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Körperteile
Ding Dong!
„Scheiß Türklingel“, murmelte Lew.
Wer konnte das sein? Lew hatte normalerweise niemals irgendwelchen Besuch. Noch dazu gerade jetzt, da er damit beschäftigt war außerirdische Monster auf seinem Computer zu killen. Obwohl, Besuch kam für Lew eigentlich immer unpassend. Er wartete auf weiteres Klingeln, aber nichts kam. Gerade das jedoch machte ihn nervös. Was hatte das zu bedeuten? Warum sollte jemand läuten und, ohne geöffnet zu bekommen, wieder verschwinden? In Gedanken sah er schon jemanden um das Haus schleichen, der sich nur vergewissern wollte, ob auch niemand zuhause war.
Es half alles nichts, Lew musste sich aufraffen und nachsehen. Er setzte den Shooter auf Pause und drehte sich weg vom Monitor. Mit seinem Stuhl vollführte er vorsichtig eine hundertachtzig Grad Drehung, um nirgends anzustoßen. Vergebens, seine Fußspitze brachte eine leere Flasche zu Fall, die, in bester Dominomanier, eine Kettenreaktion auslöste und den Großteil der Flaschenwüste zu seiner Linken mit sich riss.
„Verdammte Scheiße, verdammte“, fluchte Lew, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sein Ziel war jetzt die Eingangstür, alles andere konnte warten. Nach ein paar Sekunden hatten sich seine Augen an die Dunkelheit im Raum gewöhnt, dessen einzige Beleuchtung das Flackern des Monitors war. Links und rechts türmten sich Berge von Gerümpel. Leere Bierdosen und Flaschen, Stapel von Magazinen, Tageszeitungen und Postwurfsendungen. Bücher, CDs, Videokassetten, alles durcheinander liegend oder unachtsam aufeinander geschichtet in verzweifelten Versuchen, den Pfad nicht vollends verschwinden zu lassen.
Der Pfad, sein Weg durch das Haus. Diese Schneise durch das angesammelte Zeug war gleichzeitig die letzte Stelle, an der man den Boden noch erahnen konnte.
Ein paar der Flaschen waren auf den Pfad gerollt und Lew stieg einfach darüber hinweg, genau wie über den umgestürzten Zeitungsstapel, der ihn im Flur erwartete.
Schließlich erreichte er die Tür zum Windfang. Mühsam drehte er den alten Eisenschlüssel herum. Mit einem lautem Schnarren glitt der Riegel nach innen und Lew stemmte sich gegen alte Holzbohlentür, die zu seinem Glück nach außen schwang.
Sonnenlicht drang durch das bunte Glas der Vordertür, die, wie das gesamte Ding, das sein Vater irgendwann einmal angebaut hatte, überhaupt nicht zum restlichen Haus passte.
Lew blinzelte und hob die Hand, um seine Augen vor dem schmerzhaften Eindringen farbiger Sonnenstrahlen zu schützen.
Durch das unregelmäßige Glas hindurch sah er, dass niemand vor der Tür stand. Aber irgendwas war davor abgelegt worden, eine Schachtel, oder so etwas Ähnliches. Es war nicht der reguläre Postbote gewesen, der warf die Post immer in den Windfang. Als Lew in selbigen hinaustrat erinnerte ihn die frische Luft daran, dass er nur seine Unterwäsche anhatte.
„Verdammt“. Er überlegte kurz, ob er es vielleicht wagen konnte, die Tür einen Spalt breit zu öffnen, um ungesehen das Paket herein zu ziehen, dann aber machte er sich unter weiterem Gefluche auf, seine Hose zu suchen.
Schließlich hatte er das Unterteil eines verschwitzten Jogginganzuges in der Nähe des Bettes gefunden und fühlte sich damit bekleidet genug, um das Paket hereinzuholen.
