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Könntest du mich bitte löschen?
Das neue Mitglied Goethe2 quälte die Mitglieder der Literaturplattform mehrere Wochen lang mit schlechten Geschichten und Rachekommentaren. Sämtliche Kritikpunkte zu seinen Geschichten widerlegte Goethe2 mit der Pedanterie eines scholastischen Philosophen. Nur leider widerlegten die Kritiker ihrerseits die Gegenargumente. So wuchsen die Threads mit Goethe2-Geschichten schnell auf 40 Beiträge und mehr.
Der Webmaster sah diesem Treiben eine zeitlang zu, vergaß es aber wieder, weil ihm ein neues Spiel für die X-Box 360 in die Hände fiel, oder weil er arbeiten oder Bier trinken musste. Es war Goethe2 selbst, der sich ihm wieder in Erinnerung rief, als er eine PM mit folgender Bitte schrieb:
Könntest du mich bitte löschen?
Er hatte nämlich die Nase voll! Alle Arschlöcher im ganzen Land stürzten sich auf seine Texte, um sie an ihrer irrelevanten Auffassung von Literatur zu messen. Warum taten die das? Die hatten doch irgendwelche anderen Probleme. Die hatten eindeutig einen an der Waffel! Oder würde ein halbwegs normaler Mensch seitenweise Rechtschreibfehler aufzählen und dann noch stundenlang prüfen, ob eine Geschichte allen Gesetzen der Logik gehorchte? Wo zum Teufel blieb da die Freiheit der Kunst?
Achselzuckend rief der Webmaster im Backend des Forums die Erweiterung „Mitglied löschen“ auf. Die hatte er selbst programmiert. Unter der Position „Löschungen“ fand er die Mittel, die momentan zu diesem Zweck zur Verfügung standen. Dafür spendeten die alteingesessenen Mitglieder gern. Da konnte man ihnen nichts nachsagen. Er gab ins Feld „Benutzername“ Goethe2 ein und bestätigte noch einmal. Das Guthaben verringerte sich sofort um 500 Euro und auf dem Bildschirm erschien die Meldung: Mitglied wird jetzt gelöscht!
Im Hintergrund lief natürlich noch die Überweisung ab und das System verschickte ein paar E-Mails. Aber das musste er nicht mehr händisch tun, wie früher immer ...
Im realen Leben war er in der Marketingabteilung eines Energieversorgers tätig und trug den etwas spießigen Namen Fritz Müller. Das Tolle am Internet ist, dass du in eine andere Identität schlüpfen und andere Facetten deiner Persönlichkeit ausleben kannst, ohne besondere Folgen. Du meldest dich zum Beispiel bei so einer blöden Literaturplattform an, erkennst den Fehler, lässt dich löschen und alles ist wie vorher. Später, so dachte Goethe2, konnte er ja immer noch dorthin zurückkehren. Warum nicht?
Kurz nach 18 Uhr näherte sich Fritz Müller seiner Wohnung. In der linken Hand trug er eine Plastiktasche mit Einkäufen fürs Abendessen: Nudeln, Pesto, eine Dose Bier und einen Fertigsalat. In der rechten Hand hielt er eine zusammengerollte Zeitung mit der verheißungsvollen Schlagzeile: Raub-Überfall auf Einbrecher. Er war noch nicht dazu gekommen, den Artikel zu lesen.
Bevor er im Hosensack nach dem Schlüssel kramte, klemmte er die Zeitung unter den linken Arm. Da hatte er das Gefühl, jemand beobachtete ihn. Er drehte sich um. Ein roter Lichtpunkt tanzte über sein Gesicht, blieb über der Brust stehen. Flopp! machte etwas und plötzlich hörte er nichts mehr, als hätte jemand der Welt den Ton abgedreht. Er griff sich an den Bauch, an dem etwas Warmes hinunterlief. Dann verschwand auch das Bild.
Auf dem Dach des Hauses gegenüber zerlegte der Auftragsmörder das Gewehr und rauchte die Zigarette fertig, die ihm im Mundwinkel hing. Seine Finger griffen nach dem iPhone, betätigten ein paar Tasten und schickten eine Nachricht an die Forensoftware.
Wenn nun jemand das Profil von Goethe2 aufrief, erschien die Meldung:
Mitglied gelöscht