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Königsberger Klopse
Zufrieden sah sie in den Spiegel. Das Make-up hatte den letzten dunklen Schatten unter ihrem rechten Auge komplett verdeckt. Schmunzelnd erwischte sie sich dabei, wie sie die Melodie von „Tausendmal Du“ summte, das Lied, bei dem sie sich damals kennengelernt hatten. Sie fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und ging dann ins Schlafzimmer, wo Dietrich immer noch tief und fest schlief. Eine Welle der Zuneigung erfasste sie, als sie ihn so friedvoll daliegen sah. Seine Gesichtszüge wirkten beinahe kindlich im fahlen Licht des Morgens. Sie trat ans Bett und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, ganz behutsam, um ihn nicht zu wecken.
In der Küche hatte sie eine Nachricht hinterlassen und im Kühlschrank stand das vorgekochte Essen, das er sich später in der Mikrowelle aufwärmen konnte. Seit zwei Tagen fühlte er sich nicht wohl und hatte kaum das Bett verlassen. Vielleicht würde es ihm am Nachmittag etwas besser gehen.
Im Flur schlüpfte sie in ihre dunkelbraunen Pumps, nahm ihren Mantel und die Handtasche und zog die Wohnungstüre hinter sich zu. Die Nachbarin kam ihr mit einem Korb voller Wäsche entgegen. „Guten Morgen, Frau Sikorski“, grüßte sie freundlich.
Sie trat auf den Bürgersteig und atmete die frische Morgenluft ein. Die Stadt lag unter einem feinen Nebelschleier, man konnte die Sonne bereits erahnen. Es versprach, ein schöner Tag zu werden.
Dass sie die gesamten fünfzehn Minuten in der S-Bahn stehen musste, machte ihr nichts aus. Sie würde noch den ganzen Tag im Reisebüro hinter dem Schreibtisch sitzen. Die Kunden schienen heute besonders freundlich zu sein und der Chef klopfte ihr anerkennend auf die Schulter, weil sie eine zweiwöchige Kreuzfahrt in die Karibik verkauft hatte. Gegen zwölf dachte sie kurz an Dietrich. Sie hatte schon den Hörer in der Hand, aber dann entschied sie sich, ihn nicht zu stören.
Die Mittagspause verbrachte sie im nahegelegenen Park. Auf einer Bank in der warmen Herbstsonne aß sie ihr mitgebrachtes Pausenbrot. Es war unbegreiflich, dass die Kollegen sich in der Stadt etwas zu essen kauften. Dietrich hatte ihr einmal vorgerechnet, dass sie im Monat mindestens hundert Euro spare, wenn sie sich etwas von zu Hause mitnehme. Und hundert Euro waren bei dem mickrigen Reisebürogehalt eine Stange Geld.
Versonnen sah sie den Enten im Teich beim Futtersuchen zu und schreckte hoch, als plötzlich ein fremder Mann vor ihr stand.
„Entschuldigung, ist da noch ein Platz frei?“
„Ja, natürlich.“ Sie rückte etwas zur Seite und nahm ihre Handtasche auf den Schoß. Er musterte sie lächelnd.
„Ich sehe Sie öfter hier allein im Park. Sie sehen immer so traurig aus, aber heute strahlen sie richtig.“ Sie errötete und wich seinem Blick aus.
„Verbringen Sie ihre Mittagspause hier?“ Schweigend nickte sie.
„Vielleicht darf ich Sie mal auf eine Tasse Kaffee einladen? Ich kenne da …“
„Es tut mir leid“, unterbrach sie ihn, „meine Mittagspause ist zu Ende.“ Hastig stand sie auf.
„Oh, na ja, vielleicht ein anderes Mal. Ich weiß ja, wo ich Sie finde.“ Sie nickte knapp und ging mit schnellen Schritten davon.