Es handelte sich um eine billige Kühlbox aus Styropor, wie man sie bei jeder Tankstelle kaufen konnte. Der Deckel war mit unregelmäßigen Windungen braunen Klebebandes fixiert. Lew drückte seine Fingernägel in den Spalt zwischen Deckel und Box und zerschnitt damit das dünne Verpackungsklebeband. Als er den Deckel schließlich abnahm und den Inhalt sah, sprang er erschrocken zurück.
„Oh Scheiße... verdammte Scheiße... gottverdammte Scheiße, was ist das?“, fluchte er.
In der Box lag ein menschlicher Arm. Fein säuberlich an der Schulter abgetrennt… aus dem Stumpf ragte der weiße Gelenksknochen noch unversehrt hervor.
Lew schnappte sich den Deckel und drosch ihn auf die Box. Zu fest, denn er brach mit der Hand durch das weiche Material und seine Fingerspitzen berührten den Arm.
„Scheiße, verdammte Scheiße.“ Fluchend packte er einen herumliegenden Pizzakarton auf das Loch.
Was war das? Wer hatte ihm dieses Ding vor die Tür gestellt, und warum? Lew fühlte Panik aufsteigen, was sollte er tun? Die Polizei anrufen? Auf keinen Fall. Lew durfte kein Aufsehen erregen. Irgendwelche Beamte, die dumme Fragen stellten, konnte er nicht gebrauchen.
Er ließ die Kühlbox stehen und machte sich auf den Weg zu seinem Computer. Dort waren die Zigaretten und der Schnaps, es war der einzige Platz, wo man sich ohne aufzuräumen hinsetzen konnte, und wenn er Glück hatte, war sogar Marduk online.
Marduk war der einzige Mensch, dem Lew vertraute. Wahrscheinlich, weil er ihm so ähnlich war. Lew kannte zwar nicht einmal seinen richtigen Namen, denn Marduk war nur sein Online-Pseudonym, aber er war ebenfalls ein zurückgezogener Einzelgänger und verließ so gut wie nie das Haus. Marduk hatte irgendeine Krankheit, die ihn langsam umbrachte. Das war auch ein Grund warum Lew ihm Dinge anvertraute, die er sonst niemandem erzählte. Er würde bald sterben und alles mit ins Grab nehmen. Lew fand diesen Gedanken sehr beruhigend.
Lew erreichte den Computer und beendete seinen Shooter, den er zuvor nur auf Pause gestellt hatte. Er öffnete seinen Messenger, und während sich das Modem mit nervigem Gepiepe einwählte, zündete er sich hastig eine Zigarette an und nahm einen tüchtigen Schluck aus der Pulle.
Marduk war online. Eigentlich war er das ja fast immer, nur, ob er auch antwortete, war fraglich. In den letzten Tagen schien es ihm schlechter zu gehen. Seine Antworten brauchten länger als üblich.
>“Marduk, bist du da? Ich habe gewaltige Probleme!“, schrieb Lew.
Er hatte die halbe Schachtel aufgeraucht und den Rest der Schnapsflasche geleert, bevor Marduk endlich antwortete. Inzwischen hatte er immer wieder Aufforderungen an Marduk getippt, sich endlich zu melden.
>“Hallo Lew, mein Freund, Sie scheinen ja sehr aufgeregt, worin liegt denn Ihr Problem?“
Lew teilte ihm die ganze Sache in kurzen Sätzen mit und wartete, wie es ihm schien, eine Ewigkeit auf Marduks Antworten.
>“Lew, es scheint mir, Sie sind ausgewählt worden.“
>“Ausgewählt? Von wem? Wofür?“
>“Nun, das ist schwer zu sagen. Die Mafia, vermute ich, oder eine ähnliche Organisation.“
>“Was? Soll das heißen, Sie glauben, die entsorgen ihre Leichenteile bei mir? Wieso werfen sie die nicht einfach in den Fluss, wie in den Filmen?“
>“Nun, Lew, ich stelle nur Vermutungen an. Es kann auch andere Gründe haben, aber vielleicht beruhigt Sie der Gedanke, dass die dazugehörige Person nicht zwangsläufig tot sein muss.“
>“Nein, das beruhigt mich ganz und gar nicht. Was soll ich mit dem verdammten Ding jetzt anfangen?“
Es dauerte mehrere Zigarettenlängen, bis Marduks nächste Antwort kam. Lew war schon fast am Durchdrehen.
