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Königsschmerzen

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22.06.2003
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Königsschmerzen

Lianas Augen fingen seinen Blick und fesselten seine Sinne. Ihre Pupillen erzeugten kleine Wellen, die sich schnell ausdehnten. Bei Ame angekommen hatten sie die Grösse, ihn zu umfangen und in eine andere Dimension zu wickeln, um ihm ein Geheimnis zu zeigen.
Das Geheimnis der Zukunft.

Doch er wollte es nicht mehr sehen.
Wie in Trance hob der Wächter die linke Hand und versuchte seine Augen vor dem scharfen Blick zu schützen. Aber selbst durch Fleisch und Haut wurde er geblendet. Die Wellen glitten weiterhin über den Tisch zu ihm hinüber und sperrten ihn in die Kammer der Vorhersehung ein.
Diese Kammer war düster, und das Schloss in die Freiheit liess sich nicht mit fünf Fingern aufsprengen.
Ame liess die Hand wieder fallen und sein Blick floh zur Kristallkugel im Silberteller, was ein Fehler war, denn auch diese offenbarte den Schrecken. Und ihre hypnotische Wirkung war noch grösser als die der Augen.

Er tastete mit der anderen Hand über seine Hose zum Dienstdolch. Mit Mühe hob er ihn und seinen beinahe tauben Unterarm auf.
Warum nur fühlte er sich so schwach?

„Du wolltest die Zukunft sehen, Ame. Man sollte sich seinem eigenen Willen nicht widersetzen, das kann sehr gefährlich sein."

Die Wahrsagerin hatte Recht, er war freiwillig zu ihr gegangen. Doch sie hatte ihn zuvor mit ihrer Untergangstheorie neugierig gemacht. Allerdings hätte es Ame genügt, die Zukunft zu sehen, auch ohne gleich von ihr berührt zu werden.
Und sie hatte ihn berührt, ja, sie war so nah gewesen - hautnah mit all ihrem Schrecken.

"Entspanne dich!", befahl Liana Ame, doch ihre Lippen bewegten sich nicht.

Warum sprach sie nie aus dem Mund? Warum benutzte sie die allumfassende Dunkelheit?
Diese Täuschung schien Lianas Kunst zu sein. So hatte sie ihn begrüsst, vor dem kleinen Tisch mit der Kugel und den Kerzen sitzend. Wollte sie, dass ihre Worte dadurch mächtiger wirkten? - das taten sie: So leise sie auch ausgesprochen worden waren, stürmten sie wie ein Hurrikan der Wahrheit durch Leib und Seele.

Von Ames einstiger Bereitschaft, einen Blick in die Zukunft zu werfen, war nicht mehr viel übrig.
Doch die Wellen wurden stärker, der Dolch fühlte sich an wie ein immenses Schwert und sein Arm als gehörte er nicht ihm. Das Licht zwang ihn dazu, die Augen weit zu öffnen, um sich vom Schrecken blenden zu lassen.

Sah er in diesen schrecklichen Bildern wirklich nur die Zukunft? Oder ging es um ein kleines Bisschen mehr? Vielleicht... um sein Leben?

Ame versuchte sich freizuschütteln, doch das Schütteln wurde zu einem in Zeitlupe wiedergegebenen Zittern.
Er mobilisierte alle Kraft, die in jedem auch noch so kleinen Muskel gespeichert war. Er würde sich von der Hypnose befreien und Liana töten. Er musste diese Hexerei beenden. Ansonsten war alles verloren.

Verzweifelt trat er gegen das Tischbein. Die Glaskugel schaukelte einen Moment und ihre Bilder zogen sich ins Innere zurück.
Doch Lianas dunkle Augen strahlten weiterhin den Schrecken der Zukunft aus.
Er versuchte, den Dolch zu erheben. Nach wenigen Zentimetern gab er auf. Der Gegenstand in seiner Hand wog so schwer wie ein Morgenstern der Königsgarde – oder gleich wie zwei davon.
Nochmals stiess er gegen den Tisch. Zwar brachte er weniger Kraft auf als beim ersten Mal, doch die Kugel schaukelte im Teller wie ein verlorenes Schiff im tobenden Meer.
Die Wellen der schwarzen Pupillen lösten sich von ihrem Ziel und richteten sich auf die Glaskugel. In diesem Moment gelang es Ame, sich aus seiner Starre zu befreien und er hob den Dolch. Seine alte Kraft durchströmte ihn und erfüllte die Spitze jedes Fingers mit der Begierde zu wüten.
Als sich Lianas kalter Blick wieder auf ihn richtete, war es zu spät. Er stach erst in das rechte Auge. Dann in das linke. Die geblendete Wahrsagerin begann von ihrem Stuhl zu kippen, ihre Augen sprangen aus den Höhlen.
Als sie fiel, klirrte etwas wie berstendes Glas.
Ame atmete tief ein. Er war gerettet. Erschöpft stellte er den Dolch auf den Tisch und betrachtete ihn befriedigt.

Da fragte er sich plötzlich, warum kein Blut auf der Klinge klebte.
Die blasse Hand, die den Dolch ergriff, lieferte ihm den ersten Teil der Erklärung. Die darauf ertönende Stimme den zweiten:
„Ame, das war nicht gut. Ganz und gar nicht.“
Der Wächter erstarrte. Sein Blick irrte durch die Dunkelheit, doch abgesehen von der Hand mit dem Dolch trat nichts aus ihr hervor.
„Zum Glück war ich vorsichtig genug und habe diese Puppe mit den Glasaugen an meine Stelle gesetzt. Ich befürchtete, dass die Zukunft dir nicht gefallen würde.“
Ame versuchte tief einzuatmen und stotterte:
„Ich habe nur den Schrecken gesehen.“
„Das ist die Zukunft.“ Liana trat aus der Dunkelheit, lächelte auf eine mysteriöse Art und zuckte mit den Schultern. „Ist sie denn so schlimm? Zerstörung, Mord, Hass, Blut und Hungersnot sind ja nichts Neues.“
„Es waren nicht die einzelnen Dinge... Ich weiss nicht. Das Ganze war irgendwie ein Schrecken ohne seinesgleichen. Besonders der Hunger war intensiv.“
„Ja, der Hunger wird sehr schlimm sein. Aber du hast noch immer nicht alles gesehen, was passieren wird.“
„Du meinst das mit dem König?“
Liana nickte.
„Muss ich es noch sehen?“, fragte er.
„Nein, aber du willst es.“
„Ich habe dich bereits einmal umbringen wollen...“, versuchte Ame sich vor einem ‚ja‘ zu retten und hasste sich dafür, dass er nicht ‚nein‘ sagen konnte.
„Das ist kein Problem, den Dolch habe jetzt ohnehin ich. Das jemand mich töten will, weil er die Zukunft gesehen hat, ist nicht neu. Die meisten versuchen das was sie nicht verkraften können, an den Erstbesten loszuwerden.“ Sie presste ihre blassen Hände auf die Ohren ihrer Puppe und hob sie auf. In den dunklen Augenhöhlen schimmerte schwach und weit entfernt der Rest eines bunten Lichtes, aller hypnotischen Wirkung beraubt. „Und in diesem Falle bin ich die Erstbeste. Was glaubst du, wie viele dieser Puppen sind schon draufgegangen?“
„Tut mir ja Leid.“
„Wie viele?“
„Drei vielleicht. Was meine anbelangt, ich habe gesagt, es täte mir Leid.“
„Dreissig Stück!“
„Was!? Und woher hast du die Menge her?“
„Glücklicherweise stecht ihr alle immer die Augen aus. Sie sind das einzige, was ich ersetzen muss. Fünfzehn von euch fünfundzwanzig haben mir die Augen ausgestochen.“
Sie lächelte erneut, wandte sich um und verschwand mit der geblendeten Puppe in der Dunkelheit, wo das Licht der vier kleinen, am Silberteller befestigten Kerzen nicht hinreichte.
Währenddessen betrachtete Ame die magische Kugel. Sie widerspiegelte das Flammenlicht so geschickt, dass es aussah, als leuchte sie von selbst.
Oder tat sie das etwa wirklich?
Die Aussenschicht schimmerte gelb. Doch sobald er den Blick auf den dunklen Kern der Kugel richtete, schien sie zu verblassen und sich selbst mit einem dunkelvioletten Nebel zu umschlingen. Je nach dem, wie weit er in die Kugel hinein sah, veränderten sich die Farben wieder, sodass bei Hin- und Herblicken ein etwas inkonventioneller Regenbogen die ganze Kugel schmückte.
Ame richtete seinen Blick auf einen der äusseren Bereiche und verharrte dort. Die dominierende Farbe war rot. Und das Rot blieb nicht starr auf der Oberfläche, sondern schien zu fliessen und von aussen nach innen zu tropfen, um dann wieder nach aussen zu sprudeln.

Winzige Schattengestalten bewegten sich. Ziellos irrten sie durch die Innereien der Kugel und wurden verfolgt:
Vom Schmerz. Er hatte zu einer Gestalt gefunden, die zu schrecklich war, um je von einem Menschen – egal auf welche Art – wiedergegeben worden zu sein. Pein, Mordlust, Hunger, Elend, Hass und andere Abscheulichkeiten, quälten vereint die Schatten und verbreiteten durch ihre pure Anwesenheit grausamen Schrecken.

Wieder die Zukunft...
Viel mehr als zuvor begriff Ame allerdings immer noch nicht. Liana hatte ihn mit der Bemerkung, der König sei in Gefahr, neugierig gemacht. Doch weder vom Regenten noch von dessen Ende hatte er bisher etwas zu sehen bekommen.
Dennoch faszinierten ihn die Illusionen der Kugel.

Ame war so gefesselt vom Schauspiel, dass er nicht bemerkte, wie Liana ohne ihre Puppe zurückkehrte und sich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte. Ihr kalter Blick huschte von Ames gequältem Gesichtsausdruck zum Zentrum des Geschehens. Ihre Pupillen begannen leicht zu vibrieren. Sie lächelte und hob ihre blassen Hände über den Tisch. Dort berührte sie eine imaginäre Kugel, die viel grösser war als die wirkliche und jene umschloss. Ihre Finger wirkten angespannt und kleine Handmuskel zuckten. Es schien, als nähme sie Kontakt mit der Kristallkugel auf.
Da realisierte Ame Lianas Präsenz.
„Und was ist jetzt mit dem König?“, fragte er ohne den Blick abzuwenden.
„Was du siehst ist sein Ende.“
Ame zog seine Augenbrauen zusammen. Bei all dem Schmerz, den er in der Kugel sah – ja, beinahe spürte – begriff er noch immer nicht, was dort vor sich ging.
„Du zweifelst?“
Obwohl sich Lianas Lippen nun bewegten, schienen die Worte noch immer nicht aus ihrem Mund zu strömen. Wie zuvor entsprang die Stimme dem ganzen Raum mit all seinen Wänden, Winkeln und im Dunkeln verborgenen Möbeln.
Die monotone Kälte ihrer Stimme aber vermittelte das Gefühl, es gäbe überhaupt keine Möbel, sondern nur kahle Wände.
„Ja, tue ich.“
„Willst du alles sehen?“
Die Kerzen schienen bei diesen Worten hektischer zu flackern. Dadurch rührten sie die Aussenschicht der Kugel an, worauf rote Flüsse in Spiralen nach innen zogen und die Schatten überfluteten. Der Silberteller selbst begann ein rötliches Licht zu widerspiegeln, welches das Fegefeuer persönlich hätte geliefert haben können.
„Ja, wie du es mir versprochen hast“, flüsterte Ame. Gleich darauf kämpfte er mit dem Gedanken, seinen Worten nachzujagen, sie wieder einzufangen um sie dann irgendwo in vergessene Tiefen des Gehirns zu verstecken.
„Du musst auf einiges gefasst sein. Du wirst die ganze Zukunft hautnah miterleben. Du wirst wie ein Teil von ihr sein.“
Die Kugel begann eine Erscheinung anzunehmen, die Ame alles andere als beruhigte. Er verspürte den Drang aufzustehen und den Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Doch seine Muskeln waren nicht imstande, den Befehlen seines Willens zu folgen.
Mit den Augen nahm er alles auf, was er sehen konnte.

Die neue Erscheinung, welche die Kugel annahm, so undefinierbar sie war, kam Ame bekannt vor.

„Du wirst fühlen und erleben.“
Liana blies die Kerzen aus. Die Kristallkugel aber leuchtete von selbst weiter und das Licht, dass zuvor nur den Silberteller erfüllt hatte, verbreitete sich nun im ganzen Raum, ohne wirklich zu erhellen oder der Dunkelheit ihre Geheimnisse zu rauben.
Durch das Fehlen des Kerzenlichts näherte sich die Kugel um ein gutes Stück der angestrebten Erscheinung. Noch immer wusste Ame sie nicht zu deuten, aber vielleicht war es auch besser so.
„Nur wenn du wirklich bereit bist, kann sich die Zukunft offenbaren.“ Lianas Pupillen vibrierten heftig. Ihre Hände bebten und zogen sich etwas von der imaginären Kugel zurück, als hätte sie angefangen zu brennen. „Wenn du das bist, dann lege deine Hände auf die Kristallkugel!“, ordnete die Wahrsagerin an.

Die Vorstellung, dieses absonderliche Rot der Kugel zu berühren erfüllte Ame mit äussersten Unbehagen.
Aber vielleicht war das wirklich der Preis, den er bezahlen musste, um endlich zu sehen, was in der von Liana propagierten nahen Zukunft passieren würde. Und wenn ihm der Mut fehlte, die Kugel zu berühren, woher sollte er dann den Mut nehmen, ‚nein‘ zu sagen?
Wahrscheinlich war diese Berührung überhaupt nicht eklig. Wahrscheinlich war der Schrecken nur eine Illusion.
Aber ‚wahrscheinlich‘ war nun mal nicht ‚sicher‘.

„Nur durch deine Berührung können sich die Schatten bewusst bewegen und dir alles demonstrieren. Ohne irren sie weiterhin ziellos umher.“
Ame führte seine Hände bis wenige Zentimeter vor die Kugel. Dort verharrte er.
Die Oberfläche war immer noch rot.
Aber sie war auch noch etwas anderes.

„Je länger du wartest, umso schlimmer wird die Erscheinung. Du solltest dich beeilen.“

Die wenigen Zentimeter waren im Nu überwunden.
Das Gefühl zu verbrennen war nicht mal so schlimm.
Weit unangenehmer war die Erkenntnis, die ihn traf: Er wusste wieder, woher ihm die nun komplette Erscheinung der Kugel bekannt vor kam.
Aus der Kugel. Sie war selbst eine dieser Vergestaltlichungen des Schmerzes geworden, welche zuvor in der Kugel die kleinen Schatten verfolgt und gepeinigt hatten.
Einen Moment lang hielt Ame einen Gegenstand aus Hass, Blut, Hunger und Elend in der Hand.
Auch im nächsten Moment berührte er den Gegenstand noch, allerdings von innen. Und dort war die Qual noch viel stärker.
Ames Finger verloren ihren Griff und er stürzte, riss dabei einen Schrei mit sich in die Tiefe.
Dieser Schrei erstickte im Blut, während ihn die Innereien der Kugel verschlangen und wieder ausspuckten – immer etwas kleiner und gestaltloser als zuvor. Irgendwo im Zentrum der Kugel schlug er auf und verlor das Bewusstsein.
Er träumte von sämtlichen Qualen, die die Welt je hervorgebracht hatte und insbesondere von denen, die er irgendwann in seinem Leben erlitten hatte.
Dann wurde ihm sein Körper geraubt. Und sein Geist. Was übrig war, war nicht mehr viel, aber genügend, um zu sein und um zu leiden.
Was übrig war, war ein Schatten, der ihm in den Fesseln der Kugel als Gestalt dienen musste.

