umdrehte.
Dennoch versuchte ich Marion zu beruhigen, indem ich sie in den Arm nahm und ihr sanft ins Ohr flüsterte: „Hey, es ist alles gut. Du hast so viel aus dir gemacht, du bist so eine erfolgreiche, coole und kluge Person, wunderschön vom Aussehen und vom Charakter her. Ich bin so stolz auf dich Marion.“
Zum Glück schienen meine Worte tatsächlich zu helfen und Marion wurde langsam ruhiger, bis sie schließlich aufhörte zu weinen und mir wieder in normaler Lautstärke offenlegte: „Er hat zu mir gesagt, dass er eine andere habe und nur wegen dem Kind noch mit mir zusammengeblieben sei. Aber da das Kind ja jetzt doch nicht oder nicht mehr existiere, sähe er keinen Grund mehr sich neben seiner neuen Liebhaberin auch noch um mich zu kümmern. Das hat er einfach zu mir gesagt, ohne eine Miene zu verziehen, als sei es das Normalste der Welt. Und das nachdem er mich bis dahin in den Monaten der Schwangerschaft so unglaublich toll behandelt hat, so verständnisvoll war. Nicht einmal die eifersüchtigste Frau der Welt hätte da irgendeinen Verdacht schöpfen könne.“
Als ich das hörte, musste ich erst einmal schlucken und hatte keinen Schimmer, was ich darauf antworten sollte.
Bevor ich mir ein paar gute Worte überlegt hatte, ergänzte sie noch: „Naja, das mit meinem Mann konnte ich noch verkraften. Aber mein Kind zu verlieren, das tat so unendlich weh, das war so extrem hart. Ich wünsche wirklich niemandem, so etwas durchmachen zu müssen.“
Ich nahm das Bier, trank einen riesigen Schluck und sagte: „Und trotzdem sitzt du hier und wirkst auf mich taffer und selbstbewusster denn je. Du bist ein ziemlich zäher Knochen Marion.“
Ich versuchte ihr meine Bewunderung zu vermitteln und schmunzelte in der Hoffnung, dass sie ob dem Spruch mit dem zähen Knochen auch Schmunzeln musste.
Und das musste sie tatsächlich und sagte spürbar stolz: „Das bin ich“.
Sie nahm einen Schluck Bier, schien ihr Stimmungstief überwunden zu haben und wirkte wieder völlig zufrieden mit dem Leben und sich selbst.
„Das ging aber schnell“, dachte ich mir noch.
Dann wollte sie wissen: „Und was war bei dir so los?“
Ihre Stimme klang dabei rein und friedvoll, so dass ich nicht auf die Idee kam, irgendwelche Lügenstorys zu erzählen, um mein Leben interessanter aussehen zu lassen, so wie ich es manchmal tat, wenn ich eine Frau kennen lernte.
Weil ich nichts Spannendes zu erzählen hatte, antwortete ich also etwas beschämt: „Ach, bei mir? Nichts. Weißt du, mein Leben ist eigentlich ziemlich langweilig.“
„Ach, Quatsch. Das glaube ich dir nicht. Los, erzähl mal. Hast du wen? Wie ist es so, als Lehrer zu arbeiten? Und spielst du immer noch Fußball?“, erwiderte sie sofort und schien tatsächlich Interesse an meinem Leben zu haben.
„Sie wird ziemlich enttäuscht sein, wenn ich ihr davon erzähle, weil es doch nichts wirklich Spannendes ist“, dachte ich mir, während ich mein Bier leer trank, um etwas Zeit für meine Antwort zu schinden.
Dann begann ich ihr schließlich in einer monotonen Leier zu schildern: „Ich habe niemanden, nein. Schon gefühlt ewig nicht mehr. Ich wohne alleine in einer schönen drei Zimmer Wohnung. Das Lehrerdasein macht echt Spaß, auch wenn es wirklich anstrengend ist. Und Fußball spiele ich immer noch, klar. Damit werde ich erst aufhören, wenn gar nichts mehr geht. Inzwischen bin ich Spielertrainer. Wenn ich mal aufhöre, will ich auf jeden Fall als Trainer dabeibleiben.“
„Na also, habe ich es doch gewusst. Dein Leben ist gar nicht langweilig. Im Gegenteil, es ist echt cool“, meinte sie freudig.
