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07.06.2002
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Freitag, den 7. September 2001, nachts
Hier sitze ich, im "Purpurschleier" zu Waldschrothausen, und frage mich, ob ich diese Nacht lebend überstehen werde. In meinen Träumen werde ich verfolgt von Joachim Bublath, der mich mit einem abgetrennten und aufgequollenen Keltenkopf erlegen will, und trete ich ins wahre Leben, wartet vor der Tür der Scherge der GEZapo auf mich. Sooft ich meinen Kopf drehe, um aus dem Fenster auf die spärlich erleuchtete Dorfstraße zu blicken, erinnert mich der brennende Schmerz im Nacken daran, daß ich mir wahrscheinlich die Tollwut zugezogen habe. Zugezogen... was für ein feines Wort für einen Vorgang, der an Lächerlichkeit und Sinnlosigkeit nicht zu überbieten ist. Hätte ich doch auf den Pastor gehört, der mich vor der Alten gewarnt hat, aber nein, ich mußte ja meiner unmäßigen Neugier nachgeben! Was tue ich hier in diesem Zimmer, dessen samtige Schäbigkeit meine Sinne beleidigt? Ich kann hier nicht bleiben! Lieber bringe ich die Sache zu Ende, als daß ich hier im Frisierspiegel meinen Gesichtsausdruck sehen muß, wenn sich die Tür leise öffnet und sich ein Gewehrlauf ins Zimmer schiebt. Ich muß weg hier...

Dieser Tagebucheintrag markiert den Tiefpunkt der Ereignisse, die sich im September vorigen Jahres in Waldschrothausen abspielten. Den Tiefpunkt? Einen der vielen Tiefpunkte, die zusammengenommen eine regelrechte Tiefengerade ergeben würden, wenn solch ein Begriff denn existierte. Ich möchte hier die Ereignisse dokumentieren, und zwar anhand meiner Tagebucheinträge, welche aus jenem September datieren, beginnend mit meiner Ankunft in Waldschrothausen. In Gang gesetzt wurde die ganze Angelegenheit, so lächerlich es klingen mag, durch eine Fernsehsendung, eine Wissenschaftssendung.

Generell herrscht die Meinung vor, daß zerzauste Wissenschaftler nur dann fruchtbare Forschungsergebnisse erzielen, wenn sie in einsame und stacheldrahtumzäunte Gebäudekomplexe eingesperrt werden. Diese Forschungstrutzburgen werden von vernünftigen Leuten tunlichst gemieden, sei es wegen der Ausdünstungen von überschüssigem Wissen, sei es wegen der strategisch gewählten Lage dieser Gebäude am geographischen Südpol einer Stadt. Daß es sich hier um ein überkommenes Vorurteil handelt, zeigte jene Wissenschaftssendung des Zweiten Deutsche Fernsehens, moderiert von Joachim Bublath, dem Physiklehrer der Nation. Während Bublath noch eher der zerzausten Fraktion zugerechnet werden kann - dies legt die zusammenhanglose Benutzung von Worten wie Welle-Teilchen-Dualismus oder Quantenmechanik zur besten Seniorensendezeit nahe - trat in seiner Sendung ein Wissenschaftler neuer Art auf: ein Rentner, der sich der Mumienforschung verschrieben hat.

Der kurze Kameraschwenk über die High-Tech-Ausrüstung des Rentners zeigte Geräte, von denen staatliche Institute nur träumen können, zum Beispiel eine selbstgebastelte Leitzentrale aus fünfzehn vom Sperrmüll zusammengeklauten Fernsehgeräten. Mit Hilfe dieser Ausrüstung habe der Mann, so der begeisterte Moderator, die verloren geglaubte Mumie der Nofretete gefunden, und zwar in einem amerikanischen Provinzmuseum, in einem Sarg, neben einem Schild mit der Aufschrift "Hier handelt es sich um die verloren geglaubte Mumie der Nofretete". Da liegt die arme Frau jahrzehntelang in aller Öffentlichkeit herum, quasi mit einem Namensschildchen um den Hals, und erst ein unerschrockener Rentner weiß die Botschaft (mit Hilfe von fünfzehn Fernsehgeräten, wohlgemerkt) zu lesen: Ignorante Wissenschaft! Zusätzlich führte der stolze Finder einen Vergleich der Mumie mit einem Gipsabdruck der berühmten Büste durch: natürlich entsprachen sich die Profile (vertrocknete Mumie und billige Touristenkopie) völlig. Eine Unterleibsvisitation der Mumie durch das ZDF-Team ergab allerdings, daß es sich um ein männliches Exemplar handelte. Leider wagte es Bublath nicht, hier ein Zeichen zu setzen und zu behaupten, Nofretete sei wirklich ein Mann gewesen. Nochmals: Ignorante Wissenschaft!