„Ich weiß, dass du nie mitgehst, aber ich gebe den Kollegen nach der Arbeit einen aus. Als Dankeschön für das tolle Gemeinschaftsgeschenk zu meinem Geburtstag. Du hast dich doch auch beteiligt und ich würde mich echt freuen, wenn du auf ein Glas Sekt mitkommst.“
„Ich weiß nicht“, zögerte sie, „Dietrich geht es nicht so gut, vielleicht sollte ich lieber schnell nach Hause gehen.“
„Ach komm, dein Dietrich wird auch mal eine Weile allein auskommen können. Ein Getränk!“
Sie sah in das erwartungsvolle Gesicht der Kollegin. Sandra hatte recht, warum sollte sie sich nicht auch einmal amüsieren. Dietrich hielt nichts davon, wenn sie ohne ihn ausging, doch sie hatte gegenüber den Kollegen schließlich auch Verpflichtungen. Und wahrscheinlich würde er sowieso früh schlafen gehen.
„Na gut, aber nur auf ein Getränk!“ Sie lächelte und war sehr zufrieden mit sich.
Die Bar um die Ecke war der klassische After-work-Treffpunkt. Es wimmelte von Anzugträgern, in der Gegend gab es viele Banken. Die Musik war eine Spur zu laut und die Getränke eine Spur zu warm, doch sie genoss das Gefühl, wieder einmal unter Menschen zu sein. Am Anfang waren sie und Dietrich öfter ausgegangen, in nette Weinlokale oder auch mal ins Kino, aber irgendwann hatte das aufgehört. Er bevorzugte es, die Abende zuhause zu verbringen.
Das erste Glas Sekt war ihr zu Kopf gestiegen, nach dem zweiten fing sie an, ausgelassen mit Sandra und Benny zu tanzen.
„Hey“, brüllte Benny ihr ins Ohr, „du gehst ja richtig ab!“ Sie zuckte mit den Schultern und lächelte.
Irgendwann musste sie auf die Toilette. Am Waschbecken blickte sie in den Spiegel. Ihre Haare waren zerzaust und die Wangen gerötet. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt. Sie sah auf die Uhr und erschrak, dass es schon Viertel nach neun war. Vor einer Stunde hatte sie Dietrich eine SMS geschickt, doch er hatte nicht geantwortet. Bestimmt war er eingeschnappt. Sie sollte jetzt wirklich gehen, bevor er richtig wütend wurde.
Sie erwischte gerade noch die nächste S-Bahn. Beklommen sah sie sich im halbleeren Abteil um. Sie hatte das Gefühl, von allen Männern angestarrt zu werden. Dietrich hatte schon recht, es gehörte sich nicht, als Frau nachts allein in der Stadt unterwegs zu sein.
Mit zitternden Händen öffnete sie die Wohnungstür und atmete auf, als alles dunkel und still war. Sie hing ihren Mantel an die Garderobe und schlich auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer. Ein unangenehmer Geruch schlug ihr entgegen.
Er hätte ruhig selbst auf die Idee kommen können, heute einmal zu lüften. Außerdem sollte er wahrscheinlich dringend unter die Dusche, nach nunmehr drei Tagen im Bett. Sie öffnete das Fenster und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Das Essen, das sie extra für ihn vorbereitet hatte, stand unberührt im Kühlschrank. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Wie sollte er so wieder zu Kräften kommen?
Leise glitt sie neben ihm unter die Decke. Sie schlief schnell ein, doch nach zwei Stunden wachte sie wieder auf, weil sie wahnsinnigen Durst hatte. Nachdem sie einen Schluck Wasser genommen hatte, legte sie sich wieder hin, doch dieser unangenehme Geruch schien überall zu sein und hing in ihrer Nase. Es war unmöglich, wieder einzuschlafen. Entschlossen packte sie ihr Bettzeug und legte sich im Wohnzimmer auf die Couch.
Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war sie verwirrt. Dann fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Sie sollte ein ernstes Wörtchen mit Dietrich reden, er konnte sich wirklich nicht so gehen lassen.
Schwungvoll öffnete sie die Schlafzimmertür und fuhr zurück. Mit angehaltenem Atem hastete sie zum Fenster. Gierig sog sie die frische Luft ein.