Als er aufwachte, hatte er seinen Traum wieder vergessen. Er stand auf und betrachtete fasziniert die Hallen und Säulen aus blutigem Kristall, die ihn umgaben.
Aus den Augenwinkeln sah er etwas, das sich ihm näherte und ihn mit furchtbaren Qualen foltern wollte. Sogleich ergriff er die Flucht. Er eilte durch das Fleisch der Kugel, ein Leidender unter fünfundzwanzig anderen.
Gejagt vom Schmerz und all seinen Komponenten, die ihn nie erreichten, aber auch nie von ihm abliessen, kannte er nur ein Ziel: das Ausserhalb.
Doch die Kugel wollte ihn für sich behalten und blieb verschlossen. Für jeden Schritt der Befreiung gab es zwei Schritte der Demütigung zurück. Je weiter er nach aussen drang, umso stärker zerrte ihn der Kern der Kugel wieder an seinen Platz.

Es dauerte nicht lange, bis Ame entschied, sich seinem Verfolger zu stellen und gegen den Schmerz zu kämpfen. Er nahm allen Mut zusammen und drehte sich um.
Als er ihm aber ins unbeschreiblich qualvoll verstellte Gesicht sah, ergriff ihn die Panik und er floh weiter in unbestimmte Richtung.

*

„Die Zeit des Königs ist vorbei!“, rief Liana in den Raum und lachte, „danke Ame, danke allen, die mir geholfen haben und helfen werden!“
Sie ergriff die Kristallkugel und hob sie auf, um das Schauspiel besser verfolgen zu können.
War dieser Schatten dort vielleicht Ame? Gut möglich, er irrte mehr umher als seine Mitgefangenen, weil er noch mehr Kräfte hatte und nicht wusste, dass Fliehen sinnlos war.
„Diese armen Leute fühlen sich alle von ihrem eigenen Schmerz verfolgt! Ist das nicht amüsant?“
Ihr Blick stach in die Dunkelheit.
„Trete hervor, Gayan!“
Ein kleiner aber stämmiger Mann löste sich zögerlich von der Schwärze und trat ins rötliche Licht der Kugel. Sein Lächeln wurde vom wilden hin- und herrollen seiner Augen entschärft.
„Ich mag dieses Licht nicht, Liana.“
„Hast du das Gefühl zu brennen?“
„Unter anderem.“
„Das ist eine Illusion. Im Grunde genommen widerspiegelt die Kugel nur, was in ihr geschieht. Die Schatten hier verbrennen gerade innerlich.“
„Es macht mir dennoch etwas Angst“, gestand Gayan und lächelte dabei, als versuchte er sich selbst zu verhöhnen.
„Dazu hast du keinen Grund, ich hab schon fünfundzwanzig, das genügt. Dich brauche ich für etwas anderes und das weisst du hoffentlich.“
„Ja.“
„Gut.“
Ihr Blick reiste wieder in das Kristall. In den nächsten Tagen würde sie ihre Gäste genau richtig behandeln müssen. Ein bisschen weniger Angst und viel mehr Hunger.

„Gayan, ist schon irgendetwas aufgefallen?“
„Das Verschwinden der drei Wächter schon, aber diejenigen aus der Stadt vermisst kaum jemand.“
„Es darf keine Spur hierher führen, verstanden?“
Gayan nickte. Auch er verfolgte das Spiel in der Kugel.
„Kannst du dir vorstellen, wie sie sein werden, wenn sie herauskommen?“, fragte ihn Liana.
„Nicht wirklich.“
„Dann stell dir die Hölle vor.“
Sie grinste. Gayan hob seine kräftige Hand vor die Augen, um sich vor dem rötlichen Licht zu schützen.
Und vielleicht auch vor dem Grinsen.

*

Ames unfreiwilliger Aufenthalt wurde immer schrecklicher. Er war nicht in der Kugel, um die Zukunft hautnah mitzuerleben, sondern weil er ein Gefangener Lianas war; so viel hatte er begriffen.
Aber er war nicht der Einzige: Seine Leidensgenossen schienen zahlreich – Ame hatte sie gelegentlich aus der Ferne gesehen und versucht sie zu zählen; er schätzte sie auf gut zwanzig.

Schon bald erfolgte Ames erste nähere Begegnung mit einer der anderen Gestalten: Lea, die Tochter des grossen Goldschmiedes Louh. Drei Jahre lang hatte Ame diese junge Frau geliebt. Er wusste zu genau, wie das Mädchen ausgesehen hatte. Selbst nach der Heirat mit einer anderen Frau des ersten Bürgertums hatte er öfters Louhs Juweliergeschäfte besucht. Zu gerne hatte er sich ab dem für ihn himmlischen Körper, den dunklen, grossen Augen, der schwarzen Haarpracht und den vollendeten Lippen im Einklang mit der weltbegeisterten Ausstrahlung ergötzt. Für Lea war er zwar nie mehr als ein guter Freund gewesen, doch hätte sie ihm je die Möglichkeit dazu gegeben, hätte er sie sofort auch mehr als nur hinter dem Gitter seiner Phantasie geliebt. Sie war der einzige Traum in seinem Leben gewesen, der weder verloren noch in Erfüllung gegangen war.

Doch die Lea, der er in der Kugel begegnete, war nicht mehr die gleiche. Sie hatte sich viel zu optimal der Umgebung angepasst, und wenn sie noch irgendetwas von einem Traum hatte, dann ganz gewiss von einem schrecklichen Alptraum.
Sie hatte alle Attraktivität ihres Körpers auf dem Weg des Schmerzes liegengelassen und im Gegentausch ihre Haut mit Blut beschmutzt. Diese Haut war zu gross für den Rest an Körper, den sie noch zu umhüllen hatte. Teils hing sie in Fetzen vom dürren Leib, teils formte sie leere, luftige Taschen. Die einst prachtvollen Brüste hingen ihrer Substanz beraubt, willenlos wohin die Schwerkraft sie gerade zwang und von dem bezaubernden Lächeln war nicht die geringste Spur zu sehen. Zudem schien es, als hätte sie sich selbst in die Lippen gebissen und mehrmals Blut und Eiter abgeleckt, bevor es verkrusten konnte. Die Augen hätten vielleicht noch annähernd schön sein können, doch der gierige und hungrige Blick, der hinter dem Hass flackerte, verdarb zusammen mit dem an den Lidern haftenden Blut diese letzte Schönheit.
Der ganze Körper hatte völlig neue Proportionen angenommen. Ame war sich sicher, Leas Rumpf mit seinen Händen so umfassen zu können, dass sich seine Finger- und Daumenspitzen mühelos berührten. Wo einmal schöne Rundungen gewesen waren, fehlte das Fleisch und die Haut kämpfte gegen die Knochen, welche versuchten, sie zu durchdringen.

Auch Lea wurde verfolgt – von einer Gestalt, die genau das zu widerspiegeln schien, was Ame in ihrem Gesicht gefunden hatte und was auch er verspürte, wenn auch in einer anderen Konstellation.
Pein, Blut, Elend, Hunger, Mord und Hass.
Und der Hunger dominierte.

Das weite Aufreissen des Mundes, das Entblössen der im Vergleich zum geschrumpften Zahnfleisch erstaunlich langen Zähne und ein stummer Schrei waren das einzige Warnzeichen, welche Lea Ame gab.
Sie stürzte auf ihn los. Zuerst machte Ame Anstalten zu fliehen, dann aber obsiegte die Mordlust in ihm und er jagte ihr entgegen.
Er würde dieses Miststück foltern! Er würde es dafür bestrafen, seine Liebe nie erwidert zu haben! Er würde Lea ein paar Knochen brechen und sie anschliessend mit eben diesen Knochen perforieren. Er würde sie in einzelne Stücke zerlegen...
Und wenn er mit ihr fertig war, was würde er dann tun?
Ame überlegte kurz, doch die Antwort fiel ihm schnell ein:
Dann würde er Hunger haben.

Je näher er ihr kam, umso schwächer wurde Leas Erscheinung. Von ihrem Gesicht blieb nur der Schatten übrig und als sie sich erreicht hatten, vermischten sie sich, um gleich wieder auseinanderzugehen, ohne sich überhaupt berührt zu haben.
Überrascht wandte sich Ame um. Lea tat es ihm gleich. Ihre Gier wich einem Ausdruck von Trauer und Verzweiflung. Als sie aber Ames Verwirrung registrierte, hob sie die Hände. Während drei Sekunden schien sie tief einzuatmen. Dann schlug sie mit der linken Hand auf den rechten Unterarm – und durchkreuzte ihn.
Nach dieser Demonstration machte sie sich davon. Ame beobachtete ihren Verfolger. Nie reichte Lea dieser weiter als bis an die Füsse und wenn sie keinen Drang verspürte, zu eilen, ging er geduldig hinter ihr her. Wenn sie aber versuchte zu fliehen, jagte er ihr wie ein Raubtier nach.


Lange Zeit liess sich Ame von der Gefangenschaft quälen, ohne die Bedeutung dieser ersten Begegnung mit Lea und seiner Beobachtung bezüglich ihres Verfolgers zu verstehen.
Doch plötzlich – als er an einer kahlen Kristallwand lehnte und sich fühlte, als hätte man seinen Oberkörper als Zielscheibe für Messerwerfer missbraucht – erinnerte er sich wieder an die exakte Übereinstimmung Leas Gesichtsausdrucks mit den Qualen ihres Verfolgers.
Und dann kroch ein Bruchteil der Erkenntnis wie eine in den Wahnsinn getriebene Schlange durch Ames Gedanken.
Viel zu lange habe er sich in eine sinnlose Flucht gestürzt, erklärte sie ihm.
Weiter wies die Schlange darauf hin, dass der Verfolger immer nach Ames eigener Verfassung eine neue Gestalt annahm, die in all ihren Komponenten an diesem Ort nicht anders aussehen konnte als Schmerz, der ein optimal passendes Gewand angezogen hatte, ob nun Hunger, Verzweiflung oder Mordlust diesem Gewand ihre grässliche Farbe verliehen.
Dann aber schwieg die Schlange und Ame wusste noch immer nicht recht, wie er das Puzzle zusammenstellen sollte.
Am weit entfernten Kugelrand begann ein kleines Licht durch die durchsichtigen Wände und Hallen zu flackern. Weil dieses Licht das einzige erhellende Etwas weit und breit war, fragte Ame es, warum ihm der Schmerz immer auf Schritt und Tritt folgte.
Während das Licht flackernd nachdachte, tänzelte der Schmerz hinter seinem Rücken, dass ihm der kalte Schauder den Nacken hinunterglitt. Plötzlich erlosch das Licht und der ewige Verfolger verschwand für einem kurzen Moment, um gleich darauf zur Rechten Ames aufzutauchen. Der Wächter liess seinen Blick über den düsteren Horizont streifen, bis er zu seiner Linken dem neuen Licht begegnete. Es bewegte sich ebensowenig wie der Schmerz zu seiner Rechten.
In diesem Moment begann die Schlange in seinen Gedanken wieder heftig zu zucken und peitschte durch ihre Umgebung. Sie wollte sich von ihren letzten Fesseln befreien. Sie raste eine Runde durch Ames Kopf, bis sie den Ausweg gefunden hatte. In Worte umgeformt wucherte sie aus seinem Mund:
„Schatten!“
Ame spuckte den Rest der Schlange aus, dass sie auf den Schmerz vor seinen Füssen landete.
„Schatten eines Schattens!“
Ungläubig starrte er das an, was er für die Vergestaltlichung allen Übels gehalten hatte. Er stolperte einen Schritt zurück.
Es folgte ihm.
Er begann zu schreien.
„Das ist Wahnsinn, das ist unmöglich!“
Das Ding verfolgte ihn nicht, sondern war ein Teil von ihm!
Er trat weitere drei Schritte nach hinten. Wieder erstreckte sich der schreckliche Schmerz bis vor seine Füsse.
Er wollte sich mit beiden Händen an den Kopf greifen, wie um eine verlorene Konzentration wiederzuerlangen, doch seine Hände gruben sich durch den Schädel in sein Hirn, wo sie einander flüchtig begegneten, um dann auf der anderen Seite wieder unberührt aus dem Kopf zu treten.
Der Schrecken vollführte eine analoge und ebenso seltsame Bewegung.
„Schatten!“
Ame liess sich zu Boden fallen und zum ersten Mal gelang es seinem Verfolger, ihn vollständig zu erreichen:
Er glitt unter den Wächter und blieb liegen.

Halb bewusstlos, liess Ame die Zeit vergehen und die Qualen ihn quälen. Irgendwann würde die Zeit der Befreiung kommen.
Und sie musste bald kommen, diese Zeit, denn lange hielt er es nicht mehr aus.
Er spürte, dass sich etwas verändern würde. Sonst spürte er nichts, nur das.
In Gedanken verliess er die Kugel und machte Dinge, an die er selbst nur mit höchstem Unbehagen zu denken wagte. Doch er entschuldigte sich damit, dass die Zukunft nun mal schrecklich war.
Und immer wenn seine Gedanken zurückkehrten, leckte er Blut von den Pfützen am Boden, um wenigstens nicht zu verdursten und um Kraft zu tanken für die Aufgabe, die ihn erwartete.
Das Blut flammte dann in seiner Kehle auf und brannte bis in seinen Magen.

*

Liana stellte ihre mit neuen Augen versetzte Puppe auf das kleine Bett.
Alles war optimal vorbereitet worden. Nichts konnte schiefgehen. Der Tyrann würde bald vom Thron fliegen, Gayan vielleicht an seine Stelle treten und einige Prachtexemplare des königlichen Schatzes in ihren fürsorglichen Händen sein.
Das waren doch nette Aussichten, nicht?
Wahrsagerei an sich war nun mal kein ertragreicher Job, da musste man sich schon etwas Besonderes einfallen lassen. Mit dem Schatz würde sie ihr Leben lang ohne Arbeit zurechtkommen, egal wie lang es zu werden drohte.
Doch würde ein Leben ohne Arbeit nicht langweilig sein?
Liana befürchtete es.
Vielleicht würde sie im einen oder anderen Reich wieder solche Spiele spielen. Natürlich nie die gleichen, das konnte mit der Zeit auffallen. Aber sie hatte die Phantasie sich anderes einfallen zu lassen. Und sie hatte auch die Möglichkeit, diese anderen Sachen auszuführen.
Wie es schien wurden ihre Ideen von Mal zu Mal besser. Dieses Fest würde den Kartenspielabend im Nachbarreich Shenia übertreffen, wie jener seinerseits ihre Tätigkeit in Dolia übertroffen hatte. Schmunzelnd zog sie ein Kartenspiel aus ihrer Souvenirtasche heraus. Nach kurzer Zeit hielt sie den König in der Hand. Er sah sehr verunstaltet aus.
Liana begann ihn zu falten. Sie zog an zwei Seiten der Spielkarte, damit sich seine Glieder dehnten, kniff in die Karte oder rollte sie zusammen.
Sie liess sich verschiedenste Torturvarianten einfallen und lauschte jeweils angespannt, um die Schreie nicht zu verpassen.
Diese aber kamen nicht. Erzürnt warf sie die Karte zu Boden.
„Tot!“, sie stampfte mit der Fusssohle auf die Königskarte, die ohnehin nicht mehr entsprechend aussah, „der Hurensohn ist einfach abgehauen, um auf die ihm zustehenden Schmerzen erster Qualität zu verzichten. Ich hoffe er ist wenigstens eines qualvollen Todes gestorben.“
Die Karten würde sie am kommenden Abend nicht mehr der Königsgarde schenken können, soviel war klar.
Schade um den Spass.
Aber die Hauptattraktion würde natürlich nicht abgesagt werden.
Bei dem Gedanke an das sich in naher Zukunft abspielende Drama, fand Lianas Lächeln den Weg zurück in ihr Gesicht. Wenn es auch noch etwas getrübt war vom Verlust der Königskarte.
Sie liess ihren Blick zirkulieren und wie immer wenn sie das tat, hatte sie einen Einfall.
Für die Feigheit des Königs von Shenia würde seine Familie umso mehr bezahlen. Selbst diejenigen, die sie wegen ihrem Alter bisher verschont hatte.
Sie nahm sämtliche Spielkarten in die Hand und blätterte sie lächelnd durch.
Dann begann sie mit der Dame.
Die frischen Schreie hatten eine beruhigende Wirkung. Liana entspannte sich richtig während ihrer kleinen Beschäftigung. Das war der perfekte Zeitvertreib für vor dem grossen Fest.
Und sie hatte diesen Zeitvertreib ernsthaft der Königsgarde schenken wollen?