Angespornt von dem Sendebeitrag, entschloß ich mich, selbst wissenschaftlich tätig zu werden. Die Fernsehgeräte waren schnell besorgt und verkabelt, die Freundin ausquartiert und auch das Forschungsthema ergab sich wie von selbst. Meine Großtante kennt einen österreichischen Pastor, der ihr vor Jahren eine hanebüchene Geschichte aus seinem Dorf erzählte: eine alte Bäuerin bewahre, so der Pastor, in ihrem Bauernhof einen eingelegten Kopf auf, den sie wie ihren Augapfel hüte und noch nie jemandem gezeigt habe, der sich aber schon seit Generationen in der Familie befinde und, wenn man den Überlieferungen glauben könne, keltischen Ursprungs sei. Wow! Ein Keltenkopf. Das ist besser als eine ägyptische Mumie, so dachte ich, denn von denen gibt’s Tausende - man könnte beinahe von einer unterirdischen Übervölkerung in Ägypten sprechen - während die Kelten außer Haushaltsabfällen eigentlich wenig hinterlassen haben. Was für ein Aufschrei müßte durch die Lach- und Sachpresse gehen, wenn ein solch sensationelles Artefakt wie ein konservierter Keltenkopf ans Licht der Wissenschaft treten würde, da könnte der Rentner mit seiner Dutzendmumie einpacken! In meinem Überschwang fand ich sogar schon einen Namen für den Kopf, Hendrix, wie Vercingetorix, das fand ich damals ziemlich lustig, mittlerweile, nun...

Soviel zur Vorgeschichte, alles weitere erläutern meine Tagebucheinträge, wie ich finde, auf wesentlich eindringlichere und direktere Art und Weise.

Montag, den 3. September 2001, abends
Heute bin ich in Waldschrothausen angekommen. Einsame Gegend. Ich habe Quartier im Gasthof "Zum wütenden Johann" genommen. Was ich schon anhand der Erzählungen meiner Großtante erahnt habe, wird nun zur bitteren Gewißheit: auf Waldschrothausen ist nur der Begriff "Inzuchtdorf" anwendbar, um die Beschaffenheit der einheimischen Bevölkerung zu beschreiben! Die Wirtin nahm meine Bitte nach einem Zimmer mit einer Miene auf, als würde sie jemand auffordern, sich mit einer langen Metallstange künstlich besamen zu lassen. Ihr Sohn (oder der Sohn der großen Familie, die sich Waldschrothausen nennt) führte mich auf mein Zimmer, grunzte ein paar unverständliche Silben heraus, während er auf den Gegenstand wies, den ich in Ermangelung eines passenderen Wortes Waschbecken nennen will, schlurfte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Mein Selbsterhaltungstrieb rät mir, mich nicht zu beklagen. Ich hoffe auf eine ruhige Nacht.

Dienstag, den 4. September 2001, im Morgengrauen
Von wegen! Ich habe selten so schlecht geschlafen wie hier. Warum muß ich ausgerechnet von Joachim Bublath träumen? Ein ungutes Gefühl beschleicht mich...

