- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 25
(K)ein Märchen
(K)ein Märchen
Es war einmal ein Mädchen...
Sie war allein. Und sie war arm. Ihre nackten Füße waren aufgeschürft vom stetigen Laufen auf ungepflasterten Straßen. Ihre Kleidung bestand aus braunen Fetzen, die nur noch von Schmutz zusammengehalten zu sein schienen und nicht anders als Lumpen genannt werden konnten. Ihr Haar war ungekämmt und verfilzt. Manchmal kratzte sie sich am Kopf, mit ihren schmutzigen, abgekauten Fingern auf der Suche nach lästigen Insekten.
Wenn sie an anderen Menschen vorbeikam, wurden die Nasen gerümpft, man warf ihr angeekelte Blicke zu und machte sich dann so schnell wie möglich auf die andere Straßenseite davon. Manchmal warfen kleine Jungen Steine nach ihr und lachten das arme, heruntergekommene Mädchen aus.
Sie lebte vom Betteln. An guten Tagen bekam sie eine Kupfermünze. An schlechten Tagen nichts. Die meisten Tage waren schlecht. Dann musste sie hungern. Selten traf sie auf barmherzige Menschen, die ihr etwas Brot oder Wasser anboten, aber an diese erinnerte sie sich voll Dankbarkeit und wartete auf den Tag, an dem sie sich revanchieren könnte. Dieser Tag war heute. Denn heute würde sie für all das Leid, dass sie hatte ertragen müssen, entschädigt werden.
So schnell ihre schwachen Beine sie tragen konnten, eilte das Mädchen gen Hauptstrasse, durch die engen schmutzigen Gassen, vorbei an Alten, Kranken und Toten, vorbei an spielenden Kindern und aufgehängter Wäsche.
Endlich... von ferne konnte sie bereits das fröhliche Geschrei und die begeisterten Rufe der Bürger hören, die diesen Festtag begingen. Mit vor Aufregung angehaltenem Atem bog sie um die letzte Straßenecke und fand sich inmitten eines bunten Meers aus Bändern, Fahnen und Kleidern wieder.
Sie musste lächeln, als sie merkte, wie einfach es ihr fiel, sich durch die Menschenmasse zu drängen. Bei ihrem Anblick oder allein schon beim Vernehmen ihres Körpergeruches wichen die meisten Bürger nur zu bereitwillig aus.
Das machte es ihr einfach, durch die Menge zu gelangen. Wo ihr Aussehen nicht reichte, um die Kaufleute, Bauern und Tagelöhner zur Seite zu drängen, half sie mit ihren Ellenbogen nach. Drängelnd und schiebend bewegte sie sich über die Straße, ihr Ziel fest vor Augen. Ihr Herz schlug freudig höher bei dem Gedanken daran, dass sie ihn bald sehen würde. In weniger als einer Stunde würde er vorbeikommen. Majestätisch würde er auf seinem weißen königlichen Ross durch die Hauptstraße reiten. Er würde lächelnd und winkend den Menschen, die hier ungeduldig warteten, Hoffnung einhauchen und sie glauben lassen, dass es etwas besseres gab als das Leben, das sie führten. Sein blondes Haar würde im Wind wehen und... war es blond? Sie wusste es nicht. Wie die meisten Menschen hier hatte sie den Prinzen des Königreiches noch nie gesehen. Er kam ja nicht oft aus seinem Schloss heraus, geschweige denn, dass er in aller Öffentlichkeit an einem Festzug teilnahm... wie auch immer... Sein blondes Haar würde also im Wind wehen und seine majestätischen meerblauen Augen würden voller Wohlwollen auf die Armen und Kranken hinuntersehen. Ja, und dann würde er in seinen Beutel greifen und glänzende Goldmünzen hervorholen und in die Menge werfen und alle würden seine Güte und seine Mildtätigkeit preisen. Sie lächelte zufrieden. Und dann würde sie von einem Mann, dem sie die Sicht versperrte, auf die gepflasterte Straße vor das Pferd des Prinzen geworfen. Das edle Tier würde trotz der guten Erziehung scheuen und sie in große Gefahr bringen. Aber der Prinz würde sein Pferd zügeln. Erschreckt und besorgt würde er absteigen und sie mit sanfter Stimme fragen, ob sie sich verletzt habe. Und sie würde zart lächeln, ihr Haar richten und versichern, dass es ihr gut ginge. Aber das würde so einem mitfühlenden Mann wie ihm nicht genügen. Er würde sie in sein Schloss mitnehmen, um sicherzugehen, dass ihr auch wirklich nichts geschehen war. Er würde sie auf sein Pferd heben, dann selbst aufsteigen und gemeinsam mit ihr ins Schloss reiten. Und der Prinz würde sich in sie verlieben... man würde sie adeln und dann würde das Mädchen, das einst auf der Straße gelebt hatte, in den heiligen Bund der Ehe mit dem Thronerben des Landes treten... Das Mädchen lächelte noch breiter.
In wenigen Augenblicken war es soweit. Man konnte bereits die Fanfaren und Trompeten hören, die das Kommen seiner Majestät ankündigten. Da war das Geklapper der Pferde der königlichen Leibgarde. Mit einer letzten Anstrengung drängelte das Mädchen einen jungen Mann vor sich weg. Sie stand nun direkt an der Gasse, die die Menge für den königlichen Besuch gebildet hatte. Sie hatte den perfekten Blick.
