Künstliche Schwerkraft
Friedlich rotierte der Asteroid um seine Hauptachse. Das in seinem zylindrischen Inneren 100.000 Menschen lebten, sah man ihm auf Anhieb nicht an. Einzig die Andockstation an einem Ende deutete auf die Betriebsamkeit hin. Auf der Innenseite lagen die Wohn- und Arbeitsbereiche, während in der Röhre, die in der Mitte angebracht war, Schwerelosigkeit herrschte, weshalb dort einige Labore untergebracht waren.
In einem dieser Labore schaute Professor Olsen auf seine Uhr: „Lass uns den nächsten Testlauf morgen starten. Ich muss noch eine Vorlesung halten und außerdem fängt in drei Stunden die Konferenz mit diesen erdverbundenen Physikern statt.“ Seinem Tonfall war die tiefe Verachtung gegenüber seinen Kollegen auf der Erde anzumerken.
Sein Student Marvin, der schon über zwei Stunden an ein und dieselbe Computerkonsole geschnallt war, reagierte gar nicht darauf, obwohl er normalerweise niemals eine Möglichkeit für abfällige Scherze über Menschen, die auf der Erde geblieben waren, ausließ.
Da erst merkte der Professor, dass Marvin schon ziemlich lange keinen Ton von sich gegeben hatte, sondern nur stur auf die Tastatur hämmerte. Er schwebte näher: „Marvin! Erdphysiker!“ Marvin murmelte etwas, das man mit ein wenig Phantasie „Steinzeitphysiker!“ übersetzten konnte, blickte aber ansonsten weiterhin auf die blinkenden Zeichen, die auf dem Bildschirm seine Berechnungen darstellten.
„Marvin, was ist los?“ Olsen war jetzt neben Marvin geschwebt und hielt sich am Haltegriff neben dem Bildschirm fest. Ohne den Blick vom Monitor zu nehmen, sagte Marvin: „Ich glaube, ich habe das Problem der Stabilisierung des Schwerefelds gelöst.“ „Tatsächlich? Lass mal sehen!“ Olsen löste eine Schnalle von dem Gurt, der Marvin an der Konsole festhielt, gab ihm einen leichten Stoß und war auch schon vor dem Monitor. Leicht verärgert schwebte Marvin, der von dem Manöver total überrascht wurde, einen Meter weg, bevor er sich von einer Querverstrebung abstieß um seinen Platz wieder einzunehmen. „Ich bin noch nicht fertig“, sagte er gepresst, aber der Professor war wieder schneller. Mit einem geschickten Griff lenkte er Marvins Flugbahn so um, dass dieser erst gute drei Meter weiter wieder etwas greifen konnte, das ihn stoppte.
„Erstens musst Du noch einiges lernen beim Null-G-Rugby, und zweitens möchte ich sehen, wieso Du glaubst etwas geschafft zu haben , was ich in zwanzig Jahren Arbeit nicht hingekriegt habe.“ Der erhobene Zeigefinger des Professors machte Marvin endgültig wütend. „Ich hätte es Ihnen schon gezeigt, wenn ich fertig bin,“ sagte er aus seiner Ecke. Mit zusammengekniffenen Augen hing er da und versuchte vergeblich seine Wut auf seinen Mentor zu unterdrücken.