„Ach ja, findest du“, fragte ich total verwundert nach.
Ich selber empfand mein Leben eher als standartmäßig. Beamtenjob, große Leidenschaft Fußball und Sport allgemein, sowohl selber machen als auch zuschauen, solide drei Zimmer Wohnung, keine Freundin geschweige denn Frau, nichts Besonderes eben.
„Du bist noch immer so hart zu dir selbst, wie du es schon früher warst“, stellte sie kopfschüttelnd fest.
„Kann schon sein“, meinte ich gleichgültig und drehte meinen Kopf in alle Richtungen, um mir noch ein Bier zu bestellen, da die Bedienung gerade nicht hinter der Theke stand.
Doch ich sah sie nirgends, sie musste also wohl immer noch in der Abstellkammer sein.
„Man braucht die lange“, seufzte ich.
„Wen meinst du, wer braucht lange?“, fragte Marion verdutzt.
„Na die Bedienung“, erklärte ich ihr völlig selbstverständlich.
„Welche Bedienung?“, erwiderte Marion.
Und dann nahm dieser Abend eine ganz sonderbare Wendung. Als ich mich erneut umblickte und meinen Blick über die mit allerlei Gegenständen dekorierten Wände über die alten Spielautomaten bis hin zum Tischkicker am Ende des Raumes schweifen ließ, bemerkte ich, dass keine Menschenseele mehr da war. Auch standen auf den Tischen keine Bierkrüge oder sonstigen Gläser mehr.
„Marion, wo sind denn all die Leute hin“, fragte ich stirnrunzelnd.
Ich konnte mir nicht erklären, wie die ganzen Menschen die Bar von mir unbemerkt verlassen haben sollten. Und wo waren die ganzen Gläser auf den Tischen hin? Und warum schien es, als hätte Marion die schrullige Alte, die uns die Biere gab, nie gesehen?
„Welche Leute?“, entgegnete Marion und wirkte dabei noch viel verwunderter, als ich es war.
„Naja die ganzen Gäste eben und diese komische, unfreundliche Bedingung, über die du dich schon negativ ausgelassen hast“, erklärte ich mit gespieltem Lachen.
„Nils außer uns ist niemand hier, wir sind alleine, schon die ganze Zeit“, sagte Marion, „machst du gerade wieder einen deiner ironischen Scherze?“
Jetzt war ich nicht nur total verwundert, sondern auch noch völlig verwirrt.
„Warum hat Marion die ganzen Leute nicht gesehen. Und die Bardame…nein, die kann sie nicht übersehen haben. Sie hat ja über sie geredet“, überlegte ich.
„Nein, ich mache keine Scherze. Wer hat uns denn das Bier gegeben, wenn nicht die launige Bardame?“, sagte ich dann bestimmt, „ich glaube du machst gerade Scherze und willst mich verarschen. Du hast die Leute schon früher gern zum Gruseln gebracht.“
Marion schaute mich an, als verstünde sie die Welt nicht mehr. Ich glaube sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie über mich lachen oder schockiert sein sollte, jedenfalls hatte sie einen ganz komischen Gesichtsausdruck.
Dann berichtete sie ganz ruhig: „Na ich, ich habe die Biere aus dem Kühlschrank geholt. Warum sollte eine Bedienung in meiner Wohnung sein?“
Ungläubig blickte ich mich ein drittes Mal um und bemerkte, dass wir tatsächlich in einer Wohnung waren.
„Warum zur Hölle habe ich gedacht, wir wären in Ed´s Pub gegangen? Und wie konnte ich nur eine stilvoll eingerichtete Wohnung mit einer abgehalfterten Bar voller Menschen verwechseln und mir einbilden, jemand hätte uns bedient? Was geht hier vor sich und warum ist meine Wahrnehmung so lächerlich krass verschoben?“, kamen mir jetzt allerlei Fragen in den Sinn.
