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Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz (feat. Zerbrösel-Pistole)
„Nein sage ich! Das können wir nicht machen! Ich darf doch sehr bitten, Kollege.“
„Aber geehrter Doktor Ramsej, das hatten wir doch jetzt alles schon.“
Die beiden Wissenschaftler standen in ihrem unterirdischen Labor, neben einer Bahre, auf der ein unfertiger Körper lag. Die Hülle war da, leer.
„Wir haben so viel in dieses Projekt gesteckt, jetzt können und dürfen wir keinen Rückzieher mehr machen!“
„Aber werter Professor Togal, was ist mit den moralischen Werten? Welches Recht haben wir dazu, Leben zu erschaffen? Und welche Sicherheiten haben wir? Wer garantiert uns, dass wir ... es ... unter Kontrolle halten können?“ Er betrachtete abfällig die leere Hülle. In seinem Blick spiegelte sich auch etwas Unbehagen.
„Nun ist es aber gut, Doktor Ramsej! Wir sind auf Sie angewiesen, weil es sich um Ihr Spezialgebiet handelt. Sie als exzellenter Arzt haben die besten Kenntnisse über die menschliche Anatomie. Aber nutzen Sie das nicht aus, nötigenfalls zwingen wir Sie, und das ist Ihnen auch bewusst. Also spielen Sie hier nicht den Moralapostel, und fangen Sie mit Ihrer Arbeit an.“
„Und Sie wollen, dass dieses Ding ... diese künstliche Intelligenz, wie Sie es nennen ... menschliche Eigenschaften besitzen wird?“
„Exakt.“
„Und menschliche Gefühle, menschliche Verletzlichkeit?“
„Genau.“
„Und menschliche Sterblichkeit?“
„Erraten.“
„... Entschuldigen Sie, aber das ist das sinnloseste Unterfangen, von dem ich je gehört habe ... was nützt einem künstliches Leben, wenn es kaputt geht? Was nützt einem künstliches Leben, wenn es endet?“
„Aber verstehen Sie denn nicht, das ist ein Meilenstein in unserem Verständnis von Wissenschaft. Zum ersten Mal künstliches Leben erschaffen! Doktor, wir werden in die Geschichtsbücher hineingeschrieben, jedes Kind wird unseren Namen kennen und wissen, dass ihr Haussklave uns zu verdanken ist!“
„Und wem nützt so eine Haushaltshilfe, wenn sie sich beim Brotschneiden den Finger verletzt? Wem nützt ein Gärtner, der von der Leiter fällt und sich das Genick bricht? Nein, nein, das alles ist zu sinnlos ...“
„Aber denken Sie doch an die anderen Möglichkeiten ... Ein lustiger Zeitvertreib, sie gegeneinander kämpfen zu lassen. Oder ein einfühlsamer Liebhaber, erfüllt mit den menschlichen Eigenschaften Liebe, Treue, Zuvorkommenheit und ... na ja, Sie wissen ja so gut wie ich, auf was Menschen noch stehen.“
Der Doktor sah auf die Bahre, der Hülle zwischen die Beine.
„Man kann es auch übertreiben ...“
„Wieso? Wir haben extra Durchschnittsgröße gewählt.“
„Oh“, sagte der Doktor und sein Gesicht erhitzte sich. „Dann lassen Sie mich jetzt mal an den Körper“, überspielte er schnell die Situation und trat geschäftig an die Bahre heran.
„Also gut, was haben wir denn da ...“
Zwei Monate später
Professor Togal saß auf dem stählernen Drehstuhl in seinem grauen Büro. Die drei Wände waren nackt und nur ein einzelnes Regal zierte die rechte Wand. Ein kalter Wind trug den Geruch von Teer und Abgasen durch die eingerissene Rückwand in den Raum und blätterte durch die vergilbten Seiten der Bücher auf dem Regal. Die Moleküle der Luft erzeugten Krebs in jeder Variation, ließen die gesunden Zellen bösartig mutieren.