>“Es tut mir leid, Lew. Ich fühle mich nicht wohl. Ich muss mich hinlegen.“
>“Komm schon, Marduk, was soll ich denn mit dem Ding machen? Hilf mir, du kannst später sterben.“
Wieder verging eine schier endlose Zeitspanne, bis Marduk endlich antwortete.
>“Wie geht es Ihrer Mutter, Lew? Glauben Sie, sie fühlt sich manchmal einsam?“
Das hatte gesessen, Marduk wusste genau, wie er Lew dazu bringen konnte, ihn in Ruhe zu lassen. Wütend brach der die Verbindung ab. Warum musste er gerade jetzt seine Mutter erwähnen?
„Verdammte Scheiße“, fluchte Lew und warf die nutzlos gewordene Schnapsflasche zwischen die umgefallenen, was weitere Kettenreaktionen zur Folge hatte.
Nach einer Weile, Lew hatte die restlichen Zigaretten aufgeraucht und stand ratlos vor der Kühlbox, fiel ihm Marduks letzter Satz wieder ein: „Glauben sie, sie fühlt sich manchmal einsam?“ Erst jetzt wurde ihm klar, was er damit sagen wollte und Lew machte sich fluchend auf den Weg, die Kellertür frei zu räumen.
Lews Mutter war vor ein paar Monaten gestorben. Sie war schon längere Zeit krank gewesen und nur noch siechend im Bett gelegen. Lew hatte sich mehr schlecht als recht um sie gekümmert. Schon damals hatte er Marduk um Rat gefragt, der kannte sich mit Krankheiten und solchen Dingen gut aus. Sie hatte sich immer geweigert einen Doktor zu sehen und er konnte nichts tun, als sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Lew wusste nicht einmal, woran sie genau gestorben war. Eines Morgens war sie einfach tot gewesen.
Damit war Lews Leben drastischen Änderungen unterworfen. Er hatte keinen Job, schon sein ganzes Leben lang war er mitgeschleppt worden. Die Witwenrente seiner Mutter hatte knapp ausgereicht, um davon zu leben und auch das eine oder andere Extra zu besorgen, wie zum Beispiel den Computer.
Es war Marduks Idee gewesen. „Wer weiß denn, dass Ihre Mutter gestorben ist? Gibt es irgendwelche Freunde oder Verwandte, mit denen sie regelmäßigen Kontakt hatte?“
Es gab keine Freunde und auch keine Verwandten mehr. Lew und seine Mutter hatten die letzten fünf Jahre allein gelebt, ohne jemals Besuch gehabt zu haben. Seine Mutter hatte in dieser Zeit das Haus kaum verlassen. Manchmal war Lew einkaufen gegangen, aber das meiste ließen sie sich liefern.
Einmal im Jahr hatte seine Mutter darauf bestanden, die Kirche zu besuchen, das aber war ihr einziger sozialer Kontakt gewesen.
„Niemand würde sie vermissen?“, hatte Marduk gefragt. „Sehen Sie, solange niemand weiß, dass Ihre Mutter tot ist, wird auch ihre Rente weiter ausbezahlt.“
All das war Lew durch den Kopf gegangen, während er das ganze Gerümpel von der Falltür in den Keller weggeräumt hatte. Er hatte nicht vorgehabt, dort jemals wieder hinunter zu steigen. Aber jetzt musste er, wenn der Arm seiner Mutter Gesellschaft leisten sollte.
Lew war übel geworden, von der ungewohnten Anstrengung und dem Schnaps. Quietschend gab die Falltür den Zugang zur Kellertreppe frei. Er schlurfte zurück zur Kühlbox, die noch immer auf dem Berg an Postwurfsendungen neben dem Eingang stand.