Ich war total schockiert, denn als ich meinen Blick wieder zu Marion richtete, lächelte diese hämisch und zufrieden. Nein mehr noch, sie lachte mich aus.
Als sie damit fertig war, begann sie ganz nüchtern und sachlich zu erklären: „Du wirkst schockiert, beinahe ängstlich, das ist gut. Das solltest du jetzt sein. Das Mittel, in dem Muffin, den ich dir am Anfang unseres feinen Wiedersehens als kleine Aufmerksamkeit geschenkt habe, hat gewirkt. Ich wusste, du wirst ihn gleich essen, wenn ich sage, ich bestehe darauf. Halluzinationen und komplett falsche Wahrnehmungen sind die ersten Symptome. Wie schön, dass du dachtest, wir wären in das Pub des guten, alten Ed gegangen. Wirklich zu schade, dass er den Laden schon längst dichtmachen musste. Probiere mal dich zu bewegen, das sollte jetzt nicht mehr möglich sein. Reden geht noch, aber beeile dich damit, denn schon bald wirst du ohnmächtig werden. Keine Angst, es wird nicht weh tun. Versprochen.“
„Was, was geht hier vor sich?“, stammelte ich und versuchte verzweifelt, von meinem Stuhl aufzustehen.
Aber wie Marion gesagt hatte, konnte ich mich nicht mehr bewegen und war auf diesem gefangen. Plötzlich war sie nicht mehr die süße Marion. Sie war eine diabolische, hinterlistige Bestie, scheinbar dazu bereit einen alten Schulkameraden umzubringen. Sie sah so selbstzufrieden aus. So wie man eben aussieht, wenn ein perfider Plan perfekt funktioniert.
„Tu nicht so unschuldig“, fuhr mich Marion an, „du blödes Arschloch, du weißt genau, was du getan hast! Steh wenigstens dazu. Du hast dich nie bei mir gemeldet, um dich zu entschuldigen. Und selbst jetzt bei einem persönlichen Treffen, nachdem ich auf dich zugegangen bin, nachdem ich das Thema angesprochen habe, verlierst du kein Wort darüber. Das hätte ich nie von dir gedacht!“
Ich hatte Marion noch nie so aggressiv gesehen und keinen blassen Schimmer, was sie meinte.
„Marion, ich weiß wirklich nicht, wovon du redest“, versuchte ich ihr klarzumachen.
Ich konnte gerade noch so sprechen. Bis zur Ohnmacht konnte es also nicht mehr lange dauern.
„Was ist nur mit Marion los? Ist sie wirklich eine Killerin? Aber warum will sie gerade mich umbringen? Was soll ich getan haben und ihr gegenüber nicht zugeben wollen?“ grübelte ich, während Panik und Angst meinen ganzen Körper durchzogen.
„Marion ich, ich könnte dir doch niemals etwas antun. Marion, ich...“, nuschelte ich, bis schließlich selbst Nuscheln nicht mehr möglich war.
Marion stand auf, bugsierte dabei ihren Stuhl in die Ecke und machte sich vor mir so groß wie sie nur konnte.
Dann zeigte sie verurteilend mit dem Finger auf mich und brüllte aus voller Kehle: „Du! Du hast mein Leben ruiniert! Wegen dir habe ich mein Baby verloren!“
Ich wusste immer noch nicht, worauf sie hinauswollte. Ich hatte sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen, nur im Jahr danach noch ab und zu über Facebook mit ihr Kontakt gehabt, mit dem Verlust ihres Kindes konnte ich nichts zu tun haben. Unfähig zu reden, dem Tod und einer Wahnsinnigen ins Auge blickend, ich war schon in bessere Situation geraten. Ich wollte wenigstens wissen, warum ich Marions Ansicht nach sterben musste, aber so sehr ich auch versuchte mit allerletzter Energie meine Denkmaschine in Gang zu bringen, ich konnte einfach keinen Zusammenhang zwischen Marions und meinem Leben nach unserer gemeinsamen Schulzeit finden.