Dienstag, den 4. September 2001, abends
Ich habe Pastor Notgockel einen Besuch abgestattet. Er hieß mich recht herzlich willkommen, da meine Großtante den Besuch angekündigt hatte, und schwärmte von Waldschrothausen, als ob er dem Dorf seine Seele verkauft hätte. Stundenlang mußte ich Lobeshymnen über die unkomplizierte, unverdorbene und gottgefällige Dorfjugend ertragen - lediglich das Attribut unkompliziert kann ich bestätigen, da ich beim Frühstücken einer Konversation zwischen Wirtssohn und Wirtstocher zuhören durfte: man stelle sich zwei betrunkene Lastwagenfahrer vor, die auf der Autobahn nebeneinander herfahren und dabei durchs heruntergekurbelte Seitenfenster über sexuelle Enthaltsamkeit diskutieren, dies trifft sowohl Lautstärke als auch Niveau der Unterhaltung. Nachdem ich aus dem 4.Buch Mose, Verse 3 - 23, neckische kleine Papierfliegerchen gebastelt hatte, kamen wir schließlich doch auf mein Anliegen zu sprechen, und so erfuhr ich vom Pastor folgende Geschichte: Ein Urahn der Familie Leckerwanzinger habe den Kopf unter Tage gefunden, eingesalzen und in gut erhaltenem Zustand, und der Dorfarzt habe das einzigartige Stück in Formalin eingelegt, damit es als Familienkuriosum erhalten bliebe. Später sei der Kopf außerhalb des Dorfes in Vergessenheit geraten.
Zu der jetzigen Besitzerin des Kopfes, Leni Leckerwanzinger, weiß Notgockel nur soviel zu sagen, daß Gerüchte umgehen, sie sei als junges Mädchen verrückt geworden, weil sie sich in den Keltenkopf verliebt habe, und gestatte deshalb bis heute niemandem, ein Auge darauf zu werfen. Der Pastor rät mir davon ab, die Sache weiterzuverfolgen, da Leni recht eigenbrötlerisch sei und außerdem einen tollwütigen Schäferhund besitze.
Ich bin ins Gasthaus "Zum Wachtturm" umgesiedelt, da ich den "Wütenden Johann" für meine schlechten Träume verantwortlich mache.

Mittwoch, den 5. September, mitten in der Nacht
Gerade eben hat mir Bublath nicht nur eine Sondersendung gewidmet, sondern wollte auch noch mit mir über sexuelle Enthaltsamkeit diskutieren. Wenn ich jetzt wieder einschlafe, ist die Realität nur eine Werbepause gewesen. Ich sollte abreisen.

Mittwoch, den 5. September, nachmittags
Ich hätte abreisen sollen. Aber meine Neugier war stärker. Verflucht sei meine Sturheit! Nach dem Frühstück beschloß ich, nähere Erkundungen einzuziehen. Der Bauernhof der Leckerwanzingers erwies sich als völlig herabgewirtschaftetes Gemäuer weit abseits des Dorfes, das seinen Besuchern schon aus der Ferne zu sagen schien: "Hier endet der touristenfreundliche Sektor Österreichs, ab jetzt benötigen Sie einen Kanister mit abgekochtem Trinkwasser". Ich ignorierte den freundlichen Hinweis des Gebäudes und näherte mich der Eingangstür, immer in der Furcht, hinterrücks von dem tollwütigen Schäferhund angegriffen zu werden. Wiederholtes Klopfen an der Tür führte nur dazu, daß die gesamte Vorderwand bedenklich ins Schwanken geriet, so daß ich mich entschied, einen Hintereingang zu suchen. Statt des Hintereingangs fand ich den tollwütigen Schäferhund in Form eines grob abgezogenen Fells und mehrerer Würstchen, aufgehängt im Hinterhof zum Räuchern. Aha! Jemand daheim! Jemand mit widerstandsfähiger Verdauung dazu! Und die Hauptgefahr gebannt! Ein Blick durchs Fenster zeigte mir eine Stube, wie sie aus üblichen Heimatfilmen bekannt ist. Einziger Unterschied: in Heimatfilmen ist wenigstens der Eßtisch sauber, weil ihn der breite Hintern der Magd während der obligatorischen Sexszene mit dem Bauern blankpoliert hat. Ich bezweifle, daß es an diesem Hof überhaupt einen Bauern gibt, von Dienstpersonal ganz zu schweigen. Gibt es heutzutage überhaupt noch Mägde? Und werden diese nach Tarif bezahlt? Während ich, mein Gesicht ans Fenster gedrückt, so über Filmkunst und Dienstleistungsgesellschaft philosophierte, traf mich urplötzlich ein dumpfer Schlag in den Nacken. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, fand ich mich einige Meter vom Hofgatter entfernt im Matsch liegen, mit einer stark blutenden Beule am Hinterkopf. Später, beim Reinigen der Wunde, fand ich Hundehaare. Ich weiß ja, daß die Wissenschaft ein gefährliches Terrain ist, aber dabei fast draufzugehen, dazu noch wegen eines Schlags mit einer Hundesalami... Räuchern wirkt doch desinfizierend, oder?