„So, du Schlafmütze, heute wirst du endlich mal wieder aufstehen. Du musst wirklich duschen und etwas essen. Und ich akzeptiere keine faulen Ausreden!“ Sie stellte sich mit verschränkten Armen neben das Bett. Wenn er so auf dem Rücken lag, konnte man sein Doppelkinn erkennen. Nun, er war auch nicht mehr der Jüngste.
„Ich weiß, du tust nur so, als ob du schläfst. Schaust du mich jetzt endlich mal an?“ Sie stieß ihm einen Finger in die Rippen. „Wenn du mich provozierst, wirst du schon sehen, was du davon hast …“ Seine Augen blieben fest geschlossen. Er konnte wirklich stur sein!
„Na schön, wenn du die beleidigte Leberwurst spielen willst – bitte sehr. Aber wenn ich heute Abend nach Hause komme, hast du geduscht und gelüftet. Und weißt du was?“ Zufrieden lächelte sie ihn an: „ Wenn du schön brav bist, werde ich dir dein Lieblingsessen machen, Königsberger Klopse. Mit Salzkartoffeln.“ Sie wartete auf eine Reaktion und als keine kam, drehte sie sich schulterzuckend um und ging aus dem Zimmer.
Sie zog die Wohnungstür auf und hörte, wie sich die Nachbarinnen ein Stockwerk tiefer unterhielten. Sie hielt den Atem an und verharrte in der offenen Tür.
„Also, das ist doch seltsam“, meinte die Sikorski, „seit drei Tagen hört man keinen Piep von dem! Als ob der sich in Luft aufgelöst hat!“
„Ich hab ihn gestern auch nicht zur Arbeit gehen sehen“, zischte die Riedmüller. „Vielleicht hat sie ihn ja endlich zum Teufel gejagt …“ Geräuschvoll schloss sie die Tür und sperrte ab. Augenblicklich verstummte die Unterhaltung. Diese alten Vetteln hatten doch wirklich nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag im Treppenhaus zu tratschen. Zweimal hatten sie Dietrich und ihr schon die Polizei auf den Hals gehetzt und sie hatte es hinterher ausbaden müssen. Schlagartig war ihre gute Laune verflogen. Mit hocherhobenem Kopf stolzierte sie die Treppe hinunter.
„Guten Morgen die Damen, müssen Sie eigentlich ständig ihre Nasen in anderer Leute Angelegenheiten stecken?“
Frau Riedmüller musterte sie von oben bis unten.
„Man wird sich doch um seine Mitmenschen sorgen dürfen. Ist ihr Mann wohl verreist? Man hat ihn die letzten Tage gar nicht gesehen …“
„Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber mein Mann ist etwas kränklich im Moment. Er hütet das Bett. Der Gute hat in letzter Zeit viel um die Ohren gehabt. Aber heute Abend werde ich ihm seine Leibspeise kochen, Königsberger Klopse.“ Die zwei Krähen warfen sich misstrauische Blicke zu. Eine unbändige Wut stieg in ihr hoch.
„Wissen Sie was, Frau Sikorski, vielleicht sollten Sie sich mal darum kümmern, dass ihre Tochter sich nicht von jedem dahergelaufenen Ausländer unter den Rock grapschen lässt!“ Das hatte gesessen.
„Und Sie“, sie hielt der Riedmüller den Zeigefinger unter die Nase, „sollten aufpassen, dass Ihr Mann nicht sein ganzes Hartz IV-Geld drüben am Kiosk versäuft!“
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging nach unten. „Schönen Tag noch!“, rief sie und schlug die Haustür extra laut hinter sich zu.
Die Kollegen schienen sie heute mit ganz anderen Augen zu sehen. Sie nahm sich vor, in Zukunft öfter etwas mit ihnen zu unternehmen. Auf die Arbeit konnte sie sich jedoch nicht so recht konzentrieren und die Kunden gingen ihr entsetzlich auf die Nerven. Wenn sie schon den Satz hörte „Danke, wir überlegen es uns nochmal“, würde sie ihnen am liebsten einen Arschtritt verpassen. Es war klar, dass die nie wiederkämen. Und die Reise, für die sie sich gerade eine halbe Stunde den Mund fusselig geredet hatte, würden sie im Internet oder bei der Konkurrenz buchen.