Das flaue Gefühl in der Magengegend war immer intensiver geworden. Jetzt, da er davor stand und sich der Anblick in sein Gedächtnis zurückdrängte, konnte er es nicht mehr halten. Lew kotzte. Gerade noch schnell genug konnte er die Pizzaschachtel von der Box reißen um damit seine Magensäfte aufzufangen. Die flache Schachtel war für solche Anwendungen aber denkbar ungeeignet und schon bald tropfte der flüssige Teil seiner Kotze über den Berg von Computerspiel-Magazinen auf dem er die Schachtel abgelegt hatte.
Lew war auf die Knie gegangen, und wartete bis das flaue Gefühl in seinem Magen abgeklungen war. Die Kühlbox war heruntergefallen und lag umgestürzt vor ihm. Die dürren Finger mit ihren ungewöhnlich langen und dreckigen Nägeln ragten hervor, als wollte der Arm sich aus seinem Styroporgefängnis winden. Die Haut wirkte irgendwie ledrig und ausgetrocknet, aber trotzdem frisch. Es schien Lew, als könne das Ding jederzeit anfangen, sich zu bewegen.
Er griff nach einer Zeitung aus dem umgefallenen Stapel hinter ihm und rollte sie zu einem Stock. Damit schob er die Finger mit fahrenden Bewegungen in ihr Behältnis zurück und richtete dieses auf. Zum Schluss entrollte er die Zeitung wieder, um damit das Loch erneut abzudecken.
Als er sich nach ein paar Minuten wieder gut genug fühlte, packte er die Box mit beiden Händen und hielt sie so weit wie möglich von sich entfernt. So machte er sich auf in den Keller. Die Treppe war aus unregelmäßigen Lehmziegeln gemacht, die im Laufe der Jahrzehnte recht ausgetreten worden waren. Nur die Tatsache, dass der Gang so schmal war, dass man links und rechts fast mit den Schultern streifte, hatte Lew vor nicht allzu langer Zeit vor einem folgenschweren Sturz bewahrt. Aber heute trug er nur eine Kühlbox dort hinunter.
Der Gang mündete in einen kleinen, kreisrunden Raum unter dem Haus, der an den Wänden mit Backsteinen ausgekleidet war. Eine einsame Glühbirne, die nur an ihrem Kabel von der Decke hing, tauchte alles in mattes Licht. In der Mitte des Kellers erhob sich ein Steinring. Der Brunnen.
Lew stellte die Kühlbox hin und holte den Schlüssel, der in einer Nische lag. Damit öffnete er das Vorhängeschloss am Brunnen, der mit einer runden Holzplatte abgedeckt war. Früher einmal hatte es sogar eine Winde mit einem Seil und Eimer daran gegeben, aber als Lew geboren worden war, hatte sein Vater alles abmontiert und den Brunnen zugedeckt. Seitdem war der Keller kaum benutzt worden. Lew hatte auch damals nicht daran gedacht, als seine Mutter gestorben war. Eigentlich war es wieder einmal Marduks Idee gewesen. Auch wenn der von dem Brunnen gar nichts gewusst hatte. „Es wäre unklug, einen Leichnam in der Gegend herumzutransportieren, Lew. Am besten wäre es, er würde das Haus nicht verlassen. Haben sie einen Keller, Lew?“ Dieser Ratschlag hatte ihn darauf gebracht. Der Brunnen hatte sich angeboten, er war ohnehin ungenützt. Lew hatte keine Gewissensbisse gehabt, die Leiche seiner Mutter hinunterzuwerfen. Sie war doch tot. Ihre Sorgen waren vorbei und Lew war versorgt.
Der Arm machte ihm da schon mehr Probleme. Lew wusste nicht, woher er kam und was er von der Sache halten sollte. Er hob den Brunnendeckel an und klappte ihn nach hinten, dann griff er nach der Kühlbox und blickte hinab in den Schacht. Nichts war zu sehen, außer Dunkelheit. „Scheiß drauf“, brummte er schließlich und drehte die Box um. Der Arm fiel heraus und verschwand in der Finsternis. Ein dumpfes Platschen verriet, dass er unten angekommen war.