Die Zeit verging sehr schnell. Zwei Minuten vor dem mit Gayan abgemachten Treffen schreckte sie zusammen und liess ihre Karten fallen.
Nebst dem allmählich verklingenden Gekreische der sechsjährigen Königstochter gab es noch ein anderes Geräusch.
Vor der Türe. Es waren verschiedene Stimmen. Befehle wurden erteilt.
Hatte Gayan etwa seinen korrupten Mund aufgemacht? War alles aufgeplatzt?
Nein, Gayans Belohnung wäre gross genug für ein Leben lang Treue. Aber vielleicht hatte er einfach seine Arbeit mangelhaft erledigt.

Ein hartes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Rasch sammelte sie die Karten ein und legte sie sorgfältig in die Souvenirtasche.
Sie warf einen Blick zur Kugel im Silberteller.
Wie zum Teufel würde sie deren Zustand erklären?

Die Türe öffnete sich und drei Wächter traten ein, davon einer von der Königsgarde. Sie kannte alle drei beim Namen.
Es war der Chaon, ein gutmütiger Hüne, der das Wort eröffnete. Nach einer vor sich hergebrummten Entschuldigung bezüglich der Störung, erklärte er:
„Es ist wegen dem kürzlich verschwundenen Wächter. Er habe vor einigen Tagen zu Ihnen gehen wollen, um die Zukunft zu sehen. Wissen Sie etwas?“
„Ame ist verschwunden, ich weiss.“
Lea bewegte ihre Lippen ganz normal und gab sich nicht die Mühe durch den Raum zu sprechen.
Chaon sah sie verdutzt an. Nis, der fünfzigjährige Königsgardist, von dem man sich erzählte, er habe unter dem alten König noch Hexen gefoltert und verbrannt und der Lianas Einladung in die Zukunft abgewiesen hatte, widmete ihr einen hassvollen Blick und fragte:
„Woher wissen sie, dass es Ame war?“
Ach Nis, du bist so gut wie tot, dachte Liana, dass du mein Angebot abgeschlagen hast und Ame an deine Stelle treten musste, ändert nichts an der Tatsache, dass du bald verenden wirst. Es ändert nur die Art. Und die ist ohnehin fürchterlich.
„Woher ich das weiss? Ich kenne meine Kunden. Ame hatte vor vier Tagen einen Termin mit mir und heute erneut. Die Zukunft faszinierte den Jungen. Daraus, dass er nicht erschienen ist, schliesse ich, dass er der Vermisste ist.“
Nis nickte, scheinbar enttäuscht, dass Liana eine so leichte Erklärung gefunden hatte. Chaon liess seinen Blick durch den Raum schweifen, als suchte er nach etwas. Dabei zog er eine Grimasse. Der dritte Wächter, der niemand anderes als Gayan war, stand hinter den beiden anderen und hatte sichtlich Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
„Warum fühlt man sich denn in deiner Bude so scheisse?“, wollte Chaon wissen.
Einen Moment lang schwieg Liana. Im ersten Augenblick hatte sie Chaons Frage für eine Provokation gehalten. Sein Blick und seine Grimasse bekräftigten jedoch das Gegenteil. Er meinte es durchaus ernst, aber was sollte sie antworten?
Sollte sie sagen, dass es wegen der Kugel war? Weil sie gerade dabei war ein paar Leute zu quälen?
Doch dann fielen ihr die rettenden Worte ein:
„Ich beschäftige mich mit der Zukunft. Die Zukunft ist alles andere als schön und mit der Zeit nimmt der Raum ihre Aura an. Das ist ein Problem, das ich seit langem habe. Da kann nur die Zukunft selbst was dran ändern, was ich aber bezweifle.“
Gayan hielt sich den Mund mit beiden Händen zu, um einen Lachanfall zu verhindern.
Chaons Füsse verrieten mit ihrem unentschlossenen Hin- und Hertreten seine Nervosität. Er hob seine linke Hand zum Kopf und versuchte den Schweiss auf seiner Stirn dem Unterarm weiterzugeben, welcher allerdings bereits ausgebucht war. Sein Blick schweifte zum kleinen Tisch und blieb bei der Kugel haften. Seine Pupillen weiteten sich.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Nis kam ihm zuvor:

„Die Kugel sieht ja furchtbar aus. Man hat das Gefühl, sie bestünde aus zusammengepressten Leichenstücken, die man mit Alkohol übergossen und angezündet hat, um teuflische Rituale durchzuführen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass du solche Rituale durchführst.“
Nis schaffte es, so viel Hass in seinen Gesichtsausdruck zu stopfen, dass vom leisen Grinsen kaum mehr etwas zu sehen war.

„Wenn du der Meinung bist. Man merkt, dass du ein paar Jahrzehnte verschlafen hast, Nis. Nicht alles was mit Magie zu tun hat, ist böse. Aber ich kann euch etwas zeigen, dass euer unbegründetes Misstrauen etwas aus dem Weg schafft.“
Sie berührte sachte die Kugel. Ihr Zeigefinger wurde von loderndem Feuer umhüllt, kehrte aber heil zurück.
„Die Kristallkugel ist gerade dabei, den schlimmsten Teil der Zukunft zu zeigen. Deshalb scheint sie zu brennen. Doch es ist nicht mehr als eine Illusion. Ich habe sie vor zwei Stunden in Gang gesetzt, um Ame zu zeigen, was er sehen wollte, doch da er immer noch nicht gekommen ist, hat die Kugel ihr Wissen ohne Zuschauer vorgeführt. Einmal eingeschaltet, kann ich sie nicht mehr ausschalten, bevor sie mir den gewünschten Teil gezeigt hat. Ame wollte alles sehen.“
„Und was ist alles?“, warf Chaon ein.
„Es beginnt bei seinem eigenen Verschwinden und hört mit einer Menge Grausamkeiten auf. Genaueres kann ich euch nicht erzählen, das müsst ihr selbst sehen.“
Nun schwieg Nis. Chaon hatte sich etwas beruhigt.

„Wollt ihr sie sehen?“ fragte Liana. Ihr Blick schlich sich unbemerkt zu Gayan und fixierte dessen Augen. Nun musste er reagieren. Um Befehle zu befolgen war der Typ intelligent genug, aber war er auch fähig, zu improvisieren?
Musste er als zukünftiger König.
„Ich brauche deine Scharlatanerie nicht, verkaufe sie jemand anderem!“, erklärte Nis.
Liana wiederholte ihre Frage:
„Will jemand von euch die Zukunft sehen? Da heute der grosse Tag ist, biete ich es euch umsonst an.“
Endlich hatte Gayan die unausgesprochene Aufforderung bemerkt.
„Ich will gerne einen Blick hineinwerfen, wenn es mir gestattet ist“, meldete er sich erstmals zu Wort.
„Aber deine Kollegen müssen draussen warten.“
„Wie lange dauert es?“
„Vielleicht eine Stunde.“
„Nis und Chaon, ich denke in diesem Fall wäre es zuviel verlangt, dass ihr auf mich wartet. Wir sehen uns in einigen Stunden am Fest wieder, oder?“
Chaon nickte stumm. Er hatte bereits einen Fuss über die Schwelle gesetzt. Er setzte die Hand auf Nis Schulter und wollte diesen dazu einladen, mit nach aussen zu kommen.
Doch dann fiel dem Hünen noch etwas ein:
„Apropos Fest: Bist du auch eingeladen?“, wollte er von der Wahrsagerin wissen.
„Selbst wenn ich eingeladen wäre, würde ich nicht an eurem Gelage teilnehmen, weil ich solche Dummköpfe wie Nis nicht ausstehen kann.“
Der Königsgardist sah sie finster an.
„Irgendwann hack ich dein beschissenes Haus in Stücke, du Hexennutte! Halte deine Worte lieber im Zaum“, spie er ihr sein Gift entgegen und zog sein Schwert aus der Scheide.
„Wirklich? Die Zukunft sagt mir etwas anderes. Ist dir die Hölle ein Begriff?“
Eine Weile lang sahen sich Nis und Liana an. Beide Blicke trugen ein Feuer aus Hass – es war gross; beinahe ein Flammenmehr.
Nis hob sein Schwert vor sich hin und ging zwei kleine Schritte in Lianas Richtung. Liana wich etwas in die Dunkelheit zurück. Ihre Gestalt vermischte sich mit der Umgebung, lediglich ihre blassen Hände und ihre Augen stachen heraus, als hätten sie sich vom Körper gelöst, um alleine nach vorne, zur Front zu gehen.

Gayan bemerkte ein leichtes Zucken, ein kaum bemerkbares Vibrieren ihrer Pupillen. Sofort begriff er, was es zu bedeuten hatte: Liana hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.
Sogleich trat er zwischen Nis und die Wahrsagerin. Die Wellen durften ihr Ziel nicht erreichen. Dann versuchte er, Nis zu beruhigen. Erst mit Hilfe Chaons gelang es ihm, den Königsgardisten endgültig davon zu überzeugen, keinen Schaden anzurichten und den Raum zu verlassen.
Chaon verabschiedete sich schliesslich von Gayan.
„Und bleib uns wohl erhalten, Gayan, ich hoffe du weisst, was du tust“, ermahnte er seinen Kollegen, bückte sich und trat ins Freie. Bevor er die Türe hinter sich schloss, schenkte er Liana noch einen Blick, der ungefähr folgendes aussagte: „Dass ich dir nicht wie Nis misstraue, heisst noch lange nicht, dass ich dir traue!“
Dann schloss er die Türe und sperrte die Botschaft seines Blickes mit Gayan und der Dunkelheit ein.

*

Die Zeit nahte!
Ihr Geruch, ja, gar ihr Geschmack schwebte Ame entgegen – und er lechzte danach.
„Noch eine Weile lang liegenbleiben, noch eine Weile lang Kräfte tanken!“, befahl er sich selbst.

Lag sie immer noch unter ihm, die Gestalt, die der Schatten seines Schattens war?
Wie sah sie unterdessen aus?
War es besser so liegenzubleiben, damit sie sich nicht befreien konnte?
Oder sollte er sich bald von ihrer viel zu zarten Berührung lösen und aufstehen?

*

Um sieben Uhr wurden die Tore geschlossen. Auf den ersten Blick schien die Stadt leer zu sein. Die Hauptstrassen waren gesperrt worden und hätten da nicht gelegentlich Kutschen der ersten Bürgerschaft den kalten Stein mit ihren Rädern erhitzt, so hätte man die teuren Strassen den Ratten überlassen geglaubt.
Zwischen den Häusern, in den kleinen Gassen entdeckte man dann und wann einzelne Menschen, die in Richtung der Mauern schlichen. Im Allgemeinen aber schien die Stadt nicht das Geringste von einem Fest im Königsquartier gehört zu haben.
Trotzdem gab es Bürger, die davon träumten ins Schloss zu gelangen und am Fest teilzunehmen – das wusste Chaon. Doch diesen Bürgern fehlte die Erlaubnis.
Wenn ein dritter oder zweiter Bürger versuchte, sich als ersten auszugeben, um ins Schlossquartier zu gelangen, drohte ihm die ultimative Strafe – der Tod.
Solche Massnahmen waren unangenehm, aber in Zeiten wie diesen, wo Menschen aus allen Schichten sich in Luft auflösten, waren sie nötig. Zumindest war der König dieser Meinung.

Chaon beobachtete das Geschehen vor dem Tor.
Zwei seiner Kollegen untersuchten ein kleines Gefährt. Zwei Kinder und eine Frau sahen ihnen dabei mit grossen Augen zu.
Die Frau war eine seltene Schönheit, realisierte Chaon nebenbei, doch seine Pflicht beschäftigte ihn zu sehr, als sein Blick sich an ihr hätte festsetzen können.
Der Fahrer sprach mit einem weiteren Wächter. Dabei benutzte er mindestens ebenso viele Gebärden wie Worte – ein Anzeichen dafür, dass die Familie nur zweite Bürger waren.
Jemand klopfte Chaon auf die Schulter. Er sah sich um.
Scheff schien sich sichtlich zu amüsieren:
„Wetten, die sind zweite Bürger!“
„Sind sie garantiert, aber erkläre mir bitte, was daran lustig sein sollte!“ Chaons Stimme klang fast schon traurig.
„Naja...“ , begann Scheff – dann wusste er nicht mehr, was er sagen wollte.
„Es ist überhaupt nichts lustig daran, dass diese Stadt in Kürze mindestens einen Bürger weniger zählt.“
Scheff sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Boden zu betrachten. Erst nach einer Weile öffnete er wieder den Mund:
„Weisst du... Chaon, du musst verstehen... die Leute, die einfach verschwinden. Das macht mich verrückt und...“
„Schon gut!“, warf Chaon ein. Er verfolgte wieder das Spektakel.
Die Schönheit stand nun neben dem Wagen. Ein Wächter nahm ihr die Jacke ab und durchsuchte sie.
Ein anderer sagte der Frau etwas. Während er sprach, schien er zu grinsen.
Chaon trat drei Schritte näher.
Nun hörte er den Wächter sprechen:
„Entschuldigen Sie, ich muss sie nach Waffen durchsuchen.“
Dann führte der Wächter seine Hände an die Brüste der Frau und knetete sie. Sein Grinsen wuchs an und vermischte sich mit einem Lächeln, als er die eine Brust wieder losliess und seine Hand in die Hose schob. Sein Kollege liess die Jacke zu Boden fallen und fasste das Opfer am Hintern.
Es dauerte noch zwei oder drei Sekunden, in denen die Frau sich verschiedene Vergehen gefallen lassen musste, bis sie von der Misshandlung befreit wurde.
Und dann dauerte es mindestens eine Minute, in denen Chaon und Scheff auf die beiden Wächter einschlugen.
Am Ende lagen die Täter – Silyo und Mete, zwei Männer der übelsten Sorte, die nach Chaons Meinung nie hätten Wächter werden dürfen – auf dem Boden, rangen nach Luft, während sie gleichzeitig zu verhindern versuchten, Blut zu erbrechen.
„Was zum Teufel ist euch eingefallen!?!“, schrie Chaon die beiden an. Und während er das tat, wuchs der Zorn erneut in ihm und er trat heftig in den am Boden liegenden und um Gnade flehenden Kopf Silyos.
Scheff zerrte sein Opfer hoch und spuckte ihm ins Gesicht. Dann verlangte er eine Antwort auf Chaons Frage.
„Sie...“, Blut schoss aus Metes Mund und verhinderte weitere Worte.
„Was ‚sie‘!?“, kreischte Scheff.
„Sie sind doch nur zweite Bürger.“

Scheff, der weit weniger Selbstkontrolle als Chaon hatte, hätte gerade einen brutalen Mord begangen, wären da nicht drei Soldaten herbeigeeilt, denen es mit Mühe gelang, sein zorniges Gemüt etwas zu besänftigen.
Als einer der neu angekommenen Soldaten bekräftigte, dass die beiden Wächter, die sich vergriffen hatten, ihre gerechte Strafe erhalten würden, fluchte Scheff:
„Gerechte Strafe? Ich kacke auf diese weisen Worte. Von mir aus können wir die beiden Wichser auch sofort erhängen!“
Selbst als die beiden betroffenen Wächter abgeführt wurden, durften sie sich noch Scheffs Verwünschungen anhören.