Togal nahm den Gestank gar nicht zur Kenntins, zu sehr war er in seine Akten vertieft. Er stand von seinem Stuhl auf und entnahm dem Regal ein in schwarzes Leder gebundene Buch. Auf den Seiten, die die Witterung der letzten Jahrzehnte geprägt, aber nicht völlig zerstört hatte, suchte er nach Details zur Erschaffung künstlichen Lebens. Togal war ein Spezialist auf diesem Gebiet, eine Instanz, die andere Wissenschaftler um Rat anflehten, wenn sie nicht mehr weiterwussten und ihre Experimente bereits zu scheitern drohten. Togal kannte die Geheimnisse der Lebenserschaffung und meist gab er sie gegen eine Bekundung des Respekts der verzweifelten Wissenschaftler ab.
Selbst wenn sich seine Kontrahenten zusammen taten, so wussten sie doch nur ein lächerliches Fragment von all dem, was er selbst über die Materie wusste.
Doch diesmal war alles anders.
Diesmal durfte er keinen Fehler machen.
Nicht nur weil Ramsey ihm mit seinen moralischen Bedenken im Nacken saß.
Dies war eine Revolution.
Wenn Togal das Experiment erfolgreich beendete, so ginge er in die Geschichte ein.
Und niemand würde ihm in die Quere kommen können, wenn nicht er selbst. Jetzt lag es nur noch in seiner Hand.
Zwischen mikrobiologischen Algorithmen und chemischen Formeln überflog er Warnhinweise, die er bereits aus seiner Ausbildung kannte, die nun schon mehrere Jahrzehnte zurück lag.
Der Lärm des Luftverkehrs, der in den Raum drang, störte ihn nicht. Er sog das Wissen mechanisch in sich ein, ohne sich von den Atomhupen und dem monotonen Dröhnen der Außenwelt stören zu lassen.
Dann verließ er das Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl in das Labor.
Alles war noch so, wie er es zurück gelassen hatte: die menschliche Hülle und die präparierten Werkzeuge.
Der Stuhl, auf dem Ramsey sitzen sollte, war leer.
Togal würde ihn informieren, sobald es geschafft war. Sein Kollege hatte eh nichts zu melden.
Sollt er sich doch beschweren: Niemand würde einem Moralapostel wie ihm Gehör schenken.
Togals Blick fiel auf die Flasche mit dem öligen Inhalt, die auf dem Schreibtisch an der Hinterwand stand.
Nein, ermahnte er sich, erst die Arbeit.
Das Experiment hatte sich schon so unglaublich oft nur vor seinem inneren Auge vollzogen.
Doch nun war der Moment gekommen.
Togal nahm den Nagelplaster in seine Hand. Mit der ihm gegeben Präzison verschloss er die letzte Naht an der menschlichen Hülle.
Dann kapselte er sein Projekt, das noch reglos auf der Bahre lag, über den abtrennbaren USB-Anschluss an der Drahtnabelschnur an sein Motherboard an.
Togal verfolgte, wie nacheinander synthetische Organe aktiviert und der Mandelkern an der vorderen Schädelfront des Wesens initialisiert wurden. Er musste neidlos anerkennen, dass Doktor Ramsej seine Sache sehr gut gemacht hatte. Es sah verdammt realistisch aus.
Jetzt musste es geschehen. Und obwohl Togal nichts anderes erwartet hatte, sah er doch mit einer gewissen Erfüllung, dass etwas geschah.
Togal vernahm einen Schrei, der die Lunge des Menschen mit dem Sauerstoff füllte, den Togal eigens zu diesem Zweck in das Labor gepumpt hatte.
Als sich das Wesen, aus Togals Experiment in die neue Welt geboren, vor Togal aufrichtete, war es geschehen.
Das Projekt war vollendet.
Togal fuhr mit seinen Sensoren über die lauwarme Haut des Menschen. Ein kurzer Moment gefühlsloser Entzückung.
Dann fuhr Togal seinen Prozessor auf Standbymodus. Der Mensch vernahm das leise Surren aus Togals synthetischem Androidenschädel, ohne zu verstehen.
Als Togal seine Schaltkreise mit dem Öl-Treibstoff-Gemisch kühlte, blickte er in die Augen des Menschen, die neugierig blickten.
Ob er, der einzige seiner Gattung seit dem Auslöschen der Menschheit, die Verkörperung der Sterblichkeit, in einer rein mechanischen Welt überleben konnte?
Der Mensch vermutlich nicht, aber Togals Ruhm würde die Ewigkeit überdauern.
Und nur darauf kam es an.
Thema des Monats Mai 2006: Megapointe