Ich musste nicht lange warten, bis Marion diese Aufgabe für mich übernahm. Sie senkte ihren Oberkörper in Richtung des Stuhls, auf dem ich regungslos da hing, so dass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von dem meinen entfernt war.
Sie blickte tief in meine angsterfüllten Augen und schilderte lautstark: „Es war im Januar vor vier Jahren bei einem Autounfall. Das Kennzeichen des Wagens, der mir die Vorfahrt und mein Ein und Alles nahm, lautete KN-ND-0680. Na, klingelt da was bei dir? Ja genau, es war das Auto, das du ein paar Tage zuvor verkauft hattest. Es war wohl nicht in einem so ganz einwandfreien Zustand, wie du es dem Käufer versichert hast. Die Bremsen hätten längst ausgetauscht gehört.“
Ich dachte nach: „Ja, ich habe im Januar vor vier Jahren ein Auto mit diesem Kennzeichen verkauft. Aber es war doch in gutem Zustand, bei meinen letzten Fahrten damit war doch alles in Ordnung. Und es stand nur vier Wochen in der Einfahrt rum, was soll in dieser Zeit schon passiert sein? Oder war es doch leichtsinnig von mir, es einfach so Bernd, einem Kollegen, zu verkaufen, ohne davor danach schauen zu lassen? Könnten die Bremsen vereist gewesen sein? Aber es war doch gar nicht so extrem kalt in der Zeit, als es nur herumstand. Habe ich einen Riesenfehler gemacht? Bin ich schuld an dem tragischen Verlust einer Mutter? Und wie groß war überhaupt die Wahrscheinlichkeit, dass Bernd mit dem Auto hier in dieser kleinen Stadt herumfährt genau dann, wenn auch Marion unterwegs ist? Schließlich wohnte ich inzwischen knapp über hundert Kilometer entfernt und Bernd wohnte nur ein paar Straßen weiter. Und warum hat mir Bernd nie von dem Unfall erzählt?“
Dann gingen die Lichter bei mir aus.
In der Zeit bevor ich ohnmächtig wurde, war ich mir sicher, dem Tod entgegenzugehen.
„Marion würde mich umbringen, um ihren Sohn zu rächen“, war die logische Schlussfolgerung, zu der mein Gehirn kam, nachdem Marion mir erzählte, dass sie mich betäubt hatte und klar wurde, dass sie mich für den Tod ihres Ungeborenen verantwortlich macht.
Doch als ich aufwachte, war ich nicht im Himmel oder im Nichts oder in sonst einer postmortalen Welt, ich war in einem stinknormalen Krankenhaus. Ich konnte mich an alles bis zu meiner Ohnmacht erinnern.
„Warum hat mich Marion nicht umgebracht?“, ging es mir durch den Kopf.
Irgendwie fühlte ich mich schuldig für den Verlust ihres Babys.
Dann kamen zwei Männer in Polizeiuniform zu mir ins Zimmer und sagten: „Hallo Herr Dohen, wir würden uns gerne kurz mit Ihnen unterhalten. Wir haben sie ohnmächtig neben einer Frau, einer gewissen Marion Kugler, gefunden. Die Frau hat sich, laut unseren Gerichtsmedizinern, während sie ohnmächtig waren, erhängt. Ihr lebloser Körper baumelte direkt vor ihnen, ein entsetzlicher Anblick. Sie hat eine Nachricht in den Tisch, an dem sie saßen, geritzt.“
Ein entsetzlicher Schmerz fuhr durch meinen Körper.
Dann stotterte ich: „Marion ist tot? Was stand auf dem Tisch?“
Die Polizeibeamten stockten kurz, bevor sie mir eröffneten: „Mit der Schuld zu leben, ist viel schlimmer als der Tod.“