„Ja, ja, ja,“ meinte Olsen mit einer wegwerfenden Handbewegung, abgelenkt durch die Zahlen auf dem Monitor. Fünf lange Minuten passierte gar nichts. Trotz seiner Versuche, es nicht zuzulassen, stieg Marvins Wut immer weiter, während er den Professor dabei beobachtete, wie sich seine Lippen leicht bewegten bei dessen Versuch Marvins Berechnungen gedanklich zu folgen. Bei dem vergeblichen Versuch, da war sich Marvin sicher. Schließlich schaute der Professor über seine Brille zu Marvin. Wie Marvin schon länger wusste, war das die typische Reaktion, wenn jemand versuchte, einen Sachverhalt anders anzugehen als der Professor. „Marvin, Marvin,“ der Professor schüttelte den Kopf, „Wo hast du das denn her? Das ist ziemlich unkonventionell und im besten Fall äußerst spekulativ. Aber ich sag Dir was: Nächsten Monat haben wir freie Simulationszeit. Wenn Du bis dahin etwas von der Spekulation abrückst und zu fundierten Daten kommst, dann darfst Du es versuchen. Ich wollte zwar eine Systemanalyse durchführen lassen, aber als mein begabtester Student gebe ich Dir diese Chance.“
„Aber ich...“ Marvin scheiterte an dem energisch erhobenen Zeigefinger des Professors: „Du erwartest doch nicht, dass ich Dich ohne gründliche Überprüfung mit so was“, er nickte in Richtung Monitor, „an meinen Generator“, diesmal deutete er mit dem Daumen auf das summende Gebilde am Ende des Raumes, „ranlasse. Erledige erst mal deine Aufgaben, dann sehen wir weiter. Für heute ist auf jeden Fall erst mal Schluss.“ Das unterstrich er mit dem Abschalten der Konsole, „Der Generator muss für den Testlauf morgen abkühlen, ich muss mich um meine Arbeit kümmern und so weit ich weiß, fängt Deine Schicht auf den Farmen bald an. Jeder muss seinen Beitrag zur Landwirtschaft leisten, sonst können wir einpacken und wieder zurück zur Erde fliegen. Kein Augenrollen, das ist wichtiger als alles, was Du hier leisten kannst!“
Beim letzten Satz war der Zeigefinger direkt auf Marvin gerichtet. Mit einem gemurmelten: „Da bin ich mir nicht so sicher,“ fügte sich Marvin, zumal der Professor ihn schon Richtung Aufzug zog.
Nachdem sie beide dort ihre Füße unter die Verankerungen bugsiert hatten, und der Professor den „Abwärts“-Knopf gedrückt hatte, fing er an beruhigend auf Marvin einzureden. „Hör mal, Du bist wirklich der cleverste Student, den ich jemals gehabt hatte, aber Du solltest aufpassen, dass Du Dich bei Deinen Berechnungen nicht...“ den Rest bekam Marvin nicht mehr mit, weil er in Gedanken wieder zu seinem Geistesblitz zurückkehrte, den er einige Stunden vorher hatte. Er merkte nicht einmal, wie ihn die Zentrifugalkraft der rotierenden Kolonie wieder auf den Boden drückte.
Als sie unten angekommen waren, redete der Professor immer noch, aber Marvin stapfte einfach aus dem Fahrstuhl heraus und ging los. Olsen blieb mit seinem „Wir sehen uns morgen!“ verwirrt alleine zurück. Nachdenklich ging er zu seinem Büro, wo ihn seine Sekretärin mit einem Wust an Nachrichten empfing, die ihn sofort so sehr ablenkten, dass es ihn das seltsame Verhalten seines Studenten vergessen ließ. Marvin allerdings ging in Gedanken versunken zu seinem Quartier, wo ihm seine aufgebrachte Freundin empfing: „Wo bleibst Du denn? Zieh Dich sofort um, wir kommen sowieso schon zu spät.“ Nach dem obligatorischen Begrüßungskuss kam Marvin wieder zur Besinnung. „Schnuffelchen, ich fühl mich nicht gut, kannst Du nicht ohne mich losgehen? Ich wird mich kurz hinlegen und komme dann nach.“ „Schon wieder diese Übelkeit?“ Marvin nickte. „Du solltest wirklich nicht so viel Zeit da oben in der Schwerelosigkeit verbringen. Leg Dich hin und ruh Dich aus! Ich schaffe Deinen Anteil schon irgendwie. Okay?“ „Ich danke Dir.“ Marvin war mit seinen Gedanken woanders, deswegen merkte er nicht, wie verärgert seine Freundin wirklich war.
Nach einer kurzen verbalen Bestätigung ihrer gegenseitigen Liebe ging sie dann auch zu den Farmen, wo Marvin eigentlich auch hin musste. Er hatte aber etwas anderes im Sinn. Sollte der Professor seine Ideen ruhig als spekulativ abtun, er war sich sicher, dass er recht hatte. Er musste es nur beweisen. Aber dazu brauchte er den Generator des Professors, und zwar vorgewärmt.