Als ihn Chaon darauf fragte, warum er denn immer übertreibe, gab er dieselbe Antwort, wie bereits zuvor, als er erklärt hatte, warum er es lustig fände, dass die Familie zweite Bürger waren.
„Ehrlich gesagt bin ich auch etwas nervös“, gestand Chaon und wischte sich mit einem schwarzweiss-karierten Taschentuch das Blut von der Hand und der Hose, „ich hab so ein Gefühl, dass heute noch weit Schlimmeres passieren wird, als gerade eben. Ich bezweifle, dass diese Kontrollen das Richtige sind, um die Zukunft zu verhindern.“
Scheff nickte.
„Apropos Zukunft, was sollen wir jetzt aus ihnen machen?“, fragte er und zeigte auf die Kinder, die sich in den Armen der weinenden Mutter versteckten.
„Was das Gesetz aus ihnen machen will, ist klar, aber ich denke du kannst dir ausmalen, was ich von diesem Gesetz halte.“
Scheff spuckte auf den Boden.
„Ja! Genau das halte ich von diesem Gesetz!“, erklärte Chaon und spuckte seinerseits.

*

Als Nis den Saal betrat, erwartete ihn der König bereits. Er sass auf seinem purpurnen Sessel vor einem kleinen Glastisch und bewegte gerade den weissen Läufer quer durch das mit diversen Edelsteinen verzierte Brett. Drei Rotweinflaschen standen zwischen den Schachfiguren, die er im Spiel gegen sich selbst herausgeschlagen hatte.
Der König wies auf das angefangene Spiel.
„Willst du für mich weiterspielen oder wollen wir ein neues Spiel anfangen?“, fragte er Nis und trank aus einem der drei bereitstehenden Weingläser.
Seine momentane Stimmung hätte Nis beinahe dazu veranlasst, die Schachpartie zu refusieren, aber schlussendlich zwang er sich, dem König den Gefallen zu tun. Bei allem was er erzählen wollte, war es wichtig, im guten Lichte zu stehen. Und vielleicht lockerte ihn das Spiel etwas auf, sodass er weniger Mühe hatte, damit anzufangen.
„Gern eine neue, Majestät.“
Nis setzte sich auf einen kleinen, ledernen Sessel. Im Gegensatz zu Chaon hatte er Schach nie gemocht. Aber jeder Wächter, vom Niedrigsten zum Höchsten, hatte das Spiel in seiner Ausbildung lernen müssen.
Es war eine Ehre, gegen den König zu spielen. Je nach Tageslaune stellte dieser das Brett auf. Manchmal musste sein Gegner mit einer oder zwei Figuren weniger antreten. Bei guter Laune aber stellte er sämtliche Figuren auf und verzichtete auf die weisse Farbe und somit auf den ersten Zug.
Nis' Kollegen hatten in letzter Zeit oft berichtet, dass der König seine eigene Dame aus dem Spiel stellte. Versuchte der Gegner, diesen unverhältnismässigen Vorteil abzulehnen, so erklärte der Regent, er habe keine Zeit zu diskutieren und keine Lust so zu tun, als hätte er noch eine Frau.
Und wenn dann der Gegner unter dem Einwand, es sei ja nicht das wahre Leben, sondern nur ein Spiel, abermals insistierte, so hatte der König bereits seinen Bauern zwei Felder nach vorne geschickt und wartete durch den Rotwein spähend auf den Gegenzug.

Nun stellte der Regent aber sämtliche Figuren auf. Und sogar am richtigen Platz.
Vielleicht wollte er zum Auftakt seines einundzwanzigsten Regierungsjahres wieder einmal nach den Regeln spielen.
Oder vielleicht hatte er ganz einfach eine neue Lebensgefährtin erspäht, die ihre Inbetriebnahme auf dem Schachfeld erlebte, bevor sie von Nis oder anderen Königsgardisten in der Stadt gepflückt werden musste.
Nis fragte nicht nach. Er hatte Wichtigeres zu sagen.
Er wartete die ersten fünf Züge ab, bevor er mit seinem Thema hervorplatzte. Er erhoffte sich die ganze Aufmerksamkeit des Königs, doch dieser schwebte stets zwischen Schachzug und Rotwein und antwortete ihm höchstens nebenbei.
Erst nach weiteren zehn Schachzügen – in denen Nis die Qualität und zwei Bauern verlor – hatte er den Herrscher von der Wichtigkeit seiner Anliegen überzeugen können.
Aber auch nur von der Wichtigkeit – bis er seine Anliegen deutlich und nicht allzu fordernd auf den Tisch gebreitet hatte, dauerte es weitere fünf Züge.
Doch der König machte keine grossen Anstalten, wirklich auf das Thema eingehen zu wollen.
Vielleicht hätte er die Anliegen nicht auf das kühle Glas des Tisches legen, sondern in den Rotwein mischen sollen, dachte Nis.
Oder in den Ausschnitt der zukünftigen Königin.
Der König machte gleich zwei Züge – er hatte sich entschieden, doch nicht nach den Regeln zu spielen – und widmete nun zum ersten Mal einige ernsthafte Worte seinem Gardisten.

„Nis, du scheinst zwei Dinge zu verwechseln“, er lächelte und nahm einen Schluck Wein.
„Weshalb brauchen wir das Weib denn noch?“, wollte Nis wissen.
„Ich habe gesagt, Nis, dass du Dinge verwechselst: Da ist zum einen deine uralte Abneigung gegen alle, die etwas mehr können als normale Menschen. Zum anderen heisst es noch lange nicht, dass Liana für die Zukunft verantwortlich ist, nur weil sie weiss wie jene aussieht.“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, mein König.“
„Weshalb wir sie brauchen? Da kann man weitere Fragen ergänzen: Weshalb brauchen wir das Volk? Weshalb brauche ich den Koch? Weshalb brauche ich dich, Nis?“
„Ich...“
„Ja, du bist mein treuer Wächter, wie fünfzig andere. Ich wollte nur zu bedenken geben, dass deine Frage nichts taugt. Je nachdem wie man sie betrachtet, kann man so ziemlich alle Menschen töten. Aber wir reden von Liana: Wenn sie mir nicht gesagt hätte, was mit Serena los war, so hätte mich meine verfluchte Exfrau noch jahrelang betrogen. Da war mir ihre Hellsicht sehr willkommen. Aber auch sonst hat sie mir oft geholfen: Ohne sie hätte man mich schon ganze drei Mal umgebracht. Dank ihr weiss ich, wem ich vertrauen kann und wem nicht.“
„Die Zeiten können sich ändern. Es gibt viele, die nach Macht streben. Vor allem Hexen.“
„Genauso wie Hexenjäger.“
Einige Sekunden lang starrte Nis wortlos in die Augen des Königs. Diese aber wollten keine Gedanken verraten.
„Ich nicht. Das wissen Sie genau“, äusserte sich der Gardist schliesslich und klang dabei enttäuscht.
„Nein, du nicht. Aber gerade deshalb finde ich es ärgerlich, dass ihr beide euch nicht vertragen könnt. Überlege mal, was sie dir alles erzählen könnte! Vielleicht liebt dich deine Frau nicht mehr. Vielleicht liebt sie nicht nur dich. Das könnte dir Liana sagen. Oder willst du einfach wissen, wer dich alles hasst? Sie ermöglicht es einem, die Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen. Nis, überlege mal!“
Nis überlegte sehr wohl. Nicht etwa, ob er unrecht hatte – was er von der Wahrsagerin hielt, stand fest – sondern wie es ihm gelingen könnte, den König zu überzeugen.
„Noch etwas, Nis: Wie stellst du dir vor, dass Liana fünfundzwanzig, teils sehr kräftige, Leute zum Verschwinden gebracht haben sollte? Versteckt sie vielleicht alle fünfundzwanzig in ihrer Zweizimmerhütte?“
„Sie ist eine Hexe. Und einige der Vermissten sollen kurz vor ihrem Verschwinden bei ihr gewesen sein.“
„Nis, ich habe es langsam satt, wie du aus der Hilfsbereitschaft unschuldiger Menschen ganze Verschwörungstheorien aufbaust. Wer ist denn deiner Meinung nach sonst noch Schuld am kommenden Massaker? Der Bote? Der Koch? Ein paar ehrliche Kaufmänner? Eine verarmte Nutte? Oder der König selbst!?“
„Ich sehe diese Hilfsbereitschaft nicht.“ Nis hätte gerne noch hinzugefügt: ‚Vielleicht fehlt mir dazu auch einfach nur der Alkohol‘ oder ‚Ja, der König ist tatsächlich selbst schuld, wenn er nicht auf mich hören will‘, aber es gab einfach Menschen, mit denen man besser nie einen Streit anfing und die man auf keinen Fall kritisieren sollte.
„Bist du blind?“, fragte der Regent.
„Ist man blind, wenn man die Zukunft im Nebel sieht, oder ist dieser Nebel Gottes Gnade?“
„Ich habe dir eine Frage gestellt und du hast angemessen zu antworten!“
„Nein, ich bin nicht blind.“
„Doch: Wenn einige der Opfer zu Liana gegangen waren oder hatten gehen wollen, bevor sie entführt wurden, so heisst das nichts anderes, als dass die Wahrsagerin sie vor der Gefahr hatte warnen wollen. Punkt!“

Nis hob seinen schwarzen König auf und führte ihn aus dem Schach. Er schwieg. Was gab es noch zu sagen? Was, wenn der König recht hatte?
Das hatte er laut sich selbst ja immer...
Und doch; es ging um Leben und Tod. Er durfte noch nicht aufgeben:
„Sie spricht die ganze Zeit von Ihrem Untergang. Ich verstehe nicht, wie Ihnen das gefallen kann. Und es tönt geradezu so, als wollte sie ihn selbst herbeiführen.“
„Du bildest dir ein, ich hätte Angst vor dem Untergang? Dann hast du das Königsleben nicht verstanden. Sieh mir zu!“
Auf dem Schachfeld standen noch knapp mehr als die Hälfte aller Figuren, darunter beide Damen. Eine wirkliche Entscheidung war noch nicht gefallen.
Der König nahm seine Dame in die Hand und fuhr bis zur Endgerade, wo sie von Nis‘ Turm angegriffen wurde. Doch die weisse Königin zog ohne den Gegner ziehen zu lassen weiter und raubte ihren Angreifer.
„Wenn man König ist, dann hat man ein Leben lang Zeit, die Macht auszunützen. In dieser Zeit macht man so grosse Gewinne, dass...“
Da zudem noch ein Läufer und zwei Springer in der Nähe standen, schlug die Dame auch diese vom Schachfeld und rasierte im Vorbeigehen noch drei Bauern.
Obwohl die gegnerische Dame noch stand, sah das Spiel nun überhaupt nicht mehr ausgeglichen aus. Doch das Spiel war Nis egal. Irgendwie faszinierte es ihn, wie der König sein Leben auf dem Schachfeld nachzeichnete: Ein unaufhörliches Fressen.
Solche Ehrlichkeit war ihm neu.
Der Regent bewegte noch einige seiner Figuren scheinbar ziellos nach vorne, bevor er seinen letzten Satz wiederholte und zu Ende führte:
„In dieser Zeit macht man so grosse Gewinne, dass es einem egal ist, wenn man am Schluss selbst zugrunde geht. Man hat das Leben genossen – im Gegensatz zu vielen anderen.“
Nis starrte ihn an. Er wusste nicht recht, ob er stumm nicken oder noch irgend etwas sagen sollte.
„Spiel, du bist dran!“, befahl der König.
Nis warf einen müden Blick auf das Spielfeld und grinste. Einen sinnloseren Befehl hatte er noch nie erhalten.
Da war es bestimmt nicht schlimm, wenn er sich weigerte, den Befehl auszuführen.
„Spiel!“
Was war jetzt daran so wichtig, ob er spielte oder nicht?
„Die Partie ist ja voll Scheisse. Darf ich nicht aufgeben?“
„Nein, du Narr!“
„Darf ich auch ein Dutzend Züge machen?“, scherzte der Gardist.
„Du machst einen Zug und grinst nicht so blöd!“
Nis nahm seinen schwarzen König und verschanzte ihn hinter zwei der wenigen übriggebliebenen Bauern. Das würde das Matt vielleicht um einen Zug verzögern, wenn es das war, was gewünscht wurde.
„Zurück! Mach den Zug zurück und denk endlich!“, herrschte ihn der Regent sogleich an, „was habe ich dir gesagt?“
„Ich solle den König zurückstellen und einen anderen Zug machen“, erklärte Nis, mittlerweile etwas verwirrt und eingeschüchtert.
Doch auch die darin bestehende Alternative, einen Bauern zwei Felder nach vorne zu schieben, missfiel dem König.
Er stellte die Figur sogleich selbst zurück auf das Feld. Dann wiederholte er seine Frage.
„Ich weiss es nicht mehr“, gestand Nis.
„Idiot! Ich habe dir gesagt, dass man als König so grosse Gewinne macht, dass es einem am Ende egal ist, wenn man zugrunde geht.“
„Ich verstehe nicht...“, stotterte Nis und hob seine Hände schützend vor sich hin.
„Mach endlich den einzigen guten Zug, den du in dieser Situation machen kannst. Bring mich ins Verderben!“
Mehr um dem scharfen Blick auszuweichen, als um sich wirklich auf die verlorene Partie zu konzentrieren, blickte Nis auf das Schachfeld.
Da fiel ihm seine einsame Dame ein. Wie durch Zufall führte eine freie Diagonale von ihr bis zur ersten Gerade, auf der sich der weisse König hinter seinen eigenen Bauern einsperrte.
Tatsächlich waren da keine anderen Figuren, die das Matt hätten verhindern können.
Nis hob seine Dame auf und begann zu grinsen. Als er sie ans Ziel führte, war das Grinsen viel zu gross geworden und im nächsten Moment stiess schallendes Lachen aus seinem Mund.
Der König fiel in das Lachen ein und leerte dabei ein halbvolles Glas um. Der Rotwein sammelte sich um seine weissen Figuren und es sah aus, als hätten diese geblutet.
Während der König und sein Gardist immer noch laut lachten, öffnete sich die Türe.

*

Ame stand auf. Die Gestalt unter ihm richtete sich ebenfalls auf, wenn auch dem blutigen Boden entlang. Es war Zeit nachzusehen, was die Gefangenschaft in der Kugel aus ihm gemacht hatte.

Schrecklich!
Die Gestalt aller Qualen, die ihn fast bis in den Wahnsinn verfolgt hatte, war mehr als nur abstossend und schrecklicher als der Teufel in Person. Der Schmerz hatte es tatsächlich fertiggebracht, sich noch ein letztes Mal zu vervielfachen.
Einen Moment lang wünschte sich Ame, dass ihn der Schmerz wieder verfolgte, anstatt ein Teil von ihm zu sein, ein zweiter Schatten.
Aber dann dachte er an den grossen Moment.

Das Warten tat weh, aber es war auch schön. Es verkörperte eine noch nie dagewesene Vorfreude auf ein Ereignis der speziellsten Art. Er wusste nicht einmal, was es für ein Ereignis sein würde, aber er sehnte sich danach.
Mit dem Verfolger hätte er nicht gut warten können. Da war ihm schon besser gedient, wenn er selbst der Verfolger war.