Mittwoch, den 5. September, abends
Die Situation hat sich deutlich verschlechtert. Nicht nur, daß mein Kopf höllisch schmerzt und ich jederzeit die ersten Tollwutsymptome erwarte, nein, es besteht eine noch konkretere Gefahr. Vor zwei Stunden, gerade als ich mich entschlossen hatte, doch einen Arzt aufzusuchen, kam der Wirt des "Wachtturms" auf mein Zimmer. Ein Mann habe nach mir gefragt, dunkle Baggy-Hose, dunkles Oberteil, Silberkettchen mit einem Schriftzug, an den sich der Wirt nicht mehr erinnern kann. Ich weiß, um wen es sich handelt, denn ich habe die Warnhinweise, die bis vor kurzem im Werbefernsehen zu sehen waren, ernstgenommen: es ist ein Mitglied der GEZapo, der Gebühreneinzugs/Zahlungspolizei. Man muß der Gebühreneinzugszentrale eine gewisse Fairneß attestieren, denn der Werbespot, in dem säumige Zahler von Schwerverbrechern mit GEZ-Kettchen zur TV-Anmeldung aufgefordert werden, ist eine eindeutige Warnung. Aber warum ich? Mir schwant etwas: die fünfzehn Fernsehgeräte meiner Leitzentrale... die geschwätzige Nachbarin, die einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat... verdammt. Jetzt will die GEZapo meinen Kopf.
Ich bin mittlerweile in das Wirtshaus "Zum Purpurschleier" gezogen, inkognito. Um mich unauffällig zu bewegen, mußte ich meinen Koffer und mein persönliches Hab und Gut im "Wachtturm" lassen. Von einem Arztbesuch kann jetzt natürlich keine Rede mehr sein. Der "Purpurschleier" ist übrigens das, wonach der Name klingt: ein Etablissement der übelsten Sorte. Ich hoffe nur, daß mich die Damen des Hauses in Ruhe lassen. Von Bublath ganz zu schweigen...

Donnerstag, den 6. September, nachts
In Bublath’s "Langer Nacht der Biowissenschaften" ging es diesmal um die zahlreichen Übertragungswege der Wildtollwut, um die Erschaffung von Körperteilen aus Biomasse (ich erinnere mich undeutlich an einen Salamidildo) und die Vorteile von Hundefellmatrazen. Ich bin gerade dabei, mein Bettlaken nach Fellresten zu untersuchen. Zum Glück finden sich nur die üblichen Gebrauchsspuren der Hausgäste des "Purpurschleiers". Ich beschließe, nicht mehr einzuschlafen.

Donnerstag, den 6. September, tagsüber
Ich lauere am Fenster. Nichts los auf der Straße. Ich weiß, daß er wartet. Vermutet er mich im "Purpurschleier"? Oder in der "Verschlagenen Füchsin", dem einzigen verbleibenden Gasthaus am Ort, in dem ich noch nicht einquartiert war? Wieso hat dieses verdammte Kaff überhaupt so viele Gasthöfe, die dazu noch alle derart idiotische Namen besitzen? Mittlerweile fühle ich mich so schwach, daß nicht daran zu denken ist, den kilometerlangen Marsch nach Hallstadt zu unternehmen. Notgockel? Nicht nach der Sache mit den Papierfliegerchen. Außerdem neigte die katholische Kirche schon immer zur Kollaboration. Wohin dann? Wohin?