„Dieser verdammte Arsch, warum muss er gerade jetzt sterben? Hätte doch noch warten können“, murmelte Lew, dann stand er von seinem Bett auf, legte sich die Decke um die Schultern und setzte sich an den Computer, um Marduk eine weitere Nachricht zu schicken. Lew konnte nicht schlafen. Seit fast einer Woche wälzte er sich Nacht für Nacht in seinem Bett.
Es war besser, wach zu sein. Wenn er wach war, hörte er nichts. Aber jedes Mal, wenn er die Augen schloss und seinen Kopf in das Kissen sinken ließ, hörte er das Wasser plätschern.
Das Wasser im Brunnen kam nicht zur Ruhe.
Wenn Lew es irgendwann doch einmal schaffte, einzuschlafen, verwandelte sich das Plätschern in einen Alptraum, Er sah den Arm, wie er sich im Wasser wand und um sich schlug, ein paar Minuten später erwachte er dann, schreiend und schweißnass.
Natürlich bildete Lew sich das ganze nur ein. Der Deckel war auf dem Brunnen und mit dem Vorhängeschloss gesichert. Die Falltür zum Keller war geschlossen. Lew hatte sogar, in der ersten schlaflosen Nacht, das ganze Gerümpel wieder darauf gestellt, welches er zuvor weggeräumt hatte.
Es war doch einfach unmöglich, dass ein Geräusch von dort unten bis hier herauf dringen konnte. Es gab kein echtes Plätschern. Es war nur das Geräusch des aufschlagenden Armes, das er in Gedanken wieder und immer wieder hörte. Das war es doch? Was sollte es sonst sein? Nichts! Er bildete sich alles nur ein. Ganz sicher!
Er hätte gern Marduk um Rat gefragt, aber von dem hatte er seit der Sache mit dem Arm keine Antwort mehr bekommen. Vielleicht war er gestorben? Aber er war noch immer Online. Lew hatte ihm wahrscheinlich eine Million Nachrichten geschickt. Nichts!
Lew fühlte sich nicht gut, seit er den Arm in die Brunnen geworfen hatte. Außer ein paar Schokoriegeln und einer kalten Pizza hatte er in den letzten Tagen nichts gegessen. Alkohol, Nikotin und Schlaftabletten waren kein ausreichender Ersatz für Marduks Ratschläge.
Wenn er doch nur noch einmal kurz zurückkommen würde. Marduk wusste immer, was zu tun war.
Lew blieb einfach sitzen, in sein Bett wollte er nicht zurück. Mit geröteten Augen starrte er auf den Monitor und wartete auf Antwort, dazwischen versuchte er immer wieder, sich ihm bemerkbar zu machen.
>Marduk?
>Marduk?
>Marduk?
Ding Dong!
Lew schreckte hoch. Er war vor dem Computer eingenickt und hatte zum ersten Mal in sieben Tagen traumlos geschlafen.
Es war bereits hell draußen. Dumpf schien das Tageslicht durch die Vorhänge und Ritzen die die Jalousien freiließen.
Es läutete kein zweites Mal. Lew fürchtete sich davor, nachzusehen, fürchtete sich vor dem, was er vor der Tür finden würde.
Als die Ungewissheit seine Angst überflügelte machte er sich schließlich doch auf. Zuerst aber warf er noch ein paar Tabletten ein, die er irgendwo bei den Sachen seiner Mutter gefunden hatte. Er wusste nicht genau, wofür sie waren, aber sie hatte sich danach immer für kurze Zeit besser gefühlt. Mit einem tüchtigen Schluck Schnaps spülte er sie hinunter, dann schlurfte er zur Tür. Er öffnete die Haustür einen Spalt breit und spähte hinaus. Als er den weißen Schemen hinter dem bunten Glas der Windfangtür erkannte, rann ihm ein kalter Schauer den Rücken hinab.