Endlich... diszipliniert ritten die Ehrengarde, die Leibgarde und die hochadeligen Ritter an der Menge vorbei. Keiner von all diesen hochgestellten Männern warf der jubelnden und kreischenden Menge auch nur einen freundlichen Blick zu. Die meisten schauten sich angewidert, erschrocken oder einfach nur hochnäsig um. Wenige von ihnen hatten jemals die Altstadt gesehen. Wer ging schon selbst auf den Markt, wenn er einen Bediensteten schicken konnte? Sie waren angeekelt von dem Gestank, der von den Bauern ausging, von den vor Schmutz starrenden Kleidern und ihren mit Dreck beschmierten Gesichtern. Das Mädchen sah sich etwas enttäuscht um. Wo war denn nun der Prinz? Sie hatten doch alle auf ihn gewartet. Sie beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. Aber immer noch war nichts zu erkennen. Kein weißes Pferd, kein roter Umhang, keine Krone...
Ein heftiger Stoß von hinten ließ das Mädchen aufschreien. Der junge Mann, den sie so unsanft weggedrängt hatte, hatte die Gelegenheit genutzt, sich zu rächen. Platschend landete das Mädchen in einer Dreckpfütze. Verzweifelt betrachtete sie, wie sich ihre Kleidung mit Wasser vollsog und den Schmutz aufweichte, um neuem Schmutz Platz zu machen. Wie sollte sie so vor den Prinzen treten? Sie stand auf und war kurz davor, zu weinen zu beginnen, als ein zorniger Schrei und aufgeschrecktes Wiehern sie herumfahren ließen.
Vor Schreck wie erstarrt, schaffte sie es nicht, sich zu bewegen. Ein riesiges schwarzes Ross türmte sich vor ihr auf. Es schlug mit den Hufen und wieherte aufgeregt. Aus seinen Augen blitzten Zorn und Angst. Die tretenden Hufe kamen ihrem Gesicht bedrohlich nahe, und die Knie des Mädchens gaben nach. Wimmernd sank sie zurück in die Pfütze. Aus großen angstvollen Augen starrte sie das Pferd an. Dann, endlich, schaffte es der Reiter, sein Tier zu beruhigen. Wütend wendete der Mann das Ross, sodass er den Störenfried sehen konnte. Da saß das Mädchen nun. Mitleiderregend starrte es zu dem Prinzen herauf. Er hatte braune Haare und Augen und eine viel zu lange Nase. Aber egal... er war der Prinz! Hoffnung erfüllte ihren Blick.
Alle ihre Träume hatten sich fast erfüllt. Es war nur noch ein winziger Schritt...
Und dann zerschmetterte der große, stattliche Mann auf dem Sattel seines furchterregenden Streitrosses alle Hoffnungen, alle Träume, alle Liebe auf einen Schlag.
„Dämliches Pack“, sagte er herablassend. Sein Blick traf den des Mädchens und alles in ihr verblasste. So viel Abscheu, Hass, Wut und Arroganz... so viel Unwissenheit...
Mit einem Schlag seiner Gerte trieb der Prinz sein Pferd wieder an. Mit schweren, ausladenden Schritten stampfte es an dem Mädchen vorbei. Sie musste sich beeilen, aus dem Weg des Tiers zu gelangen, denn rücksichtslos trat es keinen Zentimeter zur Seite.
Verstört zog sich das Mädchen zurück. Noch lange blickte sie dem Reiter hinterher. Aber er drehte sich nicht um. Als die Feierlichkeiten vorüber waren und der Prinz noch immer nicht wiedergekehrt war, verließ das Mädchen jede gebliebene Hoffnung. Es war Nacht, und die Sterne glitzerten am Himmel. Aber für das Mädchen blieb in dieser Nacht alles trostlos. Der Mond schaute hämisch auf sie herab. Die Sterne funkelten und strahlten und lachten sie aus. Selbst die stille Wasseroberfläche des Kanals schien sich über sie lustig zu machen. Was hatte sie sich nur vorgemacht? Hatte sie wirklich geglaubt, ein Prinz könnte jemanden wie sie lieben? Ja, sagte ihr Herz. Ja, das glaubte ich... das wünschte ich... ihre Seele verkrampfte sich beim Aufflackern der Erinnerung an ihre Begegnung mit dem Königssohn... wie hatte sie nur so dumm sein können?
Sie gehörte nicht zu den Sagenfiguren und Märchenprinzessinen, von denen die alten Leute erzählten. Sie wurde nicht von einer guten Fee besucht, die aus ihr eine Schönheit machte. Sie traf nicht ihren Helden, ihren Märchenprinzen. Sie war nur sie... nur sie selbst...
Und als das Mädchen zwei Jahre später starb, fragte niemand, wo sie hin verschwunden sei. Niemand wunderte sich, warum sie nicht mehr in der Hauptstrasse bettelte. Niemand betrauerte sie. Niemand vermisste sie... denn nur in Märchen finden auch die Niederen eines Tages ihr Glück... und das ist kein Märchen...