Donnerstag, den 6. September, abends
Es gibt nur einen Ort, an dem meine Anwesenheit so irrwitzig wäre, daß ich mich schon wieder fast in Sicherheit wiegen könnte: Leckerwanzingers Hof. Ich weiß, das ist Wahnsinn. Traut er mir soviel Wahnsinn zu? Er wird sich mittlerweile umgehört haben. Er kennt meine Geschichte. Aber kennt er mich? Sollte er mich dort doch aufspüren, so könnte ich dort wenigstens meinen Forschungsgegenstand ein erstes und ein letztes mal zu Gesicht bekommen... aber was ist mit Leni? Würde ich mit ihr fertig werden? Ich denke an meinen schalen Witz, den Keltenkopf „Hendrix“ genannt zu haben. Jimi war ein Verlierer. Die Kelten waren ein Verlierervolk. Ich bin ein Verlierer. And I’m not what I appear to be... Warum schreibt McCartney seit den Beatles-Zeiten keine guten Songs mehr? Weil John Lennons Affe (der aus dem Song "Everybody’s got something to hide except me and my monkey") in seiner Zimmerecke sitzt und ihn jedesmal angrinst, wenn er zur Gitarre greift.

Freitag, den 7. September 2001, nachts
Ich muß weg hier...

Freitag, den 7. September 2001, im Morgengrauen
Leckerwanzingers Stube. Im Flur... Nein, ich schaue nicht hin. Das alles ist nicht passiert. In Wirklichkeit sitze ich daheim und habe mir den Kopf mit Gras zugedröhnt. Nicht den Kopf! Nein! Ich will nicht an Köpfe denken. Ich denke nicht mit meinem Kopf. Mein Denken denkt sich anderswo. Von mir aus im Bauch. Ich brauche jetzt einen klaren... Nein! Einen klaren, einen klaren... ja, genau, sie muß doch hier irgendwo ihren Schnapsvorrat haben, das hat doch jede alleinstehende Frau, natürlich, in der Tischschublade, immer griffbereit... ja, schon viel besser. Wo fange ich jetzt an? Oder sollte ich lieber dieses Tagebuch hier verbrennen, schleunigst verschwinden und mich an der psychiatrischen Klinik für einen Amnesie-Kurs anmelden? Nein, ich muß mir hier die Wahrheit nochmals selbst vergegenwärtigen. Schonungslos. Wo war ich stehengeblieben? Im „Purpurschleier“. Gut. Ich habe also eine Entscheidung getroffen. Ich schleiche mich aus dem Zimmer und hoffe, daß mein Verfolger nicht erwartet, daß ich mich in diese Richtung davonmache. Richtung Lenis Hof. Ich renne durch die Nacht, keuchend, schwitzend. Als ich vor der Eingangstür des alten Gemäuers stehe, frage ich mich erstmals, wie ich überhaupt hineinkommen soll. "Hallo Leni, hier ist dein Besucher von vorgestern, und ich bin übrigens auf der Flucht vor der GEZapo, deswegen würde ich gerne bei dir übernachten, wenn’s recht ist". Selbst wenn die taube Alte mich hören sollte, würde sie sich wahrscheinlich in ihrem madigen Bett umdrehen und warten, bis sich die Sache von selbst erledigt hat. Taube Alte... taub! In Ordnung, ich lasse es darauf ankommen. Hinterm Haus hängt noch eine Salami. Was für meinen Schädel recht ist, wird wohl auch fürs Fenster billig sein. Ein dumpfes Klirrgeräusch erfüllt die Nacht. Ich warte. Alles bleibt still. Ich steige vorsichtig durch die zerbrochene Scheibe hindurch und befinde mich in der Stube. Langsam beginne ich, diese Sache zu genießen. Bis jetzt ist nichts schiefgegangen, ich muß nur noch ins Schlafzimmer schleichen und Leni zum Schweigen bringen. Bilder des Triumphes erscheinen vor meinem geistigen Auge, Leni gefesselt und mit einem Salamiende geknebelt... jetzt durch den Flur. Da vorne, das muß das Schlafzimmer sein. Leise! Mein Blick fällt durch eine halboffene Tür in ein Zimmer, das aufgeräumt zu sein scheint. Ein fast leeres Zimmer. Ein Tisch. Eine Samtdecke. Ein Gefäß. Warum nicht einen Blick riskieren? Neugier überkommt mich. Steht hier das Ziel meiner Forschungen? Ich betrete das Zimmer, nähere mich dem Gefäß und beuge mich herunter, um auf Augenhöhe mit dem Gegenstand zu sein, der sich in dem Gefäß befindet. Das schummrige Licht läßt nur eine Silhouette erahnen. Eine menschliche Silhouette. Dann plötzlich: Licht. Blendendes Licht. Ein Schuß ertönt, gleichzeitig das scharfe Geräusch zerspringenden Glases. Hinter mir: ein herzzerreißender Schrei, ich falle zu Boden, nochmals Schüsse. Schließlich legt sich eine gespenstische Stille über die unwirkliche Szenerie, und mir schwinden die Sinne...