Armer Prof. Olsen, da hatte er diesen Generator gebaut, um künstliche Schwerkraft zu erzeugen, aber nie erkannt, zu was dieser Generator wirklich fähig war. Aber er, Student Marvin McElworth, würde es heute Abend zeigen. Alles, was er dazu brauchte, war der Schlüssel zum Fahrstuhl, der ihn in den Generatorraum bringen konnte. Also ging er los.
Weil er wusste, dass Professor Olsen jetzt in einer Vorlesung war, konnte er einfach in sein Büro gehen und mit seiner Sekretärin sprechen. „Hallo Frau Cerebro, ich habe meinen Organizer im Labor vergessen. Kann ich ihn eben holen?“ „Ach Herr Marvin,“ (sie hatte ein Problem mit Nachnamen, auch Professor Olsen war für sie immer nur der Herr Professor, auch wenn das gelegentlich zu einiger Verwirrung führte) „sie wissen doch, dass der Herr Professor niemanden ohne seine Aufsicht dahin lässt.“ „Frau Cerebro, sie kennen mich doch!“ Marvin versuchte sein charmantestes Lächeln aufzusetzen, das, mit dem er letztendlich auch seine Freundin überzeugt hatte, seine Freundin zu werden.
Anscheinend gelang es ihm, denn er bekam den Schlüssel mit einem verschämten Augenzwinkern.
Marvin fuhr in den Generatorraum, wo er sich sofort an seine durch das unsanfte Eingreifen seines Professors unterbrochenen Berechnungen setzte, um die richtigen Konfigurationen für den Warmstart des Generators zu ermitteln.
Währenddessen hatte Prof. Olsen seine Vorlesung beendet und ging zu seinem Büro, um die letzten Vorbereitungen für die „Zusammenkunft“ mit den anderen Koryphäen seiner Zunft zu treffen. Auf keinen Fall durfte er vergessen, die neue Herangehensweise von Marvin zu erwähnen. Sie war zwar spekulativ, aber sehr vielversprechend. Aber eines war klar: sie durfte nicht bei einem Olsen-Generator angewendet werden, der sich im Inneren eines von Menschen bewohnten Asteroiden befinden. Darum musste er auf den Bau eines frei schwebenden Generators bestehen, und das mit Nachdruck.
Als er nun in seinem Büro ankam, versuchte seine Sekretärin, ihn mit offensichtlich unwichtigen Detail abzulenken. Prof. Mullen hat abgesagt, Sonnenprotuberanzen hatten drei Messstationen an der Oberfläche lahmgelegt, ein Student sucht im Labor seinen Organizer, Prof. Mullen kann jetzt doch teilnehmen, ein Reporter der Interplanetary News möchte ein Interview nach der Konferenz.
Nachdem er sie abgeschüttelt hatte, suchte er seine Disketten für die Konferenz zusammen. Er entschloss sich, mit Marvins Berechnungen, die er natürlich kopiert hatte, anzufangen. Obwohl sie nicht von ihm waren, könnte er doch ein wenig von dem sicheren Ruhm einheimsen, weil Marvin sein Student war.
So ging er also selbstbewusst in die Konferenz, die über Video stattfand. Nachdem der Vorsitzende die Formalia erledigt hatte, erhielt Olsen das Wort und begann den anderen Physikern begeistert über den möglichen Durchbruch in der Forschung bezüglich der künstlich erzeugbaren Schwerkraft zu berichten, und natürlich wies er darauf hin, dass man das nur mit einem frei schwebenden Generator in genügendem Abstand zu bewohntem Raum verifizieren konnte.
Genau in dem Moment, in dem Professor Olsen den anderen Konferenzteilnehmern Marvins Berechnungen übermittelte, war dieser mit der Programmierung des Generators fertig.
Marvin musste nur noch den Schalter umlegen, der den Generator in Gang setzen würde. Und mit den Worten: „Das wird mir keiner nehmen!“ tat er das auch.
Leider hatte Marvin nur die theoretische Möglichkeit der Erzeugung künstlicher Schwerkraft bedacht, nicht aber die reellen Auswirkungen eines Generators, der künstliche Schwerkraft im schwerelosen Zentrum eine rotierenden Zylinders erzeugt.