Plötzlich hob sich die Gestalt vom Boden ab. Sie wirbelte in der Luft herum und zerteilte sich in ihre zahlreichen Komponenten. Dann rasten diese Komponenten des Schmerzes auf Ame zu, welcher sich vom Schattenstadium verabschiedete und zunehmend die körperlichen Konturen anzunehmen begann. Diese entbehrten der Mehrheit des Fleisches, dem wiederum das Leben fehlte. Ame hätte eine malträtierte Leiche sein können, wenn nicht da und dort seine Eingeweiden gezuckt hätten – litten sie an Phantomschmerzen? – und Fleischfäden bei der Bewegung seines Körpers in der Luft einen grässlichen Tanz vollzogen hätten.

Ame wagte es nicht, sich selbst anzusehen.
Sah er so schlimm aus wie die einstige Schönheit Lea, als er sie hinter ihrem Schatten erspäht hatte?
Die Antwort haftete – oder haftete je nach dem eben nicht mehr – an seinem eigenen Körper. Doch zum ersten Mal war er dankbar dafür, dass das Gefängnis auch seine Sicht getrübt hatte. Die Schmerzen in seinen Augen waren eine Erlösung und er hoffte, dass sie bald seine Iris zum Platzen brachten.
Es fehlte ihm der Mut, sich zu sehen.
Was wenn er nicht so aussah wie befürchtet?
Sondern um einiges schlimmer...

An diesem Ort war ja alles schlimmer, oder etwa nicht?
Ame musste grinsen – seine Sicht der Dinge traf den kleinen im Schwarzen verborgenen Punkt genau! ‚Schlimmer‘ war die optimale Bezeichnung all dessen, was er in der Kugel gesehen und erlebt hatte.
Hätte der Hunger ihn nicht dermassen gequält, so hätte er mit Freude weiter Lebensphilosophie betrieben.
Aber der Hunger musste erstmals gestillt werden.
Und das Warten war schön, weil es weh tat und irgendwie war Ame überzeugt, dass alles, was weh tat, sich bald auszahlen würde.

*

Der junge Wächter, der in den Saal gestürmt war und von Chaons Tun berichtet hatte, sah beschämt auf den Boden und bemühte sich dem König zuzuhören, während dieser ihm laut schreiend ins Ohr spuckte:
„Verdammt, habt ihr das noch immer nicht begriffen!? Diese Gesetze sind lediglich Schutzmassnahmen und kein Freipass zum Morden. Chaon hat genau richtig gehandelt!“
„Was ist Ihr Befehl, Majestät?“
„Ihr sollt verdammt nochmals daran denken, dass heute ein grosser Festtag ist und das ihr fröhlich und grosszügig zu sein habt! Und wenn ich selbst auf mein Ausnahmegesetz pfeife, dann dürft ihr das auch.“
„Ist das Ihr Befehl?“
„Ja. Und schliesst so bald wie möglich die Tore vollständig. In einer Stunde beginnt hier das Fest. Die beiden von Chaon und Scheff verprügelten Soldaten, werden von der Feier dispensiert. Man schicke sie, sobald sie wieder stehen können, ans Tor. Den Rest will ich hier sehen! Geh!“

Als der Wächter den Raum verlassen hatte, wandte sich der König wieder Nis zu.
„Du kannst auch gehen. Wir sehen uns in einer Stunde. Und vergiss deinen Hass gegen Liana einfach!“

*

Die Sonne ging unter und das gefiel der Wahrsagerin. Die letzten Vorkehrungen waren getroffen worden. Ihr Triumph war nahe. Gayan hatte ihr bereits die Beute gebracht, sie musste nur noch überprüfen, ob er sie nicht betrogen hatte.
Schweren Herzens hatte sie sich vom grössten Teil ihrer Souvenirs trennen müssen, weil der Platz in ihrer Tasche gerade mal für die Edelsteine und das Gold reichte.
Doch das Leben war nun mal voller Wandel.
In welches Land würde sie gehen?
Sie würde wieder lange Tage und Nächte reisen müssen. Mit ihrem Gold und ihrer Macht würde sie je nach Laune Menschen glücklich machen oder sie sich unterjochen können.
Irgendwo würde sie auch eine neue Kugel finden müssen. Mit einer Kugel liess sich eine Menge verrichten.
Eigentlich hätte sie bereits jetzt die Stadt verlassen können. Doch das wäre eine Schande gegenüber ihrem Schaffen gewesen. Welcher Architekt will das von ihm errichtete Gebäude in seiner vollendeten Form nicht sehen?
Sie würde warten, bis der Mond sich über den Westturm erhob und würde erst dann die Gefangenen loslassen, um sicherzugehen, dass sich Gayan in Sicherheit gebracht haben würde.
Anschliessend würde sie eine Weile die Schreie geniessen.
Die Wächter an den Toren würden zum Schloss eilen und es würde kein Problem mehr sein, die Mauern zu verlassen.

Liana trat in ihre dunkle Hütte und schloss die Tür hinter sich zu. Sie hatte noch gut eine Stunde Zeit, sich von ihren Souvenirs zu verabschieden.
Und dann würde die Zukunft beginnen.

*

„Was ist das, Gayan?“
„Eine Kugel, die Geheimnisse birgt“, erklärte Gayan dem Wächter, der die ungemütliche Aufgabe hatte, vor dem Tor zum grossen Saal zu stehen, während die anderen drinnen bereits laut feierten.
„Ist das nicht die der Wahrsagerin?“
„Ja. Es ist ein Geschenk, ich muss es überbringen.“
„Wieso schenkt sie ihre Kugel?“
„Sie schenkt nicht ihre Kugel. Doch anstatt wie üblich etwas für die Zukunft zu verlangen, bietet sie sie uns umsonst an.“
„Das heisst, jeder darf heute einen Blick hineinwerfen?“
„So ist es.“

Gayan trat in den Saal. Ein Hauch von saurem Schweiss und Wein schwebte ihm entgegen. Er vermischte sich mit dem angenehmen Duft verschiedenster Fleischgerichte.
Nach Fleisch würde es auch später noch riechen. Allerdings nach einer ganz anderen Sorten.
Ahnte überhaupt jemand der Festenden, dass dies für sie das letzte Mahl war?
Wahrscheinlich nicht, denn sonst würden sie entweder noch viel mehr oder gar nichts trinken.

Gayan trat zum König, verneigte sich und erklärte ihm das Geschenk der Wahrsagerin. Dieser war begeistert und ordnete zwei Dienern an, die Kugel auf einen kleinen Glastisch neben ein Schachbrett zu stellen und im ganzen Saal den Gästen zu verkünden, auf was jeder von ihnen zur späteren Stunde das Recht haben würde – einem Einblick in die Zukunft.
Dann setzte sich Gayan an seinen Platz, zwei Tische von dem des Königs und dessen Nächsten entfernt.
Er zwang sich nicht allzu oft zur Kugel zu schielen, um zu sehen, ob sich bereits etwas bewegte. Wie ihm Liana versichert hatte, würde er noch eine halbe Stunde Zeit haben, um am Mahl teilzunehmen und dann würde er sich, unter dem Vorwand einen Routinekontrolle bei der Schatzkammer durchzuführen, aus der Gefahrenzone schleichen. Und wie sie ihm ebenfalls versichert hatte, würden die Schreie selbst bis zur Schatzkammer noch in ihrer vollen Stärke zu hören sein.

Doch es waren keine fünf Minuten vergangen, als Nis aufstand. Der Königsgardist gab sich keine Mühe, seinen Zorn zu verbergen und zog sein Schwert aus der Scheide. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit eilte er zum Glastisch. Dort wandte er sich noch einmal um und brüllte in den Saal:
„Diese verdammte Kugel bringt Unheil. Was glaubt ihr weshalb sie uns die Hexe hat bringen lassen!? Gayan, warst du etwa naiv, oder hat sie dich unter Drogen gesetzt?“
Dann fuhr sein Schwert hinab und schlug in die Kugel ein. Diese aber entglitt der Klinge und sprang über den Teller. Sie rollte über das Glas des Tisches und fiel auf den Boden.
„Nein! Nis, die ist wertvoll!“, schrie Gayan.
„Was zum Teufel fällt dir ein!?“, fuhr der König seinen Gardisten an.
Doch Nis dachte nicht daran, auch nur einen Teil seiner zerstörerischen Wut abzulegen.
„Vielleicht rette ich uns allen das Leben“, antwortete er. Sein Ziel rollte einige Zentimeter über den Boden und er stürzte sich darauf. Er hob es hinter seinen Kopf und schmetterte die Kugel zu Boden. Dann hielt er sie mit der linken Hand fest und hagelte mit dem Schwert auf das Kristall nieder. Dieser widerstand der Wucht des Angriffs und gab nur an wenigen, durch dünne Risse markierten Stellen nach.
Erneut hob Nis die Kugel auf und wollte sie mit gesteigerter Kraft gegen den kalten Stein des Bodens werfen, als ihm die Kugel von einem Wächter entrissen wurde und er selbst festgehalten wurde.

„Nis, beruhige dich endlich!“, herrschte ihn der König an.
Doch der König war ihm egal. Die Kugel musste zerstört werden. Er wollte seine Fäuste befreien und das Unheil aus den unwissenden Händen schlagen, doch der Griff hinter seinem Rücken verfestigte sich und die Qual pulsierte in seinen Schultern, schien an die Oberfläche springen zu wollen, während seine Oberarmknochen versuchten, die Fesseln der Gelenke zu überwinden. Dann wurde er rückwärts vom Glastisch weggezerrt, während die Kristallkugel in den Teller gestellt wurde.
Es gelang ihm gerade noch seinen Fuss am Tischbein festzuhaken. Mit einer verzweifelten Bewegung, hob er ihn auf und warf den Glastisch um.

Die Kugel krachte auf den Boden, einzelne Kristallsplitter flogen zusammen mit Glasscherben durch die Luft. Gayan, der seinen Platz verlassen hatte und keine drei Meter vor dem umgekippten Tisch stand, sah noch, wie sich ein Riss im Kristall öffnete und kleine Gestalten hinauszusteigen begannen. Dann aber entglitt der Kugel ein unheilverkündender, rötlicher Nebel, der erst die in die Luft ragenden Beine des Glastisches umhüllte und sich dann weiter durch den Raum verteilte.
Doch der kurze Einblick hatte genügt, Gayan zu einer fürchterlichen Erkenntnis zu zwingen: Das zweite Abendmahl – das allerletzte – begann und er war nicht nur dabei sondern gleich in der ersten Reihe.

Er erteilte seinen Füssen den Befehl, so schnell zu laufen, wie sie konnten. Doch diese hatten bereits Wurzeln der Faszination geschlagen und zwangen Gayan, in den Nebel zu starren.
Das Rot umhüllte nun auch die beiden Wächter, die Nis festgehalten hatten.
Dann bewegten sich plötzlich ein Dutzend weitere, extrem dünne Silhouetten durch den Nebel. Sie eilten auf die drei Wächter und Nis zu.
Die ersten Schreie zerrissen die Luft.
Eine der Silhouetten bückte sich. Sie hob die Kugel auf und trat einen Schritt auf Gayan zu, wobei sie für einen Moment den Nebel trennte und ein Gesicht offenbarte, das kein Gesicht mehr war, sondern in jedem kleinsten Winkel nach furchtbaren Qualen aussah, die darauf warteten, weitergegeben zu werden. Das Fehlen des Fleisches hinderte den weit aufgerissenen Mund nicht daran, Zähne zu tragen und ein Gebrüll auszuhauchen, dessen Geruch sich der Wächter nur viel zu gut vorstellen konnte.
Bevor die Gestalt wieder vom Nebel eingeholt wurde, schmetterte sie die Kugel in Gayans Richtung.
Hinter seinem Rücken barst das Kristall endgültig. Er spürte wie etwas aus den Scherben stieg und sich ihm näherte.
Der rote Nebel umzingelte ihn, um ihn anschliessend zu schlucken. Verschwommen nahm er wahr, wie überall im Saal Leute ihren Platz verliessen und schreiend zu laufen begannen.
Er konnte die Panik dieser Menschen sehr gut nachvollziehen, denn auch er verspürte sie:
Sie wurden von Wesen gejagt, die gerade deshalb so scheusslich aussahen, weil sie einmal Menschen gewesen waren.
Die Furcht um sein höchstes Gut riss Gayans Füsse aus dem Boden. Er stürzte blind nach vorne, in der Hoffnung, dem Nebel und dem, was dieser beherbergte zu entkommen, doch anstatt zu entkommen drang er tiefer in ihn ein. In den roten Schwaden schwebte der Atem der Hölle. So zumindest kam es Gayan vor, als er das verfaulte Fleisch roch und zugleich wusste, dass es nicht nur verfaultes Fleisch war, sondern ein ganzer, in Dekadenz befindlicher Körper, der fast alles an Leben ausgegeben hatte, um neues Leben erjagen zu können.
Er war keine drei Schritte weit gerannt, als er über eine weiche Masse stolperte und fiel. Sogleich wollte er aufstehen. Jemand half ihm dabei und riss ihn auf die Füsse. Dann wurde er mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem Nebel in eine kleine Lichtung mit zwei umgekippten Stühlen getragen. Er drehte sich um, wollte sehen wer sein Helfer war.

Gayan erkannte sofort, wen er vor sich hatte. Das Augenpaar konnte nur Ame gehören.
Doch er bezweifelte, dass sein ehemaliger Kollege ihn erkannte. Denn wenn auch die Augen immer noch die gleichen waren, so hatte sich der Blick doch wesentlich verändert. Ungefähr genauso verheerend wie der Körper.


Eine Frage hätte der König gerne beantwortet gehabt, nicht sofort, aber zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es einen solchen geben sollte.
Hatte Nis mit der Zerstörung der Kugel das Unheil heraufbeschworen, oder war es tatsächlich die Hexe, die für alles verantwortlich war?
Der Spruch „Ich bin der König!“ schien auf den ausgehungerten Körper überhaupt keinen Eindruck zu machen. Die schreckliche Gestalt näherte sich ihm weiter und der König war gezwungen Schritt für Schritt zurückzuweichen.
Der grässliche Mund war eifrig damit beschäftigt, den Rest einer Hand zu zermalmen und zu schlucken. Vielleicht war dies ein letztes Geschenk, einige Sekunden Zeit über alles nachzudenken und sich mental auf das Schachmatt vorzubereiten.
Doch die Ironie des Schicksals wollte es scheinbar so, dass man die letzte Zeit des Lebens damit verbrauchte, dumme Fragen zu stellen:
Wieso hatte er nur so ein Déjà-vu Gefühl, wenn er die Fratze vor sich betrachtete?
Wie nur schaffte es dieses Übel, Körper um Körper zu verzehren, ohne auch nur annähernd seinen Hunger zu stillen?
Woher kam der Hass mit dem ihn diese Augen ansahen?
Was zum Teufel hatte es zu bedeuten, dass die schreckliche Gestalt plötzlich von ihm abliess und in eine andere Richtung weiterlief?
War es als doch noch nicht das Ende?
Und:
Wem gehörten diese dünnen, krallenähnlichen Finger, die sich in seine Schulter bohrten?