Als ich wieder erwache, steigt mir der stechende Gestank von Formalin in die Nase. Ich liege in einer Lache aus undefinierbaren, zerfetzten Weichteilen, vermischt mit Glassplittern und aufgequollenen Haaren: das müssen die unkenntlichen Überreste des Keltenkopfes sein. Entsetzt wende ich mich ab und finde hinter mir ein noch schrecklicheres Bild: Leni Leckerwanzinger liegt hingestreckt am Boden, in ihren Händen eine verrostete, von Spinnweben überzogene Schrotflinte. Da von ihrem Kopf nicht mehr allzuviel übrig ist, gehe ich davon aus, daß sie tot ist. Augenscheinlich erschossen. Ich muß mich übergeben. Die Formalinschwaden benebeln meine Sinne. Luft! Ich brauche frische Luft! Ich erhebe mich schwerfällig, wundere mich, daß ich noch am Leben bin, und wanke zum Fenster. Die Scheibe ist vollkommen zersplittert. Ich beuge mich aus dem Fenster... und muß mich erneut übergeben. Draußen vor dem Fenster liegt die Leiche des GEZapo-Offiziers, bleidurchsiebt. Das ist Lenis Werk. Ihr Abschiedsgruß an mich. Danke, Leni. Leider konnte sie nicht ahnen, daß die GEZapo ihre Mitglieder so gut ausbildet, daß sie auch einem massiven Kugelhagel standhalten und, wenigstens noch für kurze Zeit, zurückschießen können. Ich denke nach. Was ging hier vor? Mein Verfolger muß durch das Fenster geleuchtet haben, sah zwei Silhouetten auf gleicher Höhe, nämlich meine und die des Keltenkopfes, und erschoß - den Keltenkopf. Leni - ich hatte sie unterschätzt - lauerte mit der Flinte hinter der Tür, schrie auf, als sie sah, was mit ihrem geliebten Kopf geschah, betrat das Zimmer und richtete die Flinte gegen den GEZapo-Offizier. Gegenseitiges Knockout. Ich fühle mich... seltsam. Unwirklich. Wieder einmal stelle ich mir die Frage, was ich hier überhaupt zu suchen habe. Da steigt eine Erinnerung in mir auf. Eine Erinnerung an ein Gesicht, beleuchtet nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor der erste Schuß fiel. Wie die Teile eines makabren Puzzles fügen sich die Gesichtszüge des Keltenkopfes zusammen. Gesichtszüge aus einer fernen Vergangenheit, fremd, abweisend, jung und alt zugleich. Und doch eigenartig vertraut. Die dunkle Hautfarbe. Die widerspenstigen Haare. Ein Name hallt durch die dunklen Flure meines Bewußtseins. Ein Name, den ich nicht hören will. Ein Name, der zu einem Gesicht gehört, das ich nicht sehen will. Doch jetzt sehe ich es vor mir, als ob es photographisch festgehalten worden wäre von meinem Gedächtnis: es ist das Gesicht von Jimi Hendrix.

Nachtrag im Sommer 2002
Heute habe ich Elvis gefunden, in einer alten Kirche in Hinterkrätzing. Er wurde hier wohl im 16. Jahrhundert beerdigt, nachdem ihn Arbeiter aus dem Salzbergwerk geborgen hatten. Die klimatischen Bedingungen in der Gruft waren derart günstig, daß Elvis außergewöhnlich gut erhalten ist. Vor allem das Gesicht... die Fotos aus den 70er-Jahren zeigen einen von Drogen- und Alkoholmißbrauch gezeichneten Mann, aber nun hat Elvis’ Antlitz durch den Wasserentzug seine jugendliche Straffheit und Frische wiedergewonnen. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen: Elvis lebt! Ich habe bereits eine Anfrage an die Presley-Familie zwecks DNA-Vergleich in die Wege geleitet. Es wird, wie bisher auch, keine Überraschungen geben. Ich prophezeie: Hinterkrätzing wird das neue Graceland.