Endlich nahte der Feierabend. Im Kopf hatte sie sich schon zurechtgelegt, was sie auf dem Heimweg noch alles besorgen musste. Um Punkt achtzehn Uhr fuhr sie ihren Computer herunter und eilte aus dem Büro. Sie ging in den teuren Supermarkt bei Karstadt, Dietrich sollte heute so richtig verwöhnt werden. Der Ärmste hatte seit Tagen nichts Vernünftiges gegessen.
Im ihrem Wagen lagen bereits die Kapern, die Kartoffeln, eine Flasche Riesling und die Schlagsahne für den Nachtisch. Außerdem ein Körbchen frischer Erdbeeren aus Afrika, oder wo auch immer die zu dieser Jahreszeit herkamen. Jetzt fehlte nur noch das Kalbshack. Sie stellte sich an der Fleischtheke in die Reihe. Dass all diese Leute ausgerechnet jetzt ihre Wurstwaren einkaufen mussten! Ungeduldig wippte sie von einem Fuß auf den anderen.
„Und dann hätte ich gerne noch hundert Gramm von der Mailänder Salami. Oder warten sie, doch lieber die ungarische. Und einen halben Ring Schinkenwurst.“
Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
„Und bitte geben Sie mir auch noch etwas von der Putenleberw…“
„Entschuldigung!“, mit spitzem Zeigefinger tippte sie der leicht übergewichtigen Kundin an die Schulter. „Sehen Sie nicht, dass andere Leute heute auch noch drankommen wollen?“
„Wie bitte?“ Die Frau sah sie verwirrt an.
„Ich habe gesagt, dass wir heute auch noch drankommen wollen! Haben Sie noch nicht genug? An Ihrer Stelle würde ich lieber etwas kürzer treten, nicht wahr?“
Die Kundin schnappte nach Luft. Sie ließ ihren Korb stehen und lief mit rotem Gesicht davon.
„Na also.“ Zufrieden wandte sie sich der sprachlosen Metzgereifachgehilfin zu. „Ein Pfund Kalbshack. Aber bitteschön frisch gemahlen.“
Summend ging sie die letzten fünf Minuten von der S-Bahn zu ihrer Wohnung. Wenn sie gleich anfing zu kochen, konnten sie um Viertel vor acht essen. Rechtzeitig vor der Tagesschau. Sie bog in die Straße ein und sah zwei blinkende Polizeifahrzeuge und einen Notarztwagen vor dem Haus stehen. Sie beschleunigte ihre Schritte.
„Dürfte ich bitte?“ Entschlossen drängte sie sich an zwei Uniformierten vorbei, die frech den Eingang blockierten.
„Äh, Moment mal!“, rief einer der beiden, doch sie war schon eine Treppe höher. Im zweiten Stock lauerte Frau Sikorski im Türrahmen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und wich einen Schritt zurück.
Zielstrebig ging sie die letzten Stufen bis zum dritten Stock hoch. Vor ihrer Wohnung standen zwei weitere Polizeibeamte, die Tür war offen.
„Sie können da jetzt nicht reingehen.“
„Und ob ich das kann! Mein Mann wartet auf seine Klopse!“
Die Beamten traten ihr in den Weg.
„Das ist sie!“, kreischte die Sikorski von unten.
„Frau Strecker? Wir müssen Sie bitten, uns aufs Revier zu begleiten. Sie haben das Recht, einen Anwalt zu kontaktieren …“
Das Blut rauscht in ihren Ohren. Sie ist in ihrem Wohnzimmer und wird von zwei Polizisten mit Gewalt in den Fernsehsessel gedrückt. Ein hysterisches Lachen steigt ihre Kehle hoch. Ein Mann in einem grässlichen, neonroten Anzug fuchtelt mit einer aufgezogenen Spritze herum. Sie spürt einen leichten Stich in der Armbeuge. Dann wird sie ganz ruhig.