Es war schwierig, sie auf Distanz zu halten und es war noch schwieriger, gleichzeitig zur Türe zu gelangen.
Chaon hatte beides geschafft. Das Schwert zitterte in seinen Händen und er beobachtete den Nebel, der einen unregelmässigen Halbkreis um ihn und die Türe zeichnete. Aus diesem Nebel drangen die fürchterlichsten Schreie, die er je gehört hatte.
Er drückte die Klinke nach unten und zog die Türe langsam auf, ohne die Bewegungen im Nebel aus den Augen zu verlieren.
Mit ungeheurer Geschwindigkeit näherte sich ihm ein Schrei und stürzte auf ihn zu. Sogleich hob Chaon sein Schwert vor sich hin und hätte beinahe einen ersten Bürger erstochen, der beider Unterarme beraubt versuchte durch die Türe zu fliehen. Der Mann stolperte über die Schwelle. Hinter der Türe glaubte Chaon zu hören, wie er wieder aufstand und weiterschrie, doch sein Blick hatte den Fliehenden längst vergessen und stattdessen den Grund zur Flucht entdeckt.
Und dieser ihn.
Im Gegensatz zu den anderen höllischen Gestalten, hatte der sich mit einem langen Schwert ausgerüstet und stürmte unverzüglich auf Chaon zu.
Dem ersten Schlag konnte er mit seinem eigenen Schwert begegnen, der zweite, unverzüglich folgende, schlug ihm die Waffe aus der Hand und nach dem dritten fiel er schreiend zu Boden und hielt seine linke Hand schützend vor sich hin.
Darauf wurde sie abgebissen.

*

Das war vielleicht ein Fest! So schön hätte er sich die Befreiung gar nicht erträumt. Und es war verwunderlich, dass die Menschen nicht schon vor ihm erkannt hatten, wie gut ihr eigenes Fleisch war.
Vor allem wenn man gleichzeitig noch alle Qual zurückzahlen konnte, die man erlitten hatte.
Vielfältig war sie auch, die Nahrung. Am besten waren die Muskeln, die vor Angst schon vor dem Tod etwas erstarrten. Dann waren sie schön zäh und bekamen manchmal sogar einen leicht sauren Geschmack. Nicht schlecht war allerdings auch eine schön knackige Hand oder die weiche, speichelbedeckte Zunge.
Bei solch guten Speisen konnte einem der Hunger gar nicht erst vergehen.
Doch die allergrösste Köstlichkeit waren immer noch die Augen! Sie verschmolzen so zärtlich im Mund und wenn man sich vorstellte mit ihnen noch den panischen Blick zu schlucken, so gluckste man vor Zufriedenheit.
Und genau das war der Grund, weshalb Ame nun den Saal verlassen hatte: Er hatte seine Portion nicht bekommen und war wütend. Als er einen der Gäste verzehrt hatte und sich die Augen als Dessert hatte aufbewahren wollen, war Lea gekommen und hatte sie ihm genommen. Und nun hatte er schon lange den Saal auf der Suche nach einem Ersatz durchkämmt – erfolglos.

Doch er wusste um die allerbesten Augen, die es in der ganzen Stadt gab! Er würde zur Wahrsagerin gehen, ihr ihren verfluchten Blick rauben und alles nochmals zurückzahlen, was er bereits im Saal zurückgezahlt hatte – denn schliesslich war auch sie für sein Leid verantwortlich.
Solche kräftigen Augen hatte niemand anderes. Er würde sie verspeisen und anschliessend für immer glücklich sein. Und Lea, diese Nutte, könnte ihn mal.
Seine Füsse trugen ihn von alleine über die Hauptstrasse durch die zwei Gassen, auf dem Weg zur Zukunft den er bereits einmal gegangen war. Seine getrübte Sicht verlieh ihm das Gefühl, stets einen blutroten Dampf mit sich zu schleppen.
Dennoch fand er die Hütte ohne Mühe. Die Türe stand offen und als er eintrat, sah er gleich den kleinen Tisch auf dem die Hexe eine Kerze angezündet hatte. Sie sass auf einem der beiden Stühle, als hätte sie Ame erwartet und starrte ihn an.
Es war schwierig ihren Blick zu deuten; er hätte sowohl Entsetzen, als auch Selbstkontrolle ausdrücken können.
Ohne zu zögern, trat er auf sie zu. Er warf den Tisch beiseite und packte sie am Unterkiefer. Die Finger der freien Hand grub er ihr in die Augenhöhle und holte sich eine der Köstlichkeiten. Und dann noch die andere.
Der Rest des Körpers interessierte ihn nicht. Er verliess die Hütte und genoss den Geschmack der beiden Kugeln in seinem Mund. Und tatsächlich, es waren vielmehr Kugeln, als etwas anderes. Sie hatten nicht so viel Gout wie erwartet, waren dafür härter, wie Glas. Und als er sie zerbiss, knackten sie und zerfielen in scherbenartige Bruchstücke.
Aber wirklich verwunderlich war es nicht, schliesslich hatte die Hexe ja einen härteren Blick gehabt, als die anderen. Um der Wucht eines solchen Blickes widerstehen zu können, mussten die Augen selbst kräftig sein.

Ame biss noch einmal in das Glas und schluckte dann. Ein Lächeln huschte über sein übel zugerichtetes Gesicht. Er hatte genügend Qual weitergegeben und sich satt gegessen. Auf die Dauer würde sein Körper das Leben ohnehin nicht mehr tragen können. Er hatte zu viele Schmerzen erlitten, da half selbst die beste Nahrung mit der Zeit nicht mehr. Nun konnte er sich zurück auf den Weg ins Schloss machen und dort seine letzten Stunden verbringen und seinem Leib bei der endgültigen Zersetzung zusehen, solange es ihm seine Augen noch ermöglichten.

*

Silyo kratzte sich verkrustetes Blut von der rechten Augenbraue und versuchte den Schmerz in seiner linken Schulter zu ignorieren. Er und Mete standen Wache am Tor und nur wenn das königliche Fest in Gefahr war, mussten sie zum Schloss und in den Saal eilen. Sonst hatten sie hier zu stehen und sich zu langweilen. Von den Feierlichkeiten hatte man sie ausschliessen wollen.
Als sie die Schreie gehört hatten, hatten Silyo und Mete keine Sekunde daran gedacht, irgendjemandem zu Hilfe zu eilen, was auch immer im Saal vor sich gehen mochte.
Sie hatten lediglich gehofft, dass es Chaon und Scheff waren, die um ihr Leben schrien. Das hätten sie verdient, fand Silyo.
Wieso zum Teufel wurden sie bestraft, nur weil sie sich ein bisschen an einer zweiten Bürgerin vergriffen hatten, während andere, die ihre Kollegen fast bewusstlos schlugen, ungesühnt davonkamen?
Manchmal war der Gerechtigkeitssinn des Königs gar nichts wert. Doch das Jahr war fruchtbar, was die Gewalt und den Hass anging und irgendwann würden Chaon und Scheff die Schläge doppelt ernten, die sie gesät hatten, und alles bereuen.
Das Wachestehen war zudem gar nicht so übel, wenn man zuvor noch zwei Flaschen Wein entwendet hatte. Und wenn am Fest tatsächlich fürchterliche Dinge geschehen waren, so konnte ihnen das egal sein, oder?
Silyo dachte über die Desertation nach, die er mit Mete geplant hatte. Sie würden ihre Waffen behalten und ein schönes Leben ohne Könige und Gesetze führen.

Mete hatte die zweite Weinflasche geleert, als er mit dem Finger in die gepflasterte Nebenstrasse zeigte und zu Silyo hinüberflüsterte: „Dort hinten kommt jemand!“
„Das ist eine Frau!“, erkannte Silyo.
„Sieht sie wenigstens gut aus?“
„Sieht so aus... und ich glaube, ich weiss wer sie ist...“
„Liana, die Wahrsagerin? Seh ich das richtig?“, fragte Mete.
„Ja. Und sie kommt zu uns ans Tor!“
„Wenn sie zu uns kommt, dann gehört sie uns.“
Der Blick und das Grinsen, welche Silyo seinem Freund für diese Worte schenkte, sagten alles. Wenigstens einer, der gleich dachte wie er und der die gleichen Lüste kannte.

„Liana! Komm mal hierher!“
Die elegante, in schwarz gekleidete Gestalt zuckte zusammen und zwang sich ein Lächeln auf.
„Ich verlasse die Stadt für ein paar Tage“, erklärte sie den Wächtern mehr oder weniger gelassen.
„Du kennst die Gesetze, du kennst die Zeiten, wir müssen dich durchsuchen. Komm näher!“, befahl Silyo. Seine Augen leuchteten und der Alkohol verlieh ihm zusätzliche Entschlossenheit.

Liana trat zu den beiden Wächtern heran. Konnten diese Idioten sie nicht einfach durchlassen? Und vor allem: Warum waren sie noch am Tor, wenn sie doch mit Sicherheit die Schreie gehört hatten?
„Was hast du in dieser Tasche?“, wollte der eine Wächter wissen.
„Nichts Wichtiges, alles was ich für meine Reise brauche, ein paar Wertsachen...“
„Mete, sieh nach!“
Silyo trat einen Schritt näher auf Liana zu, sodass er sie beinahe berührte.
„Vielleicht hast du in der Tasche nichts Wichtiges, aber ich bin überzeugt dass du sonst sehr wichtige Sachen bei dir hast! Und Mete und ich, wir sind gründlich, wir durchsuchen alles!“, flüsterte Silyo und grinste wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal absichtlich mit einer Steinschleuder ein Fenster eingeschlagen hat. Die Erregung allerdings, die er dabei verspürte – und die sich in seiner Hose zu manifestieren begann – war alles andere als die eines kleinen Jungen.
Liana wollte zurückweichen, doch der Wächter hielt sie am Kleid fest und zog sie näher zu sich. Dann ergriff er ihre Brüste und knetete sie ungeniert. Sein Tun begründete er mit den Worten: „Frauen haben viele Orte, wo sie Dinge verbergen könnten.“

Liana versuchte das Vibrieren ihrer Augen unter Kontrolle zu bringen. Es hätte ihr ohnehin nicht weitergeholfen. Was auch immer diese Wächter mit ihr zu machen gedachten, sie war ihnen wehrlos ausgeliefert und würde warten müssen, bis es vorbei war.
Wären diese Wächter nüchtern gewesen, hätte sie die beiden mühelos hypnotisieren können, doch der Alkohol verunmöglichte dies, weil er zu sehr auf die Sinne einwirkte.

Silyo tauchte gerade seine Hand in Lianas Hose, als Mete ausrief: „Der ganze Sack ist ja voller Edelsteine! Die sind sicher vom Schlossschatz!“
„Die habe ich geschenkt erhalten“, versuchte Liana zu erklären und zog dabei Silyos Hand aus ihrer Hose.
„Nein, ich kenne diese Wertsteine, die waren vorgestern noch in der Kammer und so ein grosses Geschenk macht der König niemandem! Du hast sie entwendet.“
„Es ist mein Hab und Gut und es geht euch überhaupt nichts an, woher ich es habe. Gebt mir meine Tasche und lasst mich sofort los, sonst passiert etwas!“
Doch die beiden Wächter wollten sich nicht durch Worte beeindrucken lassen. Mete trat zu Silyo und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Silyo nickte und hielt Lianas Arme fest. Mete ergriff die Tasche mit den Edelsteinen und trat hinter die Wahrsagerin. Von dort aus lächelte er seinem Kollegen zu.
Ihr Opfer sass in der Falle, Fluchtmöglichkeiten gab es kaum.
„Weisst du, Liana, eigentlich müssten wir dich der Gerechtigkeit ausliefern.“
Sie sah Silyo an und versuchte ihn mit ihrem Blick zu erwürgen – für die Ironie in seiner Stimme, die sofort verriet, was er vorhatte.
„Aber wir sind nicht so, Liana“, bei diesen Worten strich er ihr wieder über die Brüste, „Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger als dich für unser Schweigen. Wir haben dich bei frischer Tat ertappt, es wäre sinnlos, dich jetzt noch wehren zu wollen. Am besten du geniesst es wie wir.“
So sehr es in Lianas Interesse stand, möglichst schnell die Mauern zu verlassen, so sehr verabscheute sie diese beiden Männer, die sie aufhalten und erpressen wollten. Wenn sie und ihr Körper ihnen schon hilflos ausgeliefert waren, so würde sie wenigstens zuvor noch die Stimme des einen um zwei Oktaven in die Höhe schiessen.
Sie holte mit dem rechten Bein aus und trat Silyo so heftig sie konnte zwischen die Beine. Dieser schrie vor Überraschung auf, allerdings für Lianas Geschmack viel zu wenig vor Schmerz. Mete zog sie nach hinten und umklammerte sie, dass ihr fast die Luft wegblieb. Für einen kurzen Moment hielt Silyo seinen Oberschenkel mit beiden Händen fest.
Sie hatte ihr Ziel verfehlt.
„Hier hat Chaon schon zugeschlagen!“, fluchte er.
Dann aber ballte er seine Hand und schleuderte sie in Lianas Gesicht.
„Du kommst jetzt schön brav in die Wachhütte mit!“, erklärte er ihr wütend. Mete begann, sie mit sich zu ziehen.


Erst etwa eine halbe Stunde später öffnete sich die Türe der Wachhütte wieder. Mete trat als erster an die freie Luft und vergewisserte sich, dass sie alleine waren.
In der linken Hand hielt er die mit Edelsteinen und Gold gefüllte Tasche. Er fuhr mit der rechten Hand hinein und zog sie gefüllt wieder heraus. Er küsste die Steine und blickte zu Silyo, der nun neben ihm stand.
„Keine schlechte Beute für den Anfang...“, flüsterte er seinem Kumpanen zu.
„Wieso hätten wir die Hexe auch gehen lassen sollen, wo sie doch vollkommen in unserer Gewalt war?“
„Gute Frage. Vor allem hätte sie noch ihren Mund aufreissen können, hat sich uns ja nicht gerade freiwillig hingegeben“, antwortete Mete, dann fiel ihm ein, was er seinen Freund schon lange hatte fragen wollen:
„Wann hast du zum ersten Mal eine Frau zur Lust gezwungen?“
„Vor drei Jahren. Damals hatte ich das gleiche seltsame Gefühl zwischen Erleichterung, Freude und Schuld, wie jetzt. Aber ich denke ich werde es überwinden und mich für unser zukünftiges Leben daran gewöhnen.“
Mete sah auf den Boden. Vor seinem inneren Auge vermischte er Erleichterung, Freude und Schuldgefühl zu einem Brei, der alle seine Glieder erfüllte.
„Wie hiess sie?“
„Lea. War Tochter eines Goldschmieds, glaube ich. Ich fühlte mich so mies, aber es war dennoch so schön, dass ich keinen Moment daran zweifelte, es nochmals zu tun.“
„Und jetzt war es wieder das erste Mal für dich?“, wollte Mete wissen.
„Ja. Zuvor habe ich noch nie jemanden umgebracht.“
Jetzt sah auch Silyo auf den Boden und vermischte einen Brei.
Mete wartete eine Weile, um Silyo ausschweigen zu lassen.
„Komm, gehen wir jetzt in die Stadt. Hier haben wir nichts mehr verloren!“
Stumm öffneten sie die Tore und verliessen das Königsquartier.

*

Als Ame in den Saal trat, war von seinen ehemaligen Mitgefangenen ebensowenig zu sehen wie von seinem einstigen Heisshunger. Er hatte ihn gestillt und war zufrieden mit sich. Sein Unter- und sein Oberkiefer versuchten ein Lächeln zu formen, doch ihnen fehlte die Anatomie, fröhlich zu wirken. Eine Wange hatte sich geöffnet und einen zweiten Mund geformt. Aus dem aufgeplatzten Bauch hing halbverdaute Nahrung. Er lehnte sich an die Wand und beobachtete fasziniert sein eigenes, körperliches Ende. Er fragte sich, ob er nach all dem, was er getan hatte, noch in den Himmel kommen konnte.
Wahrscheinlich schon. Schliesslich hatte er nicht mehr getan, als die Schuld zu bestrafen. Er war einer von fünfundzwanzig Todesengeln gewesen, die eine andere Gerechtigkeit gebracht hatten.
Und selbst diese andere Gerechtigkeit hatte er schlussendlich richten müssen.
Im Grunde genommen, war er sogar prädestiniert, in den Himmel zu kommen, doch wie würde dieser Himmel aussehen?
Mal sicher nicht wie eine Kugel. Eine Kugel, das war die Erde...