Was, wenn er es einfach draußen stehen lassen würde?
Kinderlachen unterbrach Lews Denkversuche. Die Bälger mussten ganz in der Nähe sein. Was, wenn sie...?
Panik überkam ihn. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, sich anzuziehen. Er war noch immer in die Decke gehüllt, die er mit der linken Hand am Hals zusammenhielt. Mit der Rechten packte er die Kühlbox, wobei er seine Finger einfach durch das dünne Styropor des Deckels drückte, um eines der Klebebänder als Griff zu benutzen.
Gleich darauf musste er feststellen, dass dies keine gute Idee gewesen war. Diese Box war schwerer als die andere und Lews Finger berührten etwas darin.
Vor Schreck riss er die Box in die Höhe, viel zu stark. Lew verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Die Box segelte in hohem Bogen in den Flur. Als sie auf dem Boden auftraf, zersprang das weiche Material und etwas rollte heraus, den Pfad entlang, aus Lews Blickfeld, Richtung Wohnzimmer.
Lew war mit seinen Nerven am Ende. Zitternd kauerte er neben der Eingangstür und murmelte vor sich hin. „Oh Gott, Oh Scheiße, Oh gottverdammte Scheiße...“, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Sein Computer meldete eine Antwort auf dem Messenger.
Marduk! Endlich! Aber das Ding aus der Kühlbox befand sich zwischen ihm und der vermeintlichen Hilfe. Lew würde erst daran vorbei müssen um zu seinem Computer zu kommen.
Langsam kroch er auf allen Vieren den Pfad entlang, wobei er sich über die Richtung ärgerte, die das Ding genommen hatte. Wäre es geradeaus gerollt, läge es jetzt weiter hinten im Flur, wo die Falltür war. Aber nein, es musste ja die Abzweigung in das Wohnzimmer nehmen. Bei diesen Gedanken stieg wieder ein mulmiges Gefühl in ihm auf, was, wenn es wirklich mit Absicht dorthin gerollt war?
„Verdammte Scheiße, das darf doch nicht war sein“, schrie Lew laut, dann stand er auf. Dieser verdammte Arm hatte ihn ja vollkommen verrückt gemacht. Es gab kein Plätschern und keine absichtlich rollenden Körperteile. Wofür die Tabletten auch immer gut waren, anscheinend taten sie jetzt gerade ihre Wirkung. Auf jeden Fall fühlte sich Lew viel besser als noch ein paar Sekunden zuvor. Trotzdem blieb er vorsichtig, als er das Wohnzimmer betrat.
Da lag es, und, was Lew bereits befürchtet hatte, entpuppte sich jetzt als Realität. Es war ein Kopf. Von der Tür aus konnte er nur einen langen schwarzen Harrschopf erkennen. Er näherte sich ihm langsam, als ihn eine weitere Meldung des Computers zusammenzucken ließ.
Marduk! Er hätte ihn schon fast wieder vergessen.
Behutsam stieg er über den Kopf hinweg und setzte sich an den Monitor.
>“lewq ich strerbe“
stand dort, und darunter:
>“ich kamum mcih zu verabscheiden leben si wohl lew“
Marduk schien am Ende. Anscheinend konnte er nicht einmal mehr richtig tippen, aber Lew gab nicht auf. So schnell würde er ihn nicht gehen lassen.
>“Verdammt noch mal, Marduk, ich brauche deine Hilfe, die haben mir einen Kopf geschickt, einen verdammten Kopf. Bitte, Hilf mir, ein letztes Mal, was soll ich denn machen ohne dich? Ich kann so nicht weitermachen. Wenn du mir jetzt nicht hilfst, drehe ich durch. Marduk, bitte!!“
Auf Marduks Antwort wartend zündete er sich eine Zigarette an und nahm noch zwei von den Pillen, es waren die letzten. Schließlich, nach einer weiteren halben Ewigkeit, meldete er sich doch noch.