Wieso ich bisher hauptsächlich Popstars gefunden habe, kann sich auch mein zehnköpfiges Wissenschaftlerteam nicht erklären. Zähneknirschend mußten aber auch die Skeptiker zugestehen, daß meine Datierungsmethoden absolut seriös sind: 9. Jahrhundert vor Christus, plusminus. Warum lebten vor dreitausend Jahren identische Kopien von zeitgenössischen Stars? Um meine persönliche geistige Gesundheit zu erhalten, habe ich mir ein schönes Bild ausgedacht: ich stelle mir die Evolution des Menschen als eine endlose Langspielplatte vor, als eine Spirale von Mustern und Klängen. Und scheinbar hat jemand auf dieser Langspielplatte ein oder zwei Lieblingssongs...

Ganz nebenbei: ich träume nicht mehr von Joachim Bublath, seitdem ich eine interessante Entdeckung gemacht habe. Der Kopf ziert jetzt meinen Schreibtisch und inspiriert mich zu einer weiteren Prophezeiung: Bublath steht noch eine Karriere im Showbusineß bevor! Nicht ausgeschlossen ist allerdings, daß die Platte an einer bestimmten Stelle einen Kratzer hat und die Nadel einfach zurückspringt. Sorry, Joachim!

Meine Verhandlungen mit der österreichischen Tourismusbehörde gehen gut voran, ab nächsten Sommer wird es erstmals eine „Stars from the Crypt“-Tourismus-Straße geben. Von Graceland geht es dann über die Vorderkrätzinger Allee nach Strawberry Fields...

[ 03.07.2002, 11:47: Beitrag editiert von: Xerxes ]

 

Kritik? Ich weiß net, ich fühl mich immer noch nicht zum Kritiker berufen, ich sag einfach, wie mir die Story gefallen hat, o.k? :D

Guuuuuuuut

Reicht das?

Nö? Also mehr.

Jedes der Details zu erwähnen, die mir besonders gefallen haben, würde den Rahmen hier sprengen, außerdem käme eine Nacherzählung raus und das mach ich seit meiner Schulzeit nicht mehr. ;)

Die Geschichte hier ist nicht so "leicht" verdaulich wie der "Freizeitzug". Und denn tieferen Sinn (Name Hotel) hab ich immer noch net gefunden, bitte dabei um Nachhilfe. :rolleyes:

Aber ich mag dein Stil, der ist gut zu lesen und diesmal war von allem was dabei: Technikthriller, Liebe und Krimi, und das Problem "GEZapo" ist so aktuell wie nie (ich will mein Radio im Büro wieder :mad: )

Uff, ein's ist jetzt wirklich klar! Als Kritiker tät ich verhungern. Füttert du mich trotzdem mit ner neuen Geschichte? Dankö

Pego

 

Hi Pego!

Danke für deinen Kommentar, aber ein bißchen Kritik könnte ich schon vertragen! Es würde mich zum Beispiel interessieren, ob der Tagebucheintrag am Anfang zum Spannungsaufbau beiträgt. Ich habe den Verdacht, daß es vielleicht doch ein wenig verwirrend ist, gleich mitten in die Geschichte einzusteigen, jedenfalls scheint außer dir keiner weitergelesen zu haben. Oder ist die Geschichte zu lang für dieses Forum? Die Namen der Gasthöfe sind natürlich nicht ganz zufällig entstanden, aber keine Angst: sie geben der Geschichte auch keinen tieferen Sinn! Vielleicht hilft es, sich in die Logik (?) der Geschichte hineinzufinden, da tauchen ja Personen an Orten und in Zeiten auf, wo sie nicht hingehören, selbiges könnte ja auch für Begriffe gelten... wenn du dann noch den musikalischen Kontext beachtest und die "Haupt"person der Geschichte, müsstest du eigentlich draufkommen!
Falls nicht, darfst du dir eine Fünferpackung Verschwörungstheorien kaufen oder eine künstliche Seeanemone oder ein Wörterbuch, nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge!

Ciao,
Stefan

 

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