Das Schwert, das plötzlich vor ihm etwas in die Luft zeichnete, tropfte Blut. Es hatte seinen Dienst absolviert.
Seine Trägerin war allerdings anderer Meinung.

„Lea“, wollte Ame flüstern, doch verwundert stellte er fest, dass es ihm unmöglich war auch nur den kleinsten Laut zu formen. Dann führte er seine linke Hand in den Mund, um nach der Zunge zu suchen. Sie fehlte. Er hatte sie wohl im gierigen Eifer mit anderer Nahrung geschluckt.
Auch Lea begnügte sich damit, ihn für einen kurzen Moment stumm anzusehen.
Ame konnte viel in ihren Augen lesen. Sie erzählten von einer Menge Leid: Solches, das zu ihr gekommen und anderes, das von ihr fortgegangen war.
Wieder fuchtelte Lea mit dem Schwert vor Ames Augen. Und dann plötzlich verstand er ihren Blick: Von den fünfundzwanzig gab es einen Todesengel, der mit dem Richten noch nicht zu Ende war. Es gab einen, der keine Ruhe finden würde, solange er nicht jemanden gefunden hatte.
Es gab einen, dessen eingestecktes Leid noch nicht mit dem erteilten übereinstimmte.

Als Lea verschwand, nahm sie den rötlichen Nebel mit sich. Ame wurde kurz darauf von seinem Augenlicht im Stich gelassen und es blieb ihm nichts anderes übrig, als während der Zeit, die er noch wach war, den Geräuschen zu lauschen, die sein Körper und dessen Ende erzeugten.

 

Hi Vanamour, schön dich mal hier in Fantasy zu lesen (obwohl ich das vielleicht noch bereuen werde, das geschrieben zu haben? (Ich lese die Geschichte jetzt...))

Igitt! Aber wie angedroht, wird deine Geschichte jetzt zerpfriemelt.

Bei ihm angekommen, hatten sie die Grösse, ihn zu umfangen und in unsichtbare Tücher zu wickeln, damit er eine andere Dimension zu sehen bekam.
Ich weiß nicht, ob das Komma hinter "angekommen" da korrekt ist.

Wie in Trance hob der Wächter die linke Hand auf und versuchte seine Augen vor dem scharfen Blick zu schützen.
Die liegt bestimmt (noch) nicht auf dem Boden!

Diese Kammer war düster, und das Schloss in die Freiheit liess sich nicht mit fünf Fingern aufsprengen.
Würde hier ob des besseren Leseflusses ein Komma einfügen.

Er tastete mit der anderen Hand zu seiner Hose und versuchte, den Dienstdolch aus der Scheide zu ziehen.
Infinitive mit "zu" werden durch Kommata abgetrennt

Obwohl ihm nicht viel mehr Kraft als einem Schlafenden zur Verfügung stand, gelang ihm dies.
gelang ihm dies klingt hier ziemlich geschraubt. Wie wäre es mit "Er schaffte es, obwohl..."?

Die geschlossenen Ohren missachtend, hauchte die kalte Stimme ihre Worte durch die Kopfhaut.
Wie stelle ich mir geschlossene Ohren vor?

Dort drangen sie zwischen die grauen Zellen, wo sie nach einer Jagd durch verschiedene Bereiche des Hirns, endlich einen Teil fanden, der bereit war, sie aufzunehmen.
Komma vor endlich weg

Hatte sie vielleicht recht?
Ich bin der Meinung, Recht müsste hier groß geschrieben werden.

Das hatte sie meistens, die Stimme, die nicht zwischen den dünnen Lippen hervorzuquellen schien, sondern ihren Ursprung in der allumfassenden Dunkelheit hatte und zu ihm ins Licht und ins Fleisch gedrungen war.
hervorzuquellen schien...? Sie kommt offenbar aus der Dunkelheit, da kannst du dir das "schien" sparen.

Sie wusste Bescheid über das, was einmal sein würde und vielleicht sogar über das, was einmal sein könnte.
Den hast du aus dem Herrn der Ringe geklaut, oder? *g

Er mobilisierte alle Kraft, die in jeden auch nur so kleinen Muskeln gespeichert war.
"Jedem auch noch so kleinen Muskel" klingt hier mMn besser.

Verzweifelt trat er in das Tischbein.
In könntest du hier durch gegen ersetzen... in das Tischbein treten klingt so, als ginge er hinein.

Die Glaskugel schaukelte einen Moment und ihre Bilder zogen sich ins Innere zurück.
Warum ersetzt du das und nicht durch ein , oder setzt es davor? Ich mache das eigentlich fast immer, das unterstützt den Lesefluss, gerade beim lauten Lesen.

Er versuchte, den Dolch zu erheben.
Ich glaube, ein Komma

Zwar brachte er weniger Kraft auf, als beim ersten Mal, doch die Kugel schaukelte im Teller wie ein verlorenes Schiff im tobenden Meer.
Komma vor als kommt weg. Warum ist der zweite Teil des Satzes konzessiv? Wenn du noch ein "nur" einfügst, passt es wieder.

Das ist kein Problem, den Dolch hab jetzt ohnehin ich.
Verschliffene Vokale solltest du durch ein Apostroph kennzeichnen, wirkt nicht so nach Tippfehler

Das jemand mich töten will, weil er die Zukunft gesehen hat, ist nicht neu.
Der Mittelteil des Satzes ist ausgeklammert

Was glaubst du, wie viele dieser Puppen sind schon draufgegangen?“

„Drei vielleicht. Was meine anbelangt, ich habe gesagt, es täte mir Leid.“
Der Konjunktiv wirkt, als bezichtige er sich selbst der Lüge. "Ich habe gesagt, dass es mir Leid tut", ist hier viel stärker. Oder war das beabsichtigt?

Je nach dem, wie weit er in die Kugel hinein sah, veränderten sich die Farben wieder, sodass bei heftigem Hin- und Herblicken eine regenbogenähnliche Farbkonstruktion die ganze Kugel schmückte.
Bei dem Hin- und Herblicken, groß

Doch weder vom Regenten, noch von dessen Ende hatte er bisher etwas zu sehen bekommen.
Ich bin der Meinung, das Komma ist hier fehl am Platze.

Sie lächelte und hob ihre blassen Hände über den Tisch. Dort berührte sie eine imaginäre Kugel, die viel grösser war als die wirkliche und jene umschloss.
Den Satz musste ich zwei Mal lesen, bevor ich ihn verstanden habe, vielleicht formulierst du ihn um?

Es schien, als nähme sie Kontakt mit der Kristallkugel auf.

Bei all dem Schmerz, den er in der Kugel sah – ja, beinahe spürte – begriff er noch immer nicht, was dort vor sich ging.
Ja als Füllwort wird abgetrennt

Obwohl sich Lianas Lippen nun bewegten, schienen die Worte noch immer nicht aus ihrem Mund zu strömen. Wie zuvor entsprang die Stimme dem ganzen Raum mit all seinen Wänden, Winkeln und im Dunkeln verborgenen Möbeln.
Das schienen hier stört mich wieder.

Doch seine Muskeln waren nicht imstande, den Befehlen seines Willens zu folgen.

Durch das Fehlen des Kerzenlichts näherte sich die Kugel um ein gutes weiteres Stück der angestrebten Erscheinung.
gutes weiteres ist hier doppelt

„Nur wenn du wirklich bereit bist, kann sich die Zukunft offenbaren.“ Lianas Pupillen vibrierten heftig. Ihre Hände bebten und zogen sich etwas von der imaginären Kugel zurück, als hätte sie angefangen zu brennen.
„Wenn du das bist, dann lege deine Hände auf die Kristallkugel!“, ordnete Liana an.
Um klar zu machen, dass sie hier immer noch spricht, spar dir einfach den Absatz

Die Vorstellung, dieses absonderliche Rot der Kugel zu berühren erfüllte Ame mit äussersten Unbehagen.

Er wusste wieder, woher ihm die nun komplette Erscheinung der Kugel bekannt vor kam.

Er stand auf und betrachtete fasziniert die Hallen und Sehnen aus blutigem Kristall, die ihn umgaben.
Das mit den Hallen und Sehnen klingt hier komisch. Vorschlag: Säulen

Gut möglich, er irrte mehr umher als seine Mitgefangenen, weil er noch mehr Kräfte hatte und nicht wusste, dass Fliehen sinnlos war.

Im Grunde genommen widerspiegelt die Kugel nur, was in ihr geschieht.

„Das Verschwinden der drei Wächter schon, aber diejenigen aus der Stadt kaum.“
... vermisst niemand, oder so.

Schon bald erfolgte Ames erste nähere Begegnung mit einer der anderen Gestalten:
Lea, die Tochter des grossen Goldschmiedes Louh.
Würde ich den Absatz einsparen

Selbst nach der Heirat mit einer anderen Frau des ersten Bürgertums, hatte er öfters Louhs Juweliergeschäfte besucht.
Komma weg

Aber er war nicht der Einzige:

Für Lea war er zwar nie mehr als ein guter Freund gewesen, doch hätte sie ihm je die Möglichkeit dazu gegeben, hätte er sie sofort auch mehr als nur hinter dem Gitter seiner Phantasie geliebt.
mehr geliebt...? Geht das? Vielleicht "außerhalb seiner Phantasie" oder so? Ich meine, er liebt sie ja, er zeigt es nur nciht...

Sie war der einzige Traum in seinem Leben gewesen, der weder verloren, noch in Erfüllung gegangen war.
Komma vor noch weg

Sie hatte sich viel zu optimal der Umgebung angepasst, und wenn sie noch irgendetwas von einem Traum hatte, dann ganz gewiss von einem schrecklichen Alptraum.

Die einst prachtvollen Brüste hingen ihrer Substanz beraubt, willenlos wohin die Schwerkraft sie gerade zwang[trike]en[/strike] und von dem bezaubernden Lächeln war nicht die geringste Spur zu sehen.
Iiiih!

Die Augen hätten vielleicht noch annähernd schön sein können, doch der gierige und hungrige Blick, der hinter dem Hass flackerte, verderbte zusammen mit dem an den Lidern haftenden Blut diese letzte Schönheit.
verdarben

Wo mal schöne Rundungen gewesen waren, fehlte das Fleisch und die Haut kämpfte gegen die Knochen, welche versuchten, sie zu durchdringen.
mal ist immer so umgangssprachlich. Nimm doch "einmal".

Er wollte sich mit beiden Händen an den Kopf greifen, wie um eine verlorene Konzentration wiederzuerlangen, doch seine Hände gruben sich durch den Schädel in sein Hirn, wo sie einander flüchtig begegneten, um dann auf der anderen Seite wieder unberührt aus dem Kopf zu treten.
Das stell ich mir cool vor :)

Halb bewusstlos, liess Ame die Zeit vergehen und die Qualen ihn quälen.
Komma weg. Wortdopplung: Qualen-quälen

In Gedanken verliess er die Kugel und machte Dinge, an die er selbst nur mit höchstem Unbehagen zu denken wagte. Doch er entschuldigte sich damit, dass die Zukunft nun mal schrecklich war.
machte Dinge? Klingt ein wenig unbeholfen, das kannst du besser!

Und immer wenn seine Gedanken zurückkehrten, leckte er Blut von den Pfützen am Boden, um wenigstens nicht zu verdursten und um Kraft zu tanken, für die Aufgabe, die ihn erwartete.
Das Komma nach Tanken kannst du nach immer tun, da passt es besser

Liana stellte ihre mit neuen Augen versetzte Puppe auf das kleine Bett.
Mit Augen versetzt...? Komische Formulierung

Wahrsagerei an sich war nun mal kein ertragreicher Job, da musste man sich schon etwas Besonderes einfallen lassen. Mit dem Schatz würde sie ihr Leben lang ohne Arbeit zurechtkommen, egal wie lang ihr Leben zu werden drohte.
Doch würde ein Leben ohne Arbeit nicht langweilig sein?

Das war der perfekte Zeitvertreib für vor dem grossen Fest.
für würde ich streichen

Zwei Minuten vor dem mit Gayan abgemachten Treffen, schreckte sie zusammen und liess ihre Karten fallen.
Komma kann weg

Chaons Füsse verrieten mit ihrem unentschlossenen Hin- und Hertreten seine Nervosität.

Nis schaffte es, so viel Hass in seinen Gesichtsausdruck zu stopfen, dass vom leisen Grinsen kaum mehr etwas zu sehen war.

Nicht alles was mit Magie zu tun hat, ist böse.

Dann versuchte er, Nis zu beruhigen.

„Dass ich dir nicht wie Nis misstraue, heisst noch lange nicht, dass ich dir traue!“

Die Hauptstrassen waren gesperrt worden, und hätten da nicht gelegentlich Kutschen der ersten Bürgerschaft den kalten Stein mit ihren Rädern erhitzt, so hätte man die teuren Strassen den Ratten überlassen geglaubt.

Solche Massnahmen waren unangenehm, aber in Zeiten wie diesen, wo Menschen aus allen Schichten sich in Luft auflösten, waren sie nötig. Zumindest war der König dieser Meinung.

Dabei benutzte er mindestens ebenso viele Gebärden, wie Worte – ein Anzeichen dafür, dass die Familie nur zweite Bürger waren.
Komma vor wie weg

„Wetten, die sind zweite Bürger!“

Er sass auf seinem purpurnen Sessel vor einem kleinen Glastisch und bewegte gerade den weissen Läufer quer durch das mit diversen Edelsteinen verzierte Brett. Drei Rotweinflaschen standen zwischen den schwarzen und weissen Schachfiguren, die er im Spiel gegen sich selbst herausgeschlagen hatte.

Gern eine Neue, Majestät.“
Hier muss neue klein, es bezieht sich auf ein Unsichtbares Nomen TM, nämlich Schachpartie

Es war eine Ehre, gegen den König zu spielen

Nis' Kollegen hatten in letzter Zeit oft berichtet, dass der König seine eigene Dame aus dem Spiel stellte.

Versuchte der Gegner, diesen unverhältnismässigen Vorteil abzulehnen, so erklärte der Regent, er habe keine Zeit zu diskutieren und keine Lust so zu tun, als hätte er noch eine Frau.
Schön!

Erst nach weiteren zehn Schachzügen – in denen Nis die Qualität und zwei Bauern verlor – hatte er den Herrscher von der Wichtigkeit seiner Anliegen überzeugen können.
Die Qualität?

Oder willst du einfach wissen, wer dich alles hasst?

Nicht etwa, ob er unrecht hatte – was er von der Wahrsagerin hielt, stand fest – sondern wie es ihm gelingen könnte, den König zu überzeugen.

Der Schmerz hatte es tatsächlich hingebracht, sich noch ein letztes Mal zu vervielfachen.
hingebracht hab ich noch nie gelesen, wie wäre es mit "fertiggebracht"?

Sah er so schlimm aus, wie die einstige Schönheit Lea, als er sie hinter ihrem Schatten erspäht hatte?
Komma weg vor wie

Was wenn er nicht so aussah, wie befürchtet?
Gleichfalls

Und das Warten war schön, weil es weh tat und irgendwie war Ame überzeugt, dass alles, was weh tat,sich bald auszahlen würde

Man schicke sie, sobald sie wieder stehen können, ans Tor

Mit ihrem Gold und ihrer Macht würde sie je nach Laune Menschen glücklich machen, oder sie sich unterjochen können.
Komma weg

Sein Ziel rollte einige Zentimeter über den Boden, und er stürzte sich darauf

Es gelang ihm gerade noch, seinen Fuss am Tischbein festzuhaken.