>“ das ritual eine alten gottes lew drei gfäße arm kopf das drite leer es sit blaldvorbei bald“
Was hatte das jetzt zu bedeuten? Ein Ritual? Woher wollte er das jetzt wissen? Marduk war schon immer gut darin gewesen, Informationen im Internet zu finden. Vielleicht war er darauf gestoßen?
>“Marduk?“
Nichts weiter kam und Lew hatte das Gefühl, der Kopf würde ihn anstarren. Es würde also bald vorbei sein? Woher wollte Marduk das wissen? Egal, Lew wollte die Sache mit dem Kopf hinter sich bringen, solange die Pillen wirkten.
Er griff nach einer Plastiktüte mit leeren Bierflaschen darin und leerte sie aus. Damit kniete er sich vor den Kopf und stülpte sie darüber. Dann erst machte er sich auf, die Falltür ein weiteres Mal frei zu räumen. Er ging nach unten, schloss den Brunnen auf und klappte den Deckel nach oben.
Lew lauschte. Kein Plätschern. Es war alles nur Einbildung gewesen. Lew ging zurück nach oben, um den Kopf zu holen. Vorsichtig hob er die Tüte an einer Seite an, der Kopf rutschte hinein und er nahm sie bei den Henkeln. So brachte er das Ding hinunter in den Keller. Bevor er es hinunterwarf, horchte er noch einmal. Nichts! Vollkommene Stille. Er ließ den Kopf samt Tüte hinunterfallen und wartete nicht einmal mehr auf das Aufschlagen, bevor er den Deckel schloss. Plötzlich hörte er leise die Meldung seines Messengers von oben. Hatte Marduk etwa doch noch einmal geantwortet?
Lew lief nach oben und ließ die Falltür mit lautem Krachen hinter sich zufallen.
>“bald leben sie wohl lew“
Lew grübelte über Marduks letzte Worte nicht länger nach, als er brauchte um zu begreifen, dass er ohnehin nicht dahinter kommen würde, was sie bedeuteten.
„Es wird bald vorbei sein“ Diese Worte gefielen ihm viel besser, und er fühlte sich auch besser. Lew bestellte sich sogar eine Pizza. Und den Pizzaboten ohne Trinkgeld wegzuschicken, machte ihm einen Heidenspaß.
„Es wird bald vorbei sein“ wiederholte er immer wieder als er aus der Rotweinflasche trank, die er zur Feier des Tages entkorkt hatte.
Lew erwachte und fand sich totaler Dunkelheit wieder. Er war wohl eingeschlafen und mittlerweile musste die Nacht hereingebrochen sein. Er hörte seltsame Geräusche, die er nicht zuordnen konnte. Fluchend tastete er sich zum Lichtschalter, als er ein dumpfes Platschen hörte.
Das war aus dem Keller gekommen. Lews Zuversicht war wie weggeblasen. Was war das? Was war dort unten los? Irgendetwas war in den Brunnen gestürzt, aber was? Dann hörte er wieder dieses schabende Geräusch, das ihn geweckt hatte. Es hörte sich an, als ob irgendetwas versuchte, den Brunnen heraufzuklettern. Das genügte, um Lew vollends in Panik zu versetzen, er hastete zur Falltür und warf den Berg von Gerümpel, den er daneben aufgetürmt hatte, um. Der Deckel war auf dem Brunnen und jetzt war auch noch die Falltür verrammelt. Das sollte fürs erste genügen.
Aber was nun? Was sollte er jetzt tun? Sein erster Gedanke galt Marduk, doch der war tot. Marduk? Plötzlich fiel Lew ein, dass ihn Marduks letzte Nachricht im Keller abgelenkt hatte. Er hatte das Vorhängeschloss nicht mehr eingehängt, der Deckel war unverschlossen.
„Verdammte, verdammte Scheiße, verdammt, verdammt.“ Lew war hin und her gerissen, die Geräusche schienen näher zu kommen. Dort war die Tür, er konnte einfach nach draußen laufen und um Hilfe schreien, weg von dem Grauen. Nach draußen?
Lew packte das Zeug zu seinen Füßen und türmte es an der Seite aufeinander. Er musste die Falltür wieder freibekommen, um den Deckel zu erreichen, noch war Zeit, der Brunnen war ziemlich tief. Sollte er es nicht schaffen, konnte er noch immer flüchten. Lew schwitzte und keuchte bei dem Versuch, all das nutzlose Zeug auf einen Haufen zu schichten. Als er die Falltür einigermaßen frei bekommen hatte, hob er sie an und schob das restliche Gerümpel dadurch zur Seite.
Er lief die Treppe hinunter und stolperte dabei. Als er sich aufraffte, fühlte er einen stechenden Schmerz in seinem Knöchel. Er konnte nicht mehr laufen, also robbte er durch den Keller auf den Brunnen zu. Dort, auf dem Boden, direkt davor lag das Vorhängeschloss, nur noch ein Stückchen...
Zu spät! Der Deckel des Brunnens hob sich und eine weiße, schleimige Hand schob sich unter dem Spalt hervor, auf der Suche nach Halt. Es war nicht die Hand aus der Kühlbox. Es war die Hand seiner Mutter. Lew erkannte sie an ihrem Ehering, den sie wie eine gute Witwe an der linken Hand getragen hatte.
Lew war erstarrt. Er konnte nichts tun, als zuzusehen, wie der Deckel in die Höhe gehoben, und nach hinten weggeschleudert wurde. Dann kam die Kreatur vollständig aus dem Brunnen gekrochen. Es war der aufgequollene Körper seiner Mutter. Ihr Bauch war aufgebläht wie der einer Schwangeren und mit schwarzen Fäulnisflecken übersät. Aus ihren Körperöffnungen quoll Wasser in kleinen Strömen hervor. Aber es war nicht seine Mutter. Auf dem Hals der Kreatur saß der Kopf, den er ein paar Stunden zuvor hinuntergeworfen hatte, und ihr rechter Arm war der aus der Kühlbox.
Lew begann zu schreien, als die Kreatur sich über ihn beugte. „Es freut mich sie endlich persönlich kennen zu lernen, Lew“ vernahm er eine krächzende Stimme. Das darauffolgende Geräusch hörte sich wie ein Lachen an. Die Kreatur packte Lew mit der rechten Hand an den Genitalien und warf ihn den dunklen Schacht hinunter.
Epilog:
Ding Dong!
Der Marduk hörte die Klingel. Es war der Bote. Er wartete. Der verfallene Körper der Mutter würde ihm nicht mehr lange dienen. Genau wie Lew, war der Bote unwissend. Genau wie Lew hatte er ihn benutzt und gelenkt. Der Bote hatte Lew den Kopf und den Arm des Marduk gebracht. Lew hatte die Teile mit dem Körper seiner Mutter zusammengeführt den er gebraucht hatte um sich selbst wieder zu erschaffen. Niemand sonst wusste wohin der Marduk gegangen war. Der Marduk war alt. Älter als jeder Mensch. Er war geboren worden als einer ihrer Götter, vor langer Zeit. Sie hatten ihn gestürzt und vergessen.
Ding Dong!
Dieses Mal ging der Bote nicht weg. Er wartete vor der Tür, wie der Marduk es geplant hatte. Schon bald würde er des Wartens überdrüssig sein und hereinkommen. Der Marduk konnte mit dem Körper einer Wasserleiche nicht hinaustreten um ihn zu holen. Er hatte Lew nicht belogen. Dieses Mal würde das Gefäß leer sein. Der unsterbliche Marduk hatte ein neues Zuhause gefunden und jetzt würde ihm der Bote einen neuen Körper bringen.
Im Keller saß Lew wimmernd am Grunde des Brunnens. Bald schon würde der Marduk ihm den Körper seiner Mutter zurückgeben.