Mit einer verzweifelten Bewegung, hob er ihn auf und warf den Glastisch um
Komma weg

Die Kugel krachte auf den Boden, einzelne Kristallsplitter spickten zusammen mit Glasscherben durch die Luft.
spickten - das assoziiere ich mit einem statischen Zustand, ein Schild, gespickt mit Pfeilen oder so...

Er stürzte blind nach vorne, in der Hoffnung, dem Nebel, und dem, was dieser beherbergte, zu entkommen, doch anstatt zu entkommen drang er tiefer in ihn ein.

So zumindest kam es Gayan vor, als er das verfaulte Fleisch roch und zugleich wusste, dass es nicht nur verfaultes Fleisch war, sondern ein ganzer, in Dekadenz befindlicher Körper, der den letzten Dunst an Leben ausgab, um neues Leben erjagen zu können.

Wie nur schaffte es dieses Übel, Körper um Körper zu verzehren, ohne auch nur annähernd seinen Hunger zu stillen?

Im Gegensatz zu den anderen höllischen Gestalten, hatte die sich mit einem langen Schwert ausgerüstet und stürmte unverzüglich auf Chaon zu.
die Grund zur Flucht?

Dem ersten Schlag konnte er mit seinem eigenen Schwert begegnen, der zweite, unverzüglich folgende, schlug ihm die Waffe aus der Hand und nach dem dritten fiel er schreiend zu Boden, hielt seine linke Hand schützend vor sich hin, die darauf aber abgebissen wurden.
Der letzte Nebensatz sieht total drangeklebt aus, vielleicht formulierst du das irgendwie um?

Nun konnte er sich zurück auf den Weg ins Schloss machen und dort seine letzten Stunden verbringen und seinem Leib bei der endgültigen Zersetzung zuzusehen, solange seine Augen noch sahen.
Wortdopplung von sehen

Silyo kratzte sich verkrustetes Blut vom linken Auge und versuchte den Schmerz in seiner linken Schulter zu ignorieren
Wie kratzt er Blut vom Auge? Darunter stelle ich mir den Augapfel vor

Wieso zum Teufel wurden sie bestraft, nur weil sie sich ein bisschen an einer zweiten Bürgerin vergriffen hatten, während andere, die ihre Kollegen fast bewusstlos schlugen, ungesühnt davonkamen?

Doch das Jahr war fruchtbar, was die Gewalt und den Hass anging und irgendwann würden Chaon und Scheff die Schläge doppelt ernten, die sie gesät hatten, und alles bereuen

„Du kommst jetzt schön brav in die Wachhütte mit!“, erklärte er ihr wütend, und Mete begann, sie mit sich zu zerren.

Als Ame in den Saal trat, war von seinen ehemaligen Mitgefangenen ebensowenig zu sehen, wie von seinem einstigen Heisshunger.
Komma nach sehen weg

So, jetzt zum Rest.

Huh, ich dachte schon, die Geschichte ist gar nicht eklig. Ganz schön naiv von mir, oder?
Ich finde sie gut und anschaulich erzählt, aber du hast meine Vorurteile gegenüber Horror mal wieder bestätigt. Wahrscheinlich habe ich heute Nacht Albträume, und du bist Schuld, Vanamour!

Aber die Geschichte ist auf jeden Fall gut geschrieben, liest sich (bis auf ein paar kleine Holprigkeiten) flüssig und glatt.

Kompliment von
vita

 

Ui, da hat vita sich aber mächtig ins Zeug gelegt!
Nun denn, ich lege nach.

Das leichte Vibrieren der dunklen Pupille wirkte sich lawinenartig aus
Pardon?
Je mehr sich die ausgesandten Wellen Ame näherten, umso imposanter wurden sie
Wer sendet denn da? Eine Pupille? Also ich hab den ersten Absatz mindestens 3mal gelesen, was schon ein heftiger Grund zum Meckern ist, aber schlimmer noch: ich habe ich trotzdem nicht verstanden. Erfreulicherweise ist es für die Geschichte auch nicht nötig, ihn zu 100% zu verstehen; es reicht zu wissen, daß da irgendwer irgendwie in die Zukunft blickt.
Auch den zweiten Absatz habe ich 2mal gelesen, und bin dann zum ersten zurückgekehrt, und siehe da, es begann alles einen Sinn zu ergeben, nach und nach.
Teller aus Silber und Elfenbein
Ein 2-Komponenten-Teller? Wie die Euro-Münzen?
Obwohl ihm nicht viel mehr Kraft als einem Schlafenden zur Verfügung stand, gelang ihm dies
Also beim Schlaf ist wohl nicht die Kraft das Problem...
Weil die Ohren sie nicht hören wollten, hauchte ihm die kalte Stimme ihre Worte direkt durch die Kopfhaut. Dort drangen sie zwischen die grauen Zellen, wo sie nach einer Jagd durch verschiedene Bereiche des Hirns endlich einen Teil fanden, der bereit war, sie aufzunehmen
Höchst surreale Fantasien. Ohren mit eigenem Willen. Aber gottlob ein synaptischer Bypass...
Konnte es wirklich so gefährlich sein? Hatte sie vielleicht recht?
Wer hatte womit recht? Ich hab nix von Gefahr bisher gelesen.
Die Worte wurden lauter
Welche Worte, bitte? Spricht denn da gerade wer?
Musste er nun den Film zu Ende sehen, den er angefangen hatte?
Film? Hm... Ich dachte eigentlich, das spielt in so einer Art Mittelalter. Von wegen Dienstdolch und so.
sein Arm als gehörte er nicht ihm, sondern einem Toten.
Inwiefern fühlt sich der Arm eines Toten anders an als jeder andere Arm, der dir nicht gehört?
Die blasse Hand, die den Dolch ergriff, lieferte ihm den ersten Teil der Erklärung. Die darauf ertönende Stimme den zweiten:
„Ame, das war nicht gut. Ganz und gar nicht.“
Für diese Erklärungen scheine ich zu dumm zu sein.
Der Wächter erstarrte
Schon wieder? Der Ärmste ;)
Puppe mit den Glasaugen
Cool, wie konnte er Glasaugen ausstechen? Noch dazu ohne zu merken, daß es Glasaugen sind?
Den blassen Schrecken
"blass" ist doch eher abschwächend, oder?

Zwischenzusammenfassung: Dieser erste "Sehtest" ist mir zu lang und ausführlich geschrieben und läßt dennoch ein paar Grundinformationen vermissen. Du konzentrierst dich zu sehr auf zitternde Muskeln und durchdrungene Kopfhäute, dabei würde ich gerne was über die Hintergründe wissen und was er denn sieht. Jetzt nicht im Detail, aber schon im ersten Satz nicht einfach nur irgendwelche kalten Augen schreiben, sondern "die Augen von Liana, der Wahrsagerin".

ihrer gläsernen Puppe
Jetzt ist ja schon die ganze Puppe aus Glas...
Die Schale schimmerte gelb
Meinst du den Euro-Teller?
sodass bei heftigem Hin- und Herblicken eine regenbogenähnliche Farbkonstruktion die ganze Kugel schmückte
Bei der Vorstellung, wie er mit dem Kopf herumzuckt, mußte ich schmunzeln.
Ansonsten etwas hölzerner Stil. Farbkonstruktion, ich bitte dich!
Doch weder vom Regenten noch von dessen Ende hatte er bisher etwas zu sehen bekommen
Fehlerchen! Er hat ein paar Zeilen vorher selbst den König zum Thema gemacht.
Da realisierte Ame Lianas Präsenz
Hm. Lange Leitung?
Für jeden Schritt der Befreiung gab es zwei Schritte der Demütigung zurück. Je weiter er nach aussen drang, umso stärker zerrte ihn der Kern der Kugel wieder an seinen Platz.
Wieso holt ihn denn da sein Verfolger nicht ein?
Er würde dieses Miststück foltern! Er würde es dafür bestrafen, seine Liebe nie erwidert zu haben
Hm, hier fühlte ich mich plötzlich an eine meiner Geschichten erinnert. Kannst du dir denken, welch?
Der Tyrann würde bald vom Thron fliegen
Welch ein Ausdruck... :D
Sie zog an zwei Seiten der Spielkarte, damit sich seine Glieder dehnten, kniff in die Karte oder rollte sie zusammen.
Voodoo kann die Frau auch?
„Sie müssen entschuldigen, aber wir müssen wirklich sichergehen, dass ihr keine Waffen bei euch habt. Es ist nicht so, dass ich pervers wäre, aber ich muss es einfach testen.“
Dieses Gelaber zeugt nicht von Routine.
Im übrigen: Du hast so viele unpassende Worte in diesem Text: Scheisse, Nutte, pervers, Drogen - das ist dem altertümlichen Stil des Szenarios nicht angemessen.
und wischte sich mit den 64 weissen und schwarzen Feldern seines Taschentuchs das Blut von der Hand
So ein Schachtuch in Ehren - aber ist es nicht etwas umständlich, sich mit allen 64 Feldern abzuwischen?

Zum Thema Schachspiel: Denk nicht ich wüßte nicht, daß du Turnierspieler bist, hehe.

Zweizimmerhütte
Hehe, die medievale Form der Zweizimmerwohnung, LOL
Ansonsten ist mir der Dialog mit dem König zu lang und zäh, auch wenn er mir im Nachhinein in seiner Gesamtheit gefällt.
Dann führte er seine linke Hand in den Mund, um nach der Zunge zu suchen. Sie fehlte. Er hatte sie wohl im gierigen Eifer mit anderer Nahrung geschluckt
Cool, gefällt mir.

Die Story ist verdammt gut, jedenfalls gefällt mir die Idee dahinter sehr, Leute erst zu brechen, Haß und Hunger zu nähren und dann als Attentäter zu verwenden. Das in Fantasy zu stellen war aufgrund des Ambientes (Schloß, König etc.) in jedem Fall die richtige Entscheidung, trotz der etwas... naturalistischen Darstellung gewisser Vorgänge.
Sehr positiv finde ich auch den Ansatz zu einer komplexeren Geschichte mit Ränken, Mißverständnissen und unterschiedlich ausgeformten Charakteren. Allerdings ist diese Stärke in deiner Weiterentwicklung auch die Schwäche der Story. Gewisse Dinge, die später keine odr nur geringe Bedeutung haben, kommen zu ausführlich daher, und dazu gehört ganz klar der ganze Subplot mit Nis, sein Spiel mit dem König und was er sonst noch so erlebt. Streichen, sage ich, auch wenn's bitter weh tut. Der Focus ist hier definitiv Ame und seine Verwandlung. Ich persönlich hätte es gut gefunden, wenn er mehr mit Lea zusammen erlebt, sie sich doch noch einmal nahe kommen und so ihre unerfüllte Liebe ausleben können etc. Auf diese Weise könnten sie auch wieder zu etwas Selbsterkenntnis kommen. ("Was zum Teufel machen wir da eigentlich? Was ist aus uns geworden?")
Was auch noch problematisch war: Die 25 Verschleppten (warum eigentlich genau 25? egal) scheinen ja in Geister verwandelt worden zu sein, aber als sie rauskommen sind sie doch wieder stofflich?

r

 

Noch eine Nachbemerkung:
ch wollte ja eine extrem harte Splattergeschichte schreiben. Ich denke, ich habe gerade die Inspiration dazu gefunden.

r

 

Hallo Vitamour und Bruder der besten Rubrik, Rel!

Man, wart ihr aber schnell! Vielen Dank fürs Lesen und die ausführlichen Kommentare und Fehlersuche. Freut mich, dass die Story euch gut gefallen hat :).

@vita:

Die Kommaregeln muss ich scheinbar noch etwas lernen, hat mich aber riesig gefreut, dass du dir die grosse Mühe gemacht hast!

Qualität gewinnen tut man im Schach, wenn es einem gelingt, den Turm des Gegners zu rauben und dafür Springer oder Läufer herzugeben.
Der Satz, den es ähnlich in HdR gab, hab ich nicht absichtlich kopiert, hab das Buch nichtmal gelesen, sondern nur den Film und irgendwie hat sich der durch mein Unterbewusstsein in meine Story geschlichen - die Furcht, die ich immer habe. Hab ihn gelöscht.

mehr geliebt...? Geht das? Vielleicht "außerhalb seiner Phantasie" oder so? Ich meine, er liebt sie ja, er zeigt es nur nciht...
Oh, ich meinte das körperliche Lieben ;)

@rel:

Ich habe vor allem den Anfang geändert und hoffe, dass er jetzt besser passt. Kann sein, dass ich noch weiteres nach deinen Anliegen ändere, kürze, etc. wenn mir was einfällt.
Von den Nis-Teilen konnte ich mich noch nicht trennen, auch nicht mal viel streichen. Da ist die Story noch zu frisch und es ist noch zu schwierig... Habe zu viele Lieblinge :D
Der Fehler mit dem Film ist peinlich...

Fehlerchen! Er hat ein paar Zeilen vorher selbst den König zum Thema gemacht.
Ja, aber - was in der Geschichte nicht steht, sondern nur angedeutet wird - Liana hat ihre Kunden unter anderem damit gesucht, dass sie ihnen erzählt, dem König würde in naher Zukunft etwas zustossen.
Beim Gespräch mit dem König redet Nis davon.
Wieso holt ihn denn da sein Verfolger nicht ein?
Ach der tänzelt nur um ihn herum, der Schatten ;)
Hm, hier fühlte ich mich plötzlich an eine meiner Geschichten erinnert. Kannst du dir denken, welch?
perhaps the Notar?
Voodoo kann die Frau auch?
Nein, der König von Shenia ist IN der karte und sie quält ihn direkt. Er ist auch ein Gefangener, gewissermassen.


Danke nochmals euch beiden und viele Grüsse aus der Schweiz,

Van

 

Hi Van,

ich hatte mir die Story schon vor 3 Wochen ausgedruckt, bin aber leider nicht vorher zum Lesen gekommen. Ich habe mir einige Stellen markiert, die Du aber alle mittlerweile schon geändert hast. ;)

Mir gefällt die Story sehr gut, obwohl ich denke, dass Du sie an einigen Stellen kürzen solltest. Das Schachspiel zieht sich zulange hin und ist für die Handlug nicht wichtig.

Die Erlebnisse von Ame in der Kugel hättest Du dagegen noch ausbauen können.

Gruß
Jörg

 

Hallo Jörg!

Cool, schon die zweite Fantasy-Stammleser-Kritik :).

Find ich toll, dass du das Risiko eingegangen bist eine soo lange Story auszudrucken. Umso mehr freut es mich, dass sie dir sehr gut gefallen hat.

Das Kürzungsanliegen wurde ja auch schon geäussert. Wenn ich mal wieder richtig Zeit und Feingefühl habe, setzte ich mich dran. Jetzt wird es ja auch einfacher sein, den einen oder anderen Liebling zu killen.

Wird aber Zeit, dass ein Schachliebhaber meine Story liest *g*.
Stimmt, für die Handlung ist es nicht allzu wichtig, aber dort habe ich sehr viel Charakter des Königs hineingesteckt. Auch Nis Einstellung war mir wichtig. Er hat ja verursacht, dass sich Gayan nicht mehr retten konnte, indem er die Gefangenen zu früh befreite.
Aber zu kürzen würde ich bestimmt ne Menge finden...

Die Erlebnisse in der Kugel... Gerade die hatte ich vor dem Posten noch gekürzt :rolleyes:. Ich wollte mehr andeuten und den Schmerz nicht allzu explizit erwähnen, damit er möglichst schrecklich blieb.
Mal sehen, ob ich da noch was ergänze.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

mfg,